Nordrhein-Westfalen

Was braucht die Kunst?

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, über ihre Agenda für die Kulturministerkonferenz

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Die beiden letzten Jahre haben keinen Zweifel daran gelassen, dass ein großes kulturpolitisches Thema, das schon lange diskutiert wird, unaufschiebbar geworden ist: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen derer, die das Rückgrat allen kulturellen Lebens bilden – der Künstlerinnen und Künstler.

Und noch etwas ist mit der Pandemie entstanden: eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn Kunst tatsächlich aus sozialen Räumen verschwindet und wie sehr das in letzter Instanz auch die Frage berührt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Kunst ist eben nicht nur das gerade vielzitierte „Lebenselixier“. Kunst erzeugt alternative Räume, Bilder und Denkfiguren. Oder, um es mit Professor Gerhard Richter zu sagen, „Kunst ist eine Möglichkeit, alles anders zu denken“.

Damit wird sie in Zeiten wie diesen natürlich gerne in die Pflicht genommen, wenn es um das Neudenken von Zukunft geht. In allererster Linie und jenseits gesellschaftlicher Vereinnahmungen ist die Kunst aber eine wichtige, eine unverzichtbare Kraft im gesellschaftlichen Gefüge. Sie ist Ort und Medium alternativer Sichtweisen. Dabei ist sie bisweilen ungemütlich, oft irritierend und manchmal ärgerlich – und das muss sie sein dürfen.

Ich sehe es als Königsdisziplin der Kulturpolitik, ihr eben das zu ermög­lichen, indem wir Arbeitsbedingungen schaffen, die Künstlerinnen und Künstlern Freiraum, Widerspruch, Provokation und Gestaltung gewähren und sie in der Mitte unserer Gesellschaft ihre Wirkung entfalten lassen. Denn im künstlerischen Tun liegt der Ursprung all dessen, was wir gemeinsam schützen, erhalten und sichtbar machen, was uns umtreibt, anregt, fordert und erfüllt. Hier liegt der Ursprung des kulturellen Erbes von morgen.

Dabei ist, neben den vielfältigen Projektförderungen und thematischen Arbeitsstipendien die sozialversicherungsrechtliche Absicherung und die Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten zentral. Denn sie garantiert die Absicherung der Künstlerinnen und Künstler, ohne ihre Selbstbestimmung zu schwächen.

Vor diesem Hintergrund habe ich als diesjährige Vorsitzende der Kulturministerkonferenz die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler zum Arbeitsschwerpunkt dieses wichtigen Gremiums bestimmt. Die Kulturministerkonferenz ist der richtige Ort, um in diesem Feld strukturelle und nachhaltige Verbesserungen zu erwirken, weil sie als Gremium der Willensbildung der Länder auch eine zentrale Schnittstelle zur Bundeskulturpolitik darstellt. Die Länder, denen die Kulturhoheit obliegt, und der Bund, der die sozialrechtlichen Fragen regelt, müssen gemeinsam daran arbeiten, gute, wirksame und angemessene Lösungen zu finden – und der Koalitionsvertrag der Bundesregierung formuliert den Willen, das auch zu tun.

Gemeinsam mit den anderen 15 Kulturministerinnen und -ministern möchte ich in diesem Jahr Vorschläge erarbeiten, die Modelle einer gerechten und fairen Bezahlung und sozialen Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern vorzeichnen. Bereits im Vorfeld hat Nordrhein-Westfalen die inhaltliche Federführung für dieses Thema innerhalb der Kulturministerkonferenz übernommen und erste Schritte unternommen. So hat die Kulturministerkonferenz mit Beschluss ihrer Konferenz am 6. Oktober 2021 eine Kommission eingesetzt, die Empfehlungen für faire, spartenspezifische Entgeltkorridore erarbeitet und prüft, wo eine Festlegung solcher Korridore sinnvoll ist. In der folgenden Kulturministerkonferenz, die am 9. März 2022 in Lübeck stattgefunden hat, hat die Kommission den Stand ihrer Beratungen vorgestellt und ist gebeten worden, ihre Überlegungen zu Honorarempfehlungen weiter zu konkretisieren. Für Herbst 2022 werden die abschließenden Empfehlungen der Kommission erwartet.

Grundsätzlich sind zwei einander ergänzende Wege der Absicherung zu unterscheiden: Eine ganz zentrale Quelle prekärer Lebens- und Arbeitsbedingungen selbstständiger Künstlerinnen und Künstler ist, dass sie schlicht und ergreifend zu wenig verdienen: im Schnitt 16.000 – 17.000 Euro im Jahr, um es in Zahlen zu sagen. Den wenigsten Menschen ist bewusst, in welchen Gehaltsregionen sich Künstlerinnen und Künstler bewegen, von denen die meisten immerhin ein abgeschlossenes Hochschulstudium haben. Es ist ganz einfach nicht möglich, von einem Einkommen in dieser Höhe Rücklagen für finanzielle Engpässe oder Mehrbelastungen zu bilden, für das Alter vorzusorgen oder in eine Versicherung einzuzahlen. Hier müssen wir ansetzen, um Künstlerinnen und Künstler überhaupt in die Lage zu versetzen, aus eigener Kraft ein individuelles Absicherungssystem aufzubauen.

Mit dem Kulturgesetzbuch haben wir in Nordrhein-Westfalen bei Landesförderungen Honoraruntergrenzen zur Voraussetzung gemacht. Es wäre gut, hier zu bundesweiten Regelungen zu kommen um so einen Flickenteppich unterschiedlicher Regelwerke nach Möglichkeit zu vermeiden.

Auch die gängige Praxis, bildenden Künstlerinnen und Künstlern für Ausstellungen kein Honorar zu zahlen, möchten wir zur Diskussion stellen – und mit ihr ein etabliertes Modell, das maßgeblich zu den prekären Arbeitsverhältnissen im Kunstbereich beiträgt. Allzu oft werden Sichtbarkeit und Wertsteigerung als „weiches“ Honorar verbucht. Dass sich das finanziell nur selten tatsächlich einlöst – einmal mehr wenn es sich um Installationen, Performances, räumliche oder flüchtige Eingriffe handelt –, wird dabei gerne ausgeblendet. Es ist nicht nachvollziehbar, warum oft alle anderen an einer Ausstellung Beteiligten – wie Kuratorinnen und Kuratoren, Lichttechnikerinnen und Lichttechniker, Schreinerinnen und Schreiner – für ihre Arbeit bezahlt werden, Künstlerinnen und Künstler aber leer ausgehen. Immerhin gibt es neben dem persönlichen Interesse der Künstlerinnen und Künstler ja auch ein öffentliches Interesse an ihrer Sichtbarkeit. Deshalb prüfen wir derzeit, ob eine solche Ausstellungsvergütung in den Förderrichtlinien der Länder verankert werden kann.

Die zweite Säule einer wirksamen Absicherung ist die sozialversicherungsrechtliche. Mit der Künstlersozialkasse hat Deutschland in den 1980er-Jahren ein Vorreitermodell für eine gesetzlich verankerte Absicherung selbstständiger Künstlerinnen und Künstler geschaffen, als paritätisch finanzierte Pflichtversicherung im Bereich Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung (letztere seit 1995). Sie bildet eine solide Basis, ist aber in einigen Punkten reformbedürftig und geht mir grundsätzlich nicht weit genug. Ausgenommen ist unter anderem die Arbeitslosenversicherung – mit den Folgen, die wir in den letzten beiden Jahren erlebt haben.

Binnen einer Woche war der Kalender unzähliger Künstlerinnen und Künstler für das komplette Jahr leergelaufen und sie standen buchstäblich vor dem Nichts. So gut und schnell es ging, haben wir als Land Akutprogramme aufgelegt, um die existenziellen Härten aufzufangen. Aber die Strukturen individueller Absicherung, die nun offen zutage traten, waren erschütternd fragil. Sie krisenfester zu machen ist der beste Schutz, den wir als kulturpolitisch Verantwortliche für die Zukunft schaffen können.

Da das Sozialversicherungsrecht eine wirklich komplexe Materie ist, haben wir ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das sinnvolle, tragfähige und gut durchdachte rechtliche Konzepte formulieren soll und auf das wir in unseren Überlegungen aufbauen können. Bei der Kulturministerkonferenz in Lübeck am 9. März 2022 wurde die Empfehlung des Gutachtens erörtert, Künstlerinnen und Künstlern über die Künstlersozialkasse die Möglichkeit einzuräumen, Lücken in der Erwerbsbiografie eigenständig abzusichern. Die Ansätze des Gutachtens sollen weiterverfolgt und mit den Vorstellungen des Bundes abgestimmt werden.

