Hüter des Glaubens
Mit zorniger Miene, schwerer Rüstung und stattlicher Größe von 1,22 Metern macht die über eintausend Jahre alte chinesische Marmorfigur ihrer ursprünglichen Funktion alle Ehre: Als in Stein gemeißelter Wächterkönig (Sanskrit: „Lokapala“) eines buddhistischen Tempels sollte er böse Geister von dem Heiligtum fernhalten. Der Beschützer des Glaubens in martialischer Aufmachung war ein Protagonist zum 100-jährigen Gründungsjubiläum des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln im Jahr 2009. Dank seiner monumentalen Ausstrahlung und seiner ikonographischen Bedeutung als Wächterkönig eignete sich der Lokapala – datiert auf das 9. bis 10. Jahrhundert n. Chr. – ideal für den Jubiläumsankauf. In der durch die Museumsgründer eingebrachten Sammlung chinesischer Skulptur des 6. bis 12. Jahrhunderts schließt das Stück eine große Lücke zwischen den dort zahlreich repräsentierten Steinskulpturen der Nördlichen Qi-Dynastie (550 – 600 n. Chr.) und den späteren Holzskulpturen der Song- und Liao-Dynastien des 11. bis 12. Jahrhunderts.
Die Skulptur gehörte ursprünglich zu einer Gruppe von Wächterkönigen der vier Himmelsrichtungen, die wahrscheinlich das zentrale Kultbild in einem chinesischen Tempel flankierten. Die Schutzgottheiten eröffneten den Bildhauern Spielräume zur Darstellung bewegter und emotionaler Figuren, die meist Kampfposen einnehmen und mit Waffen ausgerüstet sind. Die daraus resultierende Lebendigkeit und Variationsbreite stellt für den modernen Betrachter einen besonderen Reiz dar. Der Lokapala steht diagonal auf einem Felssockel. In dynamischer Pose ist der Kopf nach links gewandt und der linke Fuß ausgestellt. Der rechte Arm ist in die Taille gestützt, der linke im Ansatz erhalten. Das volle Gesicht mit den zornig zusammengezogenen Augenbrauen hat einen kraftvollen, ernsten Ausdruck. Auf dem Kopf trägt der Lokapala einen Helm mit stilisierten Wolkenmotiven und plastisch herausgearbeiteten Rosetten sowie einen unter dem Helm hervortretenden Nacken- und Ohrenschutz. Die Brust- und Bauchplatten der Rüstung sind mit großen Rosetten verstärkt und werden an der Schulter und auf dem Rücken durch Riemen mit Schnallen zusammengehalten. Am Gürtel sind Schärpen befestigt, die in schwungvollen Faltenwürfen vor dem Bauch über den Waffenrock fallen und von der rechten Hand in Höhe der Taille gerafft werden. Zwischen den Beinen kommt eine locker fallende Perlschnur mit Glück verheißenden Emblemen zum Vorschein. Unter dem Waffenrock trägt die Wächterfigur ein Untergewand, das in bewegten Faltenwürfen über den Felsensockel fällt. Die Knieschoner und Stulpen werden durch geschmückte Bänