Der Philosoph als wahrer König
Frankfurts angesehenes Liebieghaus hat eine Bronzebüste des französischen Bildhauers Jean-Antoine Houdon erworben. Vor einigen Jahren hätte diese Nachricht bei nicht wenigen deutschen Liebhabern der Bildhauerkunst eher gemischte Gefühle geweckt. Mit dem Namen des Künstlers nämlich verbanden selbst ausgewiesene Anhänger der französischen Skulptur des 18. Jahrhunderts meistens eher Betretenheit erzeugende Werke: Wie François Boucher, Hofmaler Ludwigs XV. und Favorit der Madame Pompadour, galt auch Houdon hierzulande lange Zeit als Virtuose schwüler parfümierter Sinnlichkeit, ja Laszivität. So, wie Boucher bei vielen sofort die Erinnerung an die raffinierten Ölgemälde der jährlich jünger werdenden Bettgespielinnen des alternden französischen Königs hervorruft, die der Maler ihm in vordergründig naiven lüsternen Posen festhielt, so stand vielen bei Houdon sofort die leicht unterlebensgroße Bronzestatue vor Augen, die unter dem vieldeutigen Namen „La Frileuse/Winter“, gleichsam getarnt als harmlose Allegorie und wohlanständiges Zitat der antiken schamhaften „Venus von Knidos“ schlüpfrige Männerphantasien bediente.
Tat sie das wirklich? Die aufreizende Raffinesse, mit der Houdon Kopf und Oberkörper eines fast noch kindlichen, eben aufgeblühten jungen Mädchens mit einem üppig drapierten weichen Wollschal verhüllt, um desto deutlicher die Rundungen ihres nackten Unterkörpers und ihrer kokett verschränkten Beine hervortreten zu lassen, lässt kaum einen anderen Schluss zu. Zumal, da diese Plastik unter dem Vorwand künstlerischen Interesses in den folgenden Jahrzehnten hundertfach kopiert, verkauft – und in zahllosen Herrenzimmern, Boudoirs und in den Salons gehobener Bordelle als aufreizendes Zeugnis weiblichen fordernden Zögerns aufgestellt wurde. Man würde sich tatsächlich blind stellen, stritte man dieser Plastik dergleichen erotelnde Attraktivität ab. Doch mit der Verabsolutierung dieser Facette reduziert man Jean-Antoine Houdon und seine Bedeutung für die Kunst- und Sozialgeschichte Europas auf ein skandalös winziges Format.
Jenseits nämlich aller unbestreitbaren und zweifellos gewollten Erotik signalisiert die Plastik die Aufbruchsstimmung ihrer Zeit, lässt offen, ob man einer Göttin, einer Adligen oder irgendeinem jungen Mädchen aus dem Volk gegenübersteht. So gesehen, wird aus (wenn denn überhaupt derartiges beabsichtigt gewesen wäre) getarnter Pornographie das Gestalt gewordene Gleichheitsprinzip der Aufklärung. Spitzfindigkeit? Intellektuelle Ehrenhuberei? Nein. Denn Jean-Antoine Houdons Leben und Werk beweisen, dass er ein überzeugter, wenn auch diplomatisch agierender Freigeist war, den sein kluges Vorgehen zum meistbeschäftigten, in höchsten Adels- ebenso wie in Bürgerkreisen begehrten Künstler seiner Zeit machte.
Dieser Bildhauer war, rundheraus gesagt, einer der größten und besten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, reagierte seismographisch genau auf die Umbrüche seiner Zeit, auf das Ancien Régime, die Französische Revolution, die Herrschaft Napoleons – und ließ sie in seinen Werken Gestalt werden: Houdon porträtierte die Größen seiner Zeit, und das nicht etwa als, wie man vermuten könnte, auf enorme Honorare und wohlfeilen Ruhm erpichter Prominentenjäger, sondern als unbestechlicher hellsichtiger Analytiker von Charakteren. Ob er die skandalumwitterte Zarin Katharina II. ungeschönt als Mischung aus mütterlicher Megäre und dragonerharter Monarchin verewigte oder an Benjamin Franklin, dem von allen Aufklärern Europas gefeierten Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika, die Züge antiker Philosophen erkennen ließ, ohne die Charakteristika seiner „hinterwäldlerischen“ Herkunft zu verschleiern. Aus bestimmten Blickwinkeln glaubt man einen Sokrates mit der verschmitzt-resignierten Altersweisheit eines englischen Landadvokaten zu erkennen – der Bildhauer stieß vor in einen mitfühlenden Verismus, wie ihn erst wieder die Künstler der klassischen Moderne erreichen sollten.
Dass Houdon inzwischen auch hierzulande als ein solcher Künstler bekannt und geschätzt ist, dürfte auf die ungemein erfolgreiche Werkschau zurückzuführen sein, die man ihm im Spätherbst 2009 im Frankfurter Liebieghaus ausrichtete: Unter dem Titel „Die sinnliche Skulptur“, der gekonnt die gängigen Vorurteile aufgriff und zum Lockruf ummünzte, machte die Schau deutlich, welch verblüffende Bandbreite das Werk und das Können Houdons aufweisen. Zu sehen waren beispielsweise Büsten seiner eigenen Kinder, die, insbesondere die der eineinhalbjährigen Tochter, fern jeder Rokokosüßlichkeit die beneidenswert unbefangene Neugier und unverbildete Haltung der Kindheit einfangen.
Dass die Suche des Aufklärers und Freimaurers Houdon nach standesenthobener Menschlichkeit und natürlicher Würde sich selbst in hochoffiziellen Adelsporträts durchsetzte, bewies die Bronzebüste des Preußenprinzen Heinrich (1789), deren offizielle Zopfperücke und ordensgeschmückter Harnisch auf den ersten Blick den hohen Rang des Dargestellten signalisieren, und doch nur Staffage werden, sobald man im Gesicht des Preußen den Dünkel eines spätabsolutistischen Feldherren mit der Empfindsamkeit eines Kunstliebhabers streiten sieht. Ähnlich Marie-Adélaide de France, die Tochter Ludwigs XV., die der Bildhauer als Fünfundvierzigjährige mit schadhaften Zähnen und altersbedingten Tränensäcken in Marmor festhielt; halb verblühende alte Jungfer, halb Bourbonenedle mit der Würde einer römischen Vestalin. Wie sehr Houdon seiner Zeit voraus war, zeigte insbesondere die Porträtbüste des Komponisten Christoph Willibald Gluck. Um dessen ungestüme Musikalität auszudrücken, begnügte der Künstler sich nicht mit „unschicklich“ offenem Hemd und zerzausten Haaren, sondern fügte expressive, „unnatürliche“ Schraffuren hinzu, wie sie erst wieder Rodin anwandte; eine Rang, Reputation und die akademische Ausbildung (der sich Houdon selbstverständlich unterzogen hatte) ignorierende Verklärung des freien Individuums.
An dieser Überzeugung vermochten selbst die Greuel der jakobinischen Schreckensherrschaft und die Spitzelatmosphäre der napoleonischen Zeit nichts zu ändern. Das bezeugt Houdons 1806 geschaffenes, antike Pathosformeln verarbeitendes Porträt Napoleons I.: Als klassische Hermesbüste gestaltet, zeigt sie den zwei Jahre zuvor zum Kaiser Gekrönten wie einen heroischen, feinnervigen jungen Augustus. Doch genauer betrachtet wird dieser Imperator zu jenem nervösen, von Selbstzweifeln gejagten Korsen, der als umstrittener Erster Konsul der Französischen Republik nach Sicherheit gierte und skrupellos politische Feinde über die Klinge springen ließ.
Rechtzeitig zum dreihundertsten Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau erwarb nun das Liebieghaus eine von Houdon gefertigte Bronzebüste des Philosophen und Aufklärers, dessen Ideen ganz Europa veränderten. Der Künstler, dem sein Ruhm Scharen berühmter Zeitgenossen zutrieb, die von ihm porträtiert sein wollten, hatte nichts unversucht gelassen, Rousseau als Modell zu gewinnen. Doch der Philosoph, der sich im Alter von niemandem mehr konterfeien lassen mochte, lehnte immer wieder ab. So blieb es Houdon einzig, dem Verstorbenen, um, wie ein Zeuge schrieb, „die Züge des unsterblichen Mannes für die Nachwelt zu bewahren“, Rousseau am 2. Juli 1778 die Totenmaske abzunehmen. Nach ihr fertigte er um 1780 die Büste, die nun dem Liebieghaus gehört und zurzeit restauriert wird. Es verschlägt einem den Atem, mit welcher Virtuosität der Bildhauer aus den fahlen eingefallenen Gesichtszügen eines Toten die lebenssprühende, zwischen Ironie, Weisheit, Güte und Entschlossenheit irisierende Physiognomie eines Lebenden rekonstruiert hat. Außer der Totenmaske und persönlichen Eindrücken könnten ihn die damals europaweit gefeierten Bronzebüsten der antiken Villa dei Papiri in Herculaneum inspiriert haben, die 1750 aus den Verschüttungen des Vesuvs geborgen worden waren. Insbesondere die fortan jedem Gebildeten vertrauten Bronzebüsten des sogenannten Pseudo-Seneca und des Demokrit scheinen Houdon beeindruckt zu haben. Wie der mutmaßliche Seneca zeigt auch Houdons Rousseau kurze, wie nachlässig in die Stirn gestrichene Strähnen und einen altersgemäß schütteren Haaransatz; wie bei Demokrit ist Rousseaus hochgewölbte Stirn von scharfen, über der Nasenwurzel gewölbten Querfalten gefurcht, und wie beide schaut auch der Aufklärer aus tiefliegenden Augen sinnend am Betrachter vorbei. Anders aber als die düster grübelnden Antiken lächelt der Franzose sein berühmtes, spöttisch freundliches Lächeln und trägt sein Kinn, wie jeder damalige Mann von Stand, glatt rasiert.
Es ist eine zweite diskrete Abweichung, die wirklich Welten zwischen die antiken Philosophen und Rousseau schiebt: Houdon lässt den Franzosen ein Band um Kopf und Stirn tragen. Das ist zunächst, wie die locker um die Schulter geschlungene Toga auch, ein seinerzeit geläufiges und beliebtes antikes Motiv. Doch es erscheint, was jedem damaligen, auch nur einigermaßen gebildeten Betrachter ins Auge gestochen sein muss, in einem quasi unstatthaften Zusammenhang: Stirnbinden gebührten – als Kronzeugen standen dem Bildungsbürgertum der ebenfalls aus Herculaneum stammende Bronzekopf des Ptolemaios IX. Lathyros und eine Marmorstatue Homers vor Augen – nur Königen und Dichtern. So verbindet sich möglicherweise in Jean-Antoine Houdons Rousseau-Büste die gewohnte Meisterschaft, Geistesheroen in unübertrefflichem Verismus zu verewigen, mit der diskreten Parteinahme für einen Denker, dessen geistige Größe die der chronisch überforderten Monarchen des Absolutismus, insbesondere Ludwigs XVI., weit überragt. Der Philosoph als der wahre König, der Dichter und Denker Rousseau als idealer Herrscher: Diese Neuerwerbung des Frankfurter Liebieghauses füllt nicht nur, wie es in einer Stellungnahme der Verantwortlichen heißt, „eine Lücke im Bereich der Skulptur des 18. Jahrhunderts, einem Forschungs- und Sammlungsschwerpunkt des Hauses“, sondern ist ein weiteres Kunstwerk von internationalem Rang in der an derartigen Objekten wahrlich nicht armen Sammlung des Museums. Man kann nur gratulieren.