Im Zeichen der Fliege
Was ist schon eine Fliege? Unter Umständen ein entscheidendes Detail! Im Fall des Blumenstilllebens des niederländischen Malers Balthasar van der Ast (1593/94 –1657) glaubte man jahrzehntelang, es gäbe keine Fliege. Beziehungsweise es gäbe zwei Bilder, eines mit und eines ohne Insekt in der linken oberen Ecke. Dass diese Frage keineswegs trivial ist, zeigt die schwierige Geschichte der Rückkehr dieses bedeutenden Gemäldes über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Balthasar van der Ast war ein hochspezialisierter Stilllebenmaler, und sein wichtigstes Sujet waren mit außerordentlicher Raffinesse ausgeführte Blumenstillleben. Seine Kompositionen zeugen mit ihren feinmalerischen Details und ihrer Vielfalt durchaus nicht zeitgleich blühender Blumen von dem intensiven Interesse der niederländischen Städter an der aufkommenden Wissenschaft der Botanik, an Gärten und exotischen Pflanzen. Die Tulpe spielt in van der Asts virtuosen Gemälden eine Hauptrolle. Hier wird für die Ewigkeit zu Sträußen gebunden, was als Zwiebel oder ganze Pflanze auf den globalen Handelswegen in die Niederlande gelangte.
Dass sich eine detaillierte Betrachtung des Dargestellten lohnt, zeigt bereits die Vase, aus der die Blüten emporstreben: Traditionell als „Wanli-Vase“ bezeichnet, könnte man annehmen, dass man ein authentisches chinesisches Gefäß der Dynastie des Wanli-Kaisers (1563 – 1620, reg. 1572 –1620) vor sich sieht – doch der gemalte Dekor der Vase mutet nicht sehr asiatisch an. Tatsächlich finden sich in den Gemälden van der Asts diverse westliche Interpretationen zeitgenössischer chinesischer Originale. So nahe van der Ast in seiner Umsetzung von Früchten, Blüten, Tieren und Objekten auch bei der Nachahmung der Natur bleibt, seine Gemälde sind unmissverständlich Kunstwerke: Die Blüten sind so angeordnet, dass keine die andere überschneidet und sie somit in ihrer Eigenart erfassbar sind, und seine Version einer „Wanli-Vase“ verweist im Bild auf genau jene Koordinaten von Exotik und Fernhandel, die den damaligen Betrachtern und Käufern bekannt waren.
Und die Fliege? Die Fliege steht im Zentrum der verwickelten Nachkriegsgeschichte des Gemäldes, die erst jetzt, mit der Rückkehr des Stilllebens nach Aachen, zu Ende ging. Van der Asts Blumenstrauß gehört zu den zentralen Werken der Sammlung, es gelangte 1910 als Vermächtnis in das heutige Suermondt-Ludwig-Museum. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es mit den Beständen des Museums in die Albrechtsburg in der Nähe von Meißen ausgelagert und überstand dort den Krieg, nur um unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen mit einer ganzen Reihe anderer Aachener Gemälde von einer lokalen Mitarbeiterin der Sowjetischen Militäradministration gestohlen und schließlich an ihren Auswanderungsort in Kanada verbracht zu werden (vgl. APT 2/2015). Das Stillleben wechselte über den Kunsthandel mehrfach den Besitzer, und zwar unter der entscheidenden Prämisse, dass es zwei Versionen der Komposition gäbe: das seit 1965 als Kriegsverlust publizierte Aachener Bild und eine weitere. Diesem angeblichen zweiten, ansonsten bis ins Detail identischen Stillleben fehlte angeblich nur die Fliege oben links neben dem Blumenstrauß. Diese – jahrzehntelang von niemandem überprüfte – Annahme konnte in zwei Schritten erst seit 1997 widerlegt werden: In dem Jahr 1997 kontaktierte Fred J. Meijer, Experte für niederländische Stillleben des 17. Jahrhunderts, das Museum und wies auf die Identität des in Aachen vermissten mit einem Gemälde van der Asts in Privatbesitz hin. Das Gemälde des Künstlers war durchaus nicht unbekannt, aber auf der Basis der Annahme von den zwei Gemäldeversionen nicht mit dem Museumsbild in Verbindung gebracht worden. Den zweiten Mosaikstein lieferte die Datenbank Art Loss Register in London, die anlässlich ihrer Prüfung der auf der Kunst- und Antiquitätenmessen in Maastricht ausgestellten Werke nicht nur die „bemerkenswerte Ähnlichkeit“ der beiden Gemälde feststellte, sondern anhand der auf eines im Museum erhaltenen Glasnegativs aus der Vorkriegszeit die im Bildhintergrund gut sichtbaren Maserung der Holztafel die Übereinstimmung auch weiter belegen konnte. Und schließlich fand Meijer im restaurierten Original auch noch die Fliege, die ebenfalls auf dem Negativ zu sehen ist. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Verhandlungen über die Rückkehr des inzwischen weiterverkauften Gemäldes beginnen sollten. Meilensteine dabei waren die vielbeachtete Ausstellung über die Kriegsverluste des Suermondt-Ludwig-Museums von 2008 und die Meldung der Aachener Verluste bei der Lost Art-Datenbank. Schließlich bildete die vom Museum in Kooperation mit der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha konzipierte Ausstellung zum Werk Balthasar van der Asts im Jahr 2016 den Anlass, die Verhandlungen über die Rückkehr des Gemäldes zu intensivieren und zu einem glücklichen Abschluss zu führen. Peter van den Brink, als Aachener Museumsdirektor unermüdlicher und erfolgreicher Fahnder in eigener Sache, ist es bereits in vielen Fällen gelungen, verloren geglaubte Kunstwerke der Sammlung zurückzuholen, sei es mit Hilfe der Auktionshäuser, von Kunsthändlern oder privaten Sammlern. Da ein Rechtsanspruch auf bei Kriegsende abhanden gekommenes Museumsgut so gut wie nicht durchsetzbar ist, sind die Museen auf die Kooperation der Marktteilnehmer angewiesen: Der starke moralische Anspruch der Institution verbunden mit dem Makel, der dem Kunstwerk auf Grund der dubiosen Umstände seines Abhandenkommens anhaftet, überzeugt auch viele Privatsammler. Sie lassen sich bei der Rückführung von Museumsgut auf Vergleiche ein, statt sich dem Vorwurf auszusetzen, von gestohlenem, noch dazu öffentlichem Gut zu profitieren. Diese nachvollziehbar schwierige und in jedem Einzelfall vorbildliche Entscheidung bedarf zu ihrer Umsetzung natürlich sorgfältig recherchierter, unumstößlicher Fakten – und da zählt jede Fliege.