Der plastische Mensch

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Mensch sei der wichtigste Gegenstand der Bild­hauerkunst, konstatierte Johann Georg Sulzer 1778 in seiner „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“, weil die Form des Menschen „ein Bild der Seele ist; weil sie Gedanken und Empfindungen, Charakter und Neigung in körperlicher Gestalt darstellt. Der Leib des Menschen ist nichts anderes, als seine sichtbar gemachte Seele“.

So war der transzendente Anspruch des plastischen Menschenbildes ebenso formuliert wie der moralische. Und nicht nur Schiller glaubte später fest daran, dass die Menschheit durch Kunst eine bessere und freiere würde. „Erzeugten schöne Menschen schöne Bildsäulen“, schrieb Gotthold Ephraim Lessing bereits 1763, „so wirkten diese hinwiederum auf jene zurück, und der Staat hatte schönen Bildsäulen schöne Menschen mit zu verdanken.“

Endlos sind die Theorien und Traktate seit Hunderten von Jahren, die sich um das rechte Bild des Menschen drehen, um Ideal und Wirklichkeit, Moment und Ewigkeit, Geist und Hülle. Eines haben die Debatten stets gemein: Wir hätten sie nie geführt, prägte uns nicht die Vorstellung, das Gesicht des Menschen würde sein Wesen repräsentieren – das Antlitz als Spiegel des Geistes. Und einte uns nicht der Umstand, dass kein Kunstwerk den Betrachter mehr anzieht und irritiert zugleich als das plastische Porträt: Zieht uns das begreifbar Dreidimensionale unaufhörlich an, so ist es uns doch durch seine Monochromie seltsam entrückt. Der Mensch, der hier vor uns steht, oszilliert zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Auch in der Sprache haben wir der Kraft der Plastik ein Denkmal gesetzt. Denn wir stellen Menschen „auf einen Sockel“ – und stoßen sie „vom Sockel“ auch wieder herab.

Zwei herausragende Plastiken konnten deutsche Museen unlängst mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder erwerben: das Frankfurter Liebieghaus die ­Büste des großen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau von Jean-Antoine Houdon, Frankreichs überragendem Bildhauer des 18. Jahrhunderts, und das Museum Folkwang in Essen die Holzskulptur „Jeune fille debout“ von Aristide Maillol, ein Meisterwerk aus der legendären Sammlung von Karl Ernst und Gertrud Osthaus, die mit ihrer Weltklasse-Kollektion moderner Kunst das Museum Folkwang begründet haben – Grund genug für uns, die Herbstausgabe von Arsprototo diesen glanzvollen Neuzugängen zu widmen.

Mir bleibt, Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre zu wünschen und Ihnen in dieser Ausgabe von Arsprototo ganz besonders den Artikel von Uta Baier über Jerg Ratgeb zu empfehlen, jenen lange vergessenen Maler der Dürerzeit, mit dem wir unsere Serie über Künstler fortsetzen möchten, die nicht nur pars pro toto für ein Land stehen – diesmal Baden-Württemberg –, sondern auch eine kaum glaub­liche Geschichte haben, die sich zu erzählen lohnt. Übrigens: Das Heft ist die 30. Ausgabe von Arsprototo. So blickt die Kulturstiftung der Länder mit Stolz zurück und mit Zuversicht nach vorn!

Ihre Isabel Pfeiffer-Poensgen