Vom Kirchenmaler zum Bauernkrieger

Kein anderes Malerleben endete so brutal wie das von Jerg Ratgeb. Er wurde gevierteilt. Das klingt so schrecklich wie es ist und war selbst zu seiner Zeit eine selten verhängte, grausame Strafe für Verräter. Die Vierteilung wurde 1526 in Pforzheim verhängt und war die Strafe dafür, dass sich Ratgeb nicht nur 22 Tage aktiv am Bauernkrieg beteiligte, sondern auch – als Mitglied einer Art „Räterepublik“ in Stuttgart – zum Hochverräter erklärt wurde.

Aber wie es so ist bei einem Menschen des frühen 16. Jahrhunderts: Nichts ist ganz sicher. Einen eindeutigen Beweis für den grauenvollen Tod gibt es nicht. Elsbeth Wiemann, Oberkonservatorin für Altdeutsche und Niederländische Malerei an der Staatsgalerie Stuttgart, zweifelt denn auch an der Vierteilungs-Legende, da sie aufgrund nachträglicher Zeugenbefragungen entstand. Für andere Ratgeb-Forscher ist das brutale Ende Realität, auch wenn das Leben dieses Malers wohl nie mehr restlos rekonstruiert werden kann. Allein auf archivalische Zufallsfunde ist noch zu hoffen, denn die einschlägigen Akten sind gesichtet und erzählen von einem, der Jerg Ratgeb hieß, vielleicht aber auch Georg, Jörg oder Jorg. Manchmal wird er auch – nach seinem Vater – Jürgen Schürtz genannt. Unbekannt ist ebenfalls, wann genau er geboren wurde. Wahrscheinlich zwischen 1475 und 1485 – die Meinungen der Wissenschaftler differieren. Sicher ist mittlerweile, dass er aus Schwäbisch Gmünd stammte. Bei wem er sein Handwerk lernte, liegt ebenso im Bereich der Spekulation wie seine Reisen und sein Privatleben.

Zwischenzeitlich war sein Name sogar ganz vergessen. Erst 1882 gaben die Forschungen des Frankfurter Malers Otto Donner von Richter dem Kollegen Namen und Werke zurück.  Mit all diesen biographischen Unsicherheiten liegt Ratgeb voll im Trend seiner Zeit: Bei dem gleichaltrigen Matthias Grünewald weiß man noch nicht einmal sicher, ob er wirklich so hieß, wie er heute genannt wird. Als Ratgebs – unbestrittene – Hauptwerke gelten der Barbara-Altar in der Stadtkirche in Schwaigern, der Herrenberger Altar in der Staatsgalerie Stuttgart und die Wandgemälde im Frankfurter Karmeliterkloster. Sie haben deutliche Bezüge zu Werken Matthias Grünewalds und des Niederländers Hieronymus Bosch.

Jerg Ratgeb, Rettung der Karmeliter durch König Ludwig den Heiligen 1248, Wandgemälde im Refektorium des Karmeliterklosters Frankfurt am Main, 1517
Jerg Ratgeb, Rettung der Karmeliter durch König Ludwig den Heiligen 1248, Wandgemälde im Refektorium des Karmeliterklosters Frankfurt am Main, 1517

Heute gibt es in Schwäbisch Gmünd einen Jörg-Ratgeb-Weg, in Stuttgart und Herrenberg eine Jörg-Ratgeb-Schule, auch Romane wurden über ihn geschrieben. Der Stolz auf diesen Maler ist groß. Doch das war nicht immer so. Sein bekanntestes Werk, der Altar für die Herrenberger Stiftskirche Unserer Lieben Frau, wurde zum Beispiel schon bald nach seiner Entstehung 1519 für die Gemeinde uninteressant, denn ­­die Reformation änderte die Sicht auf den Kirchenschmuck grundlegend. Der Altar, der nur noch fragmentiert erhalten ist, wurde damals abgebaut, später zwar wieder aufgebaut, doch seine Bilder blieben abgedeckt. Schließlich entschied sich der Herrenberger Stadtrat am 25. Juli 1890: „Das Offert der Direktion der Staatssammlung vaterländischer Altertümer in Stuttgart anzunehmen und den Hochaltar ihr um 5000 M zahlbar in 2 Jahresraten Martini 1890 und 1891 zuzusichern.“ Zuvor hatte der Rat noch berücksichtigt, was das „Christliche Kunstblatt“ von Ratgebs Malerei hielt. Dort war zu lesen, dass der Maler Talent habe, ihm aber der „Ernst des Studiums und der Antrieb, die Tiefe des Gemüts und die zartere Empfindung“ fehle. Seine Hand und seine Phantasie nannte das Kunstblatt „ohne Zucht“. Die alten Stoffe und die neuen Formen seien in dem Maler unvermittelt.