Immer öfter werden auch Sorgen laut, dass im Nachgang der Corona-Pandemie Defizite in den Kommunalhaushalten durch Einsparungen im Kulturbereich ausgeglichen werden könnten. Da Bund und Länder auf die Entscheidungen der Kommunen nur bedingt Einfluss haben, tragen sie zur Stabilisierung der Situation am besten bei, indem sie die Voraussetzungen künstlerischen Arbeitens strukturell und langfristig verbessern.

Noch ein anderes Programm, das ganz oben auf meiner diesjährigen Agenda für die Kulturministerkonferenz steht, berührt die „Ermöglichung“ von Kunst – in diesem Falle von Literatur. Ich spreche von den unabhängigen literarischen Verlagen, die mit ihren oft unkonventionellen Programmen ganz maßgeblich zur Vielfalt der Literaturlandschaft beitragen. Aktuell gibt es in Deutschland zwar etliche Verlagspreise, eine strukturelle Förderung aber, die den Verlagen ein kontinuierliches Arbeiten ermöglichen und Planungssicherheit schaffen würde, wie beispielsweise in der Schweiz und in Österreich, fehlt bislang. Für eine solche Förderung setzt sich die Kulturministerkonferenz mit Nachdruck ein. Sie soll sich an alle potentiellen Antragssteller gleichermaßen richten und bundesweit einheitlich ausgestaltet sein. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien hat dazu bereits eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, über die wir im laufenden Jahr sprechen werden. Mein Ziel ist es, alle Länder dafür zu gewinnen, sich anteilig an einem gemeinsamen Länderbudget zu beteiligen, das in ein Bund-Länder-Programm eingebracht wird.  Neben der Ermöglichung von Kunst steht für mich im Vorsitzjahr aber auch der Erhalt kulturellen Erbes an zentraler Stelle – ein Thema, dem sich ja auch die Kulturstiftung der Länder seit ihrer Gründung verschrieben hat. Durch meine langjährige Tätigkeit als Generalsekretärin dieser ‚Inkorporation des Kulturföderalismus‘ bin ich mit den vielen wichtigen Projekten zu diesem, in der Öffentlichkeit in seiner Bedeutung oft verkannten, Thema bestens vertraut.

Dem Bestandserhalt in Archiven und Bibliotheken widmet sich seit 2011 die „Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts“, ein gemeinsames Projekt von Bund und Ländern. Mit dem nationalen Bestandserhaltungskonzept hat sie eine wichtige Grundlage für den sachgerechten Umgang mit den fragilen Artefakten geschaffen und für die vielfältigen Risikofaktoren sensibilisiert. Darüber hinaus unterstützt sie die Vernetzung der Akteure und fördert Projekte von Archiven und Bibliotheken zum praktischen Bestandserhalt. Die Koordinierungsstelle wird noch bis Ende 2023 als Projekt geführt und sollte in Anbetracht der Tragweite ihres Auftrags meines Erachtens unbedingt durch eine verstetigte, institutionalisierte Förderung abgesichert werden. Denn die fachgerechte und systematische Restaurierung ist ein ebenso entscheidender Faktor beim Erhalt des schriftlichen Kulturerbes, wie die Koordinierung und Priorisierung der Maßnahmen, die eine zentrale Begleitung und Steuerung erfordert. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung kommt dieser Aspekt für meinen Geschmack etwas zu kurz. Umso wichtiger ist es mir, die Verstetigung der Koordinierungsstelle in der Kulturministerkonferenz voranzutreiben. Aktuell wird die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts evaluiert. Das Ergebnis, das voraussichtlich in diesem Frühjahr vorliegen wird, soll uns als Grundlage für Gespräche über eine Verstetigung dienen.

Ermöglichung und Erhalt von Kunst – das sind die großen Themen, die uns in der Kulturministerkonferenz unter meinem Vorsitz beschäftigen werden. Ich sehe es als besondere Chance, diesen Themen Nachdruck verleihen zu können. Denn die Kulturministerkonferenz ist das Instrument, um die große Stärke eines kooperativen Kulturföderalismus wirksam werden zu lassen. Eine Stärke, die maßgeblich darin besteht, mit vereinten Kräften bundesweit beste Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur zu schaffen und zugleich die regionale Vielfalt und Vielstimmigkeit der Kultur zu stärken und zu bewahren.

Isabel Pfeiffer-Poensgen ist – nach Redaktionsschluss von Arsprototo – am 30.6.2022 aus ihrem Amt als Ministerin des Landes Nordrhein-Westfalen ausgeschieden (Anm. der Redaktion).

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