Die Auseinandersetzung mit Migration und Islam nahm in den gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Jahre weiten Raum ein, nicht zuletzt, weil der muslimische Anteil an der Bevölkerung Europas steigt. Dabei ist die Gegenwart durch Verflechtungen der Kulturen definiert; sowohl in der Bevölkerung als auch in individuellen Biografien, in der Hochkultur ebenso wie im Populärbereich oder im Alltag begegnen wir mannigfachen Ausprägungen von Transkulturalität.
In den Kirchenschätzen Mitteleuropas sind zahlreiche Kunstwerke aus vom Islam geprägten Regionen überliefert. Ebenso befinden sich Übersetzungen von Büchern arabischer Sprache in den historischen Bibliotheken Europas, so auch in der Dombibliothek Hildesheim. Aufgrund seines Umfangs und der hohen Qualität ist der Hildesheimer Domschatz als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet. In der von der Kulturstiftung der Länder geförderten Ausstellung „Islam in Europa 1000 – 1250“ werden ausgehend von den Objekten des Dommuseums Hildesheim mit zahlreichen hochkarätigen Leihgaben aus regionalen und internationalen Sammlungen die Verflechtungen und Gemeinsamkeiten der Kulturen herausgearbeitet.
Als historische Voraussetzung dieser Geschichte ist die Spätantike eine Zeit der Transformation im weiteren Mittelmeerraum. Das südliche Mediterraneum wahrte eine Kontinuität der Hochkultur der Antike mit großen Metropolen, florierender Kunst und Wissenschaft sowie einer ertragreichen Landwirtschaft, während das nördliche Europa später und langsamer kultiviert wurde. Erst im 11. Jahrhundert näherten sich die Standards an, und über alle religiösen und sprachlichen Grenzen hinweg verband den Mittelmeerraum vom 11. bis 13. Jahrhundert eine „gemeinsame Hofkultur“ (Oleg Grabar), an der auch Hildesheim partizipierte. Das Mittelmeer verband die Kulturen und ermöglichte die Bewegung und den Transport der Objekte.
Im 7. Jahrhundert entstand als weitere monotheistische Religion der Islam, der auf dem an den Propheten Mohammed offenbarten Koran beruht. Dessen Überlieferungsformen – zunächst mündlich und erst später verschriftlicht – bedurften der Auslegung, es entwickelte sich ein Interpretationsspektrum, und weiterreichend galt eine „Kultur der Ambiguität“ (Thomas Bauer), in der Mehrdeutigkeit positiv bewertet wurde. Entsprechend waren die islamisch geprägten Regionen durch eine Vielfalt der Ethnien, Kulturen und Religionen charakterisiert. Mit der Ausbreitung des Islam entwickelte sich zwischen Indus und Atlantik eine „monotheistische Weltzone“ (Michael Borgolte), die untereinander in Kontakt stand.
Mit einem der ältesten Objekte des Hildesheimer Domschatzes, einem Bursenreliquiar des 10. Jahrhunderts, setzt der Blick auf europäische Kirchenschätze ein. Neben einer antiken römischen Gemme ist es mit einem arabisch beschrifteten Stein geschmückt, und als Bekrönung dient eine abbasidische Schachfigur aus Bergkristall. Ausgehend von diesen Bestandteilen können die Migrationswege in die Ursprungsregionen verfolgt und der Funktionswandel nachgezeichnet werden. Mit dem Ansfrid-Codex aus Utrecht und dem Heinrichs-Kreuz aus Fritzlar werden weitere Objekte präsentiert, in die arabisch beschriftete Steine integriert sind. Neben kostbaren Gefäßen aus Bergkristall sind erstmals die beiden Platten mit abbasidischen Bergkristallgefäßen sowie Schachfiguren vom Aachener Heinrichs-Ambo, dem herausragenden Goldschmiedewerk des 11. Jahrhunderts, in einer Ausstellung zu sehen.
Aus den Beständen der Hildesheimer Dom- und Klosterbibliotheken haben sich Übersetzungen wissenschaftlicher Literatur aus dem Arabischen ins Lateinische erhalten. Neben einer von Constantinus Africanus (1010/20 – 1087) übersetzten medizinischen Schrift ist auch die Erläuterung eines Astrolabiums durch Hermann den Lahmen (1013 – 1054) erhalten. Ein zeitgleich zu dessen Lebenszeit am Beginn des 11. Jahrhunderts in Toledo hergestelltes Astrolabium zeugt vom hohen Stand der arabischsprachigen Wissenschaft.
In den goldenen Schrein des Heiligen Godehard im Hildesheimer Dom war der weitere Mittelmeerraum gleichsam eingefaltet. Denn bei der Öffnung des Schreins im Jahr 2009 wurden mehrere Textilien aus vom Islam geprägten Regionen gefunden. Neben einem kastenförmig zusammengenähten Tuch mit Vögeln zeigen zwei Textilfragmente Pfauen, ihre Herkunft wird im Gebiet des heutigen Irak oder Iran vermutet. Die Herstellung von Seide war eine in der Spätantike aus China ins oströmische Reich gelangte Technik, und sie wurde nachfolgend dort sowie in den islamisch geprägten Regionen des östlichen Mittelmeerraums und in al-Andalus weitergeführt. Von dort gelangten die kostbaren Stoffe nach Mitteleuropa, wo deren Herstellung unbekannt und nicht möglich war. Mithin waren die Produktion und Distribution der Stoffe ein zentraler Aspekt der Verflechtung und Gemeinsamkeit der Kulturen. Weitere Objekte in der Ausstellung führen in verschiedene Regionen des Mittelmeerraums, wenn beispielweise aus al-Andalus das Elfenbeinkästchen aus Burgos präsentiert wird, an dessen Provenienz sowie den Emailbeschlägen sich die Begegnung der kulturellen Sphären abzeichnet.
Ein zweiter Ausstellungsteil ist Kunstwerken gewidmet, die anhand ihrer Formen die Verflechtungen und Gemeinsamkeiten der Kulturen besonders gut verstehen lassen. Im großen Turmreliquiar des Hildesheimer Domschatzes wurde 2010 ein Holzmosaikkästchen gefunden, das zu einer Gruppe vergleichbarer Objekte gehört. Dass deren Herstellungsort zwischen Sizilien, Niedersachsen und dem Rheinland nicht immer bestimmt werden kann, ist ein Phänomen, das die Verschränkung der Kulturen ebenso wie das Bestreben nach einer Nachahmung kultureller Leistungen aufzeigt. Von großer Besonderheit sind darüber hinaus die wenigen erhaltenen Objekte aus vom Islam geprägten Regionen, die im Bildprogramm eine christliche Ikonographie aufweisen. Der Olifant aus der Abteikirche Saint-Arnould von Metz (Musée de Cluny, Paris) vereint Ornamente an den Seiten, die mit fatimidischer Kunst in Verbindung gebracht werden, mit einer zentralen Darstellung der Himmelfahrt Christi, für die byzantinische Vorlagen anzunehmen sind. Ein weiteres Ausstellungsthema sind Textilien, die nicht nur verborgen in Reliquienschreinen lagen, sondern auch für Bekleidungen verwendet wurden. Sie waren ein zentrales Medium bei der Vermittlung von Formensprachen. Ein anderes Ausstellungskapitel ist den zahlreichen Objekten des europäischen Kunsthandwerks gewidmet, die ein Ornament nach der arabischen Schrift – bisweilen stark abstrahiert – aufweisen. So zeigt das Fragment einer Altardecke aus Kloster Heiningen am Gewand des heiligen Nikolaus rechts außen ein solches Ornament auf Kniehöhe. Darin spiegelt sich die Verwendung von importierten Textilien mit arabischen Inschriften bei den Gewändern selbst. Vor dem Hintergrund der Neuerwerbung im Jahr 2015 und der anschließenden Erforschung wird schließlich das Senmurv-Aquamanile des Dommuseums zum Ausstellungsthema. Denn mit ihm sind sowohl eine Motivwanderung als auch ein Techniktransfer aus Persien, Arabien und Byzanz bis nach Mitteleuropa verbunden. Mit dem Senmurv-Teller des British Museum, London, kann die Wanderung des Motivs aus dem Sasanidenreich (Gebiete des heutigen Irak und Iran) über Konstantinopel bis nach Hildesheim aufgezeigt werden. Der berühmte Bronze-Pfau aus dem Musée du Louvre ist in al-Andalus hergestellt und lässt den Transfer der Technik des Bronzegusses nachvollziehen.
Die Ausstellung versucht mehrere Aspekte zu verknüpfen: Mit dem Hildesheimer Domschatz als historischem Ausgangspunkt wird sowohl eine exemplarische Auswahl der Themenbereiche begründet als auch eine konkrete Anbindung des Themas an den Museumsort erreicht. In einem ersten Teil der Ausstellung wird die Integration von Kunstwerken aus vom Islam geprägten Regionen in Objekte des Domschatzes thematisiert. Der zweite Teil fokussiert stärker auf die Formen der Kunstwerke und stellt unterschiedliche Ausprägungen der Transkulturalität vor. Dergestalt werden Gemeinsamkeiten und Verflechtungen der Kulturen über die Grenzen von Sprachen und Religionen und geografische Distanzen hinweg erkennbar. Die genannten Aspekte vermitteln ein Geschichtsbild, das zur Diskussion und Kritik der Gegenwart beitragen will.
Entsprechend ist für das Ausstellungsprojekt die Reflexion der historischen Exponate und Konstellationen auf die Situation heute von großer Relevanz. Am Ende des Rundgangs lädt ein eigener Raum zum Nachdenken und zur Information über diese Beziehungen ein. Der ‚Labor Gegenwart‘ benannte Ort greift die Gestaltung des Museums mit einer hellen, minimalistischen und freundlichen Atmosphäre auf und ermöglicht eine Konzentration auf Fragen zu den aktuellen Verhältnissen. Mittels der Einrichtung entsteht eine Situation, in der unterschiedliche Medien wie Bücher, Film- oder Audiodokumente zur vertiefenden Information genutzt werden können. Derart dient der Raum als Endpunkt der Ausstellungsführungen, die in arabischer, deutscher und türkischer Sprache angeboten werden, und dort werden auch die Ergebnisse der ausstellungsbezogenen Schulprojekte präsentiert. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte soll ein Nachdenken über die gemeinsame Gegenwart und Zukunft angeregt werden.