Von solchen Bildern trennten sich die Herrenberger damals gern, zumal der Altar auch noch der Anbringung eines neuen Glasgemäldes im Wege hing. Es ist dem Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger (1890 –1964) zu danken, dass wir dieses Dokument, wie viele andere Dokumente, die Jerg Ratgeb betreffen, heute kennen und zitieren können.  Fraenger hatte eine Gelegenheit allerdings nicht, die die Staatsgalerie Stuttgart ihren Besuchern bis Ende November 2012 noch bieten kann: Sie zeigt den Barbara-Altar aus der Stadtkirche in Schwaigern und den Herrenberger Altar in direkter Gegenüberstellung. Ein einmaliges Zusammentreffen, denn der Barbara-Altar ist das früheste signierte Werk von 1510, der Herrenberger Altar das späteste, so dass die Entwicklung des Malers vom volkstümlichen Legendenerzähler des Barbara-Altars zum Maler der theologisch höchst anspruchsvollen Themen des Herrenberger Altars anhand dieser Gegenüberstellung sehr schön verfolgt werden kann.  Bevor der Barbara-Altar endgültig zurück in die restaurierte Kirche nach Schwaigern geht, wird er von der Stuttgarter Restaurierungsstudentin Liliane Metz untersucht. Die Diplomandin hat ihn in diesem Sommer geröntgt und neue Infrarotaufnahmen gemacht. Metz wird mit ihrer Diplomarbeit erstmals alle vorhandenen maltechnischen Untersuchungen und die neuen Erkenntnisse über den Aufbau der Altarflügel publizieren. Vielleicht kann sie aufgrund ihrer Forschungen sogar nachweisen, dass Ratgebs Werkstatt mit Musterbüchern arbeitete. Denn manche Figuren auf dem Barbara-Altar ähneln denen auf dem Herrenberger-Altar auffallend, obwohl die beiden Werke so völlig verschieden sind. Denn der Barbara-Altar mit seinem Goldgrund und den simultanen Legendenerzählungen ist noch fest den Traditionen der späten Gotik verhaftet. Der Herrenberger Altar dagegen zeigt, wie stark die beginnende Renaissance und die Entdeckung der Zentralperspektive den Maler beschäftigten. Dass Ratgebs Herrenberger Altar gern mit Grünewalds Isenheimer Altar verglichen wird, liegt auf der Hand – vor allem angesichts der ähnlichen Komposition der Auferstehungsszene mit einem lichtumfluteten Christus in Siegerpose. Zeugnisse über eine Bekanntschaft der beiden Maler gibt es allerdings nicht.   Während einst die Herrenberger Ratsherren angesichts der vielen verrenkten Glieder dem Künstler Unvermögen bescheinigten, sehen heutige Forscher vor allem die besondere Expressivität des Ausdrucks und schlagen vor, lieber Vergleiche mit Expressionisten wie Max Beckmann zu ziehen als von einem nicht ganz perfekten Maler zu sprechen.

Die Stuttgarter Kustodin Elsbeth Wiemann ist von der Verbindung naturnachahmender und metaphorischer Elemente auf dem Herrenberger Altar begeistert. Besonders schwärmt sie für die Vögel. Insgesamt 53 hat sie auf den Altartafeln gezählt, die zu 27 verschiedenen Arten gehören und jeweils eine eigene Bedeutung haben – wie auch alles andere Getier: Goldfasan, Skarabäus und Salamander, die sich in Abendmahls- und Kreuzigungsszene finden, deuten zum Beispiel auf Jesu Auferstehung hin. Nur auf phantastische Tiermenschen und Menschentiere, wie sie der etwas ältere Hieronymus Bosch verwendete, verzichtete Ratgeb. Große malerische Sorgfalt verwendet er auf die Gesichter.  Eben dieser Detailrealismus, das genaue Beobachten und Darstellen menschlicher Regungen und die kommentierend verwendeten Schriftbänder mit Bibelzitaten machen Ratgebs Gemälde bis heute interessant – obwohl das Wissen über die dargestellten Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament immer seltener selbstverständlich ist. Die Bedeutung der symbolisch eingesetzten Farben erschließt sich auch dem Betrachter des 21. Jahrhunderts leicht. So bestimmen die Szenen der Geißelung Christi auf dem Herrenberger Altar vor allem Gelb- und Grüntöne, die von jeher als giftig empfunden werden. In der Auferstehungsszene dagegen erreicht Ratgeb schon durch die vielen Blautöne eine beruhigende, harmonisierende Wirkung.

Seinen größten, wichtigsten und schwierigsten Auftrag hatte Jerg Ratgeb allerdings nicht in seiner Heimat, sondern im Karmeliterkloster zu Frankfurt am Main. Zwischen 1514 und 1521 malte er dort das größte und bedeutendste Wandgemälde nördlich der Alpen. Allein die zu bemalende Fläche im offenen Kreuzgang ist 110 Meter lang und viereinhalb Meter hoch. Dazu kam das Wandgemälde zur Geschichte der Karmeliter im Refektorium. Viele der Bilder gingen im Lauf der Jahrhunderte verloren, denn die Geschichte des Klosters ist fast ebenso bewegt wie die Geschichten, die Ratgeb aus dem Alten und Neuen Testament auf die Wände gemalt hat. Bau und Ausgestaltung des 1246 gegründeten Klosters finanzierten reiche Frankfurter Bürger mit und bekamen dafür nicht nur ihre Grablege im Kloster. Ratgeb hat sie auch auf den Wandgemälden porträtiert. 1803 wurde das Kloster säkularisiert und im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört. Dem Wiederaufbau folgte die Restaurierung der nur noch fragmentarisch erhaltenen Wandgemälde in Kreuzgang und Refektorium. Zwei völlig verlorene Bilder entstanden neu – nach Zeichnungen von ehemaligen Städelschülern, die den Nazarenern nahestanden. Sie geben nun zusammen mit den erhaltenen Gemälden einen Eindruck von der Größe, Vielfalt, Geschlossenheit und Pracht des ursprünglichen Bildprogramms.

Natürlich verzichtete auch Werner Tübke, der Maler des Bauernkriegspanoramas in Bad Frankenhausen, nicht auf Ratgeb. Das als mögliches Selbstbildnis identifizierte Porträt auf der Rückseite des Herrenberger Altars ist bei Tübke zwischen den Porträtnachmalungen von Tilmann Riemenschneider und Albrecht Dürer angeordnet. So war Ratgeb in die vermeintliche Ahnenreihe der Vorkämpfer des DDR-Sozialismus eingereiht und kam in dieser Eigenschaft noch 1989 auf eine Briefmarke des kurz danach abgeschafften Staates. Für Ratgeb als Früh-Revolutionär sprach außerdem, dass er versucht hatte, seine Frau aus den Fängen der Leibeigenschaft zu befreien. Zwei Bittgesuche an Herzog Ulrich sind bekannt. Die beiden Ablehnungsschreiben ebenso.  Doch war Ratgeb wirklich mit einer Leibeigenen verheiratet oder nur liiert, nachdem seine erste Frau gestorben war? Für die DDR-Ideologen war das egal. Aus der Perspektive einer unideologischen historischen Forschung überwiegen allerdings die Zweifel an einer solchen Theorie. Trotzdem existieren die beiden Ge­suche. Dass die Bitten Ratgebs nach 1512 aufhörten, lag wohl daran, dass die Frau, für die er bat, gestorben war. Das Interesse an solchen – für die Kunst eines Malers eher marginalen – Dokumenten zeigt, wie groß die Bewunderung für Ratgebs Kunst ist und wie stark der Drang, mehr über diesen Maler zu erfahren. ­

Wilhelm Fraenger beschrieb seine Besonderheit so: „Er war ein ausgesprochener Novellist und unerschöpflicher Erzähler, der die kurz angebundene Anekdote ebenso beherrschte wie den breit ausgesponnenen Bildroman.“ In eben diesem finden sich die heutigen Besucher wieder. Sie sehen nicht nur Typen, sondern blicken in Welten, die vielen von ihnen fremd in ihrer Religiosität sind, doch vertraut in ihrer Grausamkeit und in ihrer Menschlichkeit.