Josef Albers in Mexiko

Josef Albers ist heute eine weithin bekannte Figur, ein Klassiker der Kunst nach 1945, dessen Werke in Museen weltweit verwahrt werden. Jedoch beschränken sich unsere Kenntnisse von Albers zumeist auf das Spätwerk, als er die große Werkserie „Homage to the Square“ schuf. Er stand bereits in seinem siebten Lebensjahrzehnt, als er um 1950 an diesen Gemälden zu arbeiten begann. Sie endlich brachten ihm, der bis dahin vor allem als heraus­ragender Pädagoge am Bauhaus und am amerikanischen Black Mountain College gegolten hatte, die lang vermisste Anerkennung als eigenständiger Künstler. Bei äußerster formaler Konzentration und unter Vermeidung jeder ausgeprägten persönlichen Handschrift ist „Homage to the Square“ vor allem eine Feier der Farbe und deren unabsehbarer Ausdrucksmöglichkeiten. Farbe hat bei Albers eine schwankende Identität, die sich mit jeder Veränderung ihres Kontexts neu ausbildet. Dabei ist es der Betrachter, der mit seinem intensiven Sehen das im Gemälde angelegte Potenzial lebendig werden lässt. Überhaupt richtet sich Albers’ Kunst an einen ak­tiven Betrachter. Seine Gemälde sind wie eine Schule des Sehens, in der wir die Paradoxien unserer Wahrnehmung und dadurch die Brüchigkeit unserer Position in der Welt entdecken. Mit diesem Bildprogramm und dem dahinterstehenden Ethos war Albers ein wichtiger Wegbereiter der amerikanischen Kunst seit 1960. Er war es, der einer Generation damals junger Künstler, die heute unter dem Begriff der Minimal Art zusammengefasst werden, aufzeigte, wie eine künstlerische Sprache jenseits der existentiell geprägten Ausdrucksemphase des Abstrakten Expressionismus aussehen könnte, mit dem die amerikanische Kunst in der vorangegangenen Dekade endgültig aus dem Schatten Europas herausgetreten war. Das Beispiel, das Albers mit seiner Kunst gab, ist unverkennbar, wenn wir etwa auf das Werk von Donald Judd, Frank Stella, Sol LeWitt, Agnes Martin und auch  Ad Reinhardt blicken.

Josef Albers, Oscillating (A), 1940, 91,4 × 71,1 cm;
Josef Albers, Oscillating (A), 1940, 91,4 × 71,1 cm;

Albers war der Sohn eines Bottroper Handwerkers, dessen Vorbild später auch in seiner Kunst Spuren hinterließ: im Sinn einer persönlichen Zurückhaltung und eines strukturierten Vorgehens. Schon mit seiner Ausbildung zum Volksschullehrer überschritt Albers den sozialen Horizont der Familie. Doch lässt ihn seine Neigung zur Kunst in diesem Beruf nicht zur Ruhe kommen. 1920 fällt ihm eine von Walter Gropius verfasste Broschüre über das Bauhaus, das gerade in Weimar gegründet worden war, in die Hände, und er entschließt sich, diesem Ruf zu folgen. Er ist mit 32 Jahren der älteste Student der Schule und wird dann ihr jüngster Lehrer sein, als ihm bereits 1923 gemeinsam mit László Moholy-Nagy die Leitung des Vorkurses anvertraut wird, die nach dem Weggang von Johannes Itten vakant geworden war. Albers ist ein engagierter Lehrer, der seine Studenten unnachgiebig antreibt, selbst zu denken, bewusst zu arbeiten und nach eigenen Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks zu suchen. Seine Kollegen schätzen sein Verständnis handwerklicher Prozesse, seine Vertrautheit mit der Logik der Materialien und der ihnen inhärenten Ausdrucksmöglichkeiten, die er in den Diskurs der Kunst einbringt. 1925 heiratet er Anneliese Fleischmann, die in der Klasse für We­berei studiert. Als die noch verbliebenen Meister im Sommer 1933 unter dem zunehmenden politischen Druck die Auflösung des Bauhauses beschließen, sieht das Ehepaar Albers keine Arbeitsmöglichkeit in Deutschland mehr und entschließt sich im Herbst, das Angebot anzunehmen, am neugegründeten Black Mountain College in North Carolina zu unterrichten.

Josef und Anni Albers sind glücklich im Land ihres Exils. Sie umarmen den neuen Erfahrungshorizont, den ihnen die USA bieten. Sie sind fasziniert von New York, von der Stadt und ihren gut besuchten Museen und sind überwältigt von der üppigen Fauna in den Hügeln North Carolinas. Vor allem berühren sie die großzügige Freundlichkeit und der informelle Lebensstil der Menschen, die ihnen begegnen. Dieses neue Lebensklima hat unmittelbare Auswirkungen auch auf Albers’ Kunst. Die preußische Strenge, die ihn bewegte, mit dem Eintritt in das Bauhaus nur noch abstrakt zu arbeiten und zugleich die Malerei zugunsten der Arbeit im angewandten Bereich zur Seite zu legen, weicht jetzt einer neuen Offenheit. Nach einer Unterbrechung von fast fünfzehn Jahren beginnt Albers wieder zu malen. Diese ersten amerikanischen Gemälde sind ein direkter Reflex der neuen Umgebung. Der Auftrag der Farben und deren unmittelbares Strahlen sind von hoher Sinnlichkeit. Die Bekanntschaft mit Mittelamerika, die bald darauf beginnt, bedeutet eine zusätzliche Vertiefung des Verständnisses von Leben und Kunst. Im Winter 1934 reist das Ehepaar Albers nach Kuba, ein Jahr später kommen sie dann zum ersten Mal nach Mexiko. Es ist Liebe auf den ersten Blick, die sie mit diesem Land und seiner Kultur verbindet, eine Zuneigung, die in den kommenden Jahrzehnten nicht nachlassen wird. Bis zum Jahr 1967 sind sie insgesamt dreizehn Mal in Mexiko, teilweise dauern ihre Aufenthalte mehrere Monate. Mexiko wird für beide zu einer dauernden Inspiration. Es ist insbesondere die Kraft der präkolumbischen Kunst, die sie in den Bann zieht. Über die Jahre besuchen sie alle wichtigen Ausgrabungsstätten und werden dabei zu Kennern und Sammlern der alten Skulptur. In einem Brief an Wassily Kandinsky, der inzwischen in Paris lebt, schreibt Albers am 22. August 1936 während seiner zweiten Reise: „Mexico ist wirklich das gelobte Land der abstrakten Kunst. Denn hier ist sie 1000de von Jahren alt.“

Albers findet in Mexiko wichtige Fingerzeige für die Weiterentwicklung seiner eigenen künstlerischen Sprache. Er verarbeitet seine Analyse der alten Kunst mit besonderer Intelligenz, indem er nicht etwa ikonographische Muster übernimmt, sondern strukturelle Momente so weiterentwickelt, dass sie zur Grundlage einer Bildvorstellung werden, die zugleich flächig und räumlich bestimmt ist. In den jetzt für das Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop erworbenen Gemälden finden wir nicht nur eine gewisse Monumentalität, nämlich die Konzentration auf wenige Körper und Farben, sondern zugleich eine dynamische Bewegung, die aus einer Mehrperspektivität erwächst. Die angebotenen Sichtachsen scheinen sich stetig zu widersprechen. So entsteht ein ebenso vereinfachter wie spannungsvoller Bildtypus, der keine Binnenkomposition mehr kennt. Es ist dies nicht nur ein Vorschein auf Albers’ eigene Bilder der „Homage to the Square“, sondern zugleich auf strukturelle Merkmale des Abstrakten Expressionismus und der Minimal Art, wie sie sich nach 1945 entwickelten.

Von erheblicher Bedeutung ist zudem der Wandel der Farbvorstellung, den Albers in Mexiko erfährt. Tatsächlich kann man von einer Befreiung seines Farbsinns sprechen. Wir beobachten nun in seinen Gemälden ein Klima intensiv leuchtender Töne aus ungemischten Farben, die zu einem Klang geführt werden, den es so in der westlichen Malerei noch nicht gegeben hat. Albers befreit sich von lange tradierten Vorstellungen zur Harmonie der Farbe, und er legt das Ideal eines chromatischen Wohlklangs, wie er z. B. aus Komplementärkontrasten entsteht, zu den Akten. Die Farbe erscheint ihm nun als ein ‚Reich der Freiheit‘, in dem alles zu sagen möglich ist – in einer Syntax, deren Vokabular grundsätzlich offen ist und niemals vorab feststeht. Man darf diese Einsicht, die Albers dann etwa 30 Jahre später in seinem theoretischen Werk „Interaction of Color“ systematisch entfaltet hat, als wesentlichen Beitrag zur Konzeption der künstlerischen Farbe im 20. Jahrhundert verstehen, mit dem die bis dahin noch virulenten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, etwa die Farbauffassung Goethes, überwunden werden. Ihren Ursprung hat diese Öffnung des Verständnisses bei Albers in seinen mexikanischen Erfahrungen. Seine Auseinandersetzung mit der Kunst dieses Landes zählt zu den interessantesten Kapiteln in der langen Geschichte der Begegnung der europäischen Moderne mit der außereuropäischen Kunst. Die sieben Gemälde, die jetzt u. a. mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder in die Sammlung des Josef Albers Museums eingehen, geben Zeugnis von der Intensität dieser Begegnung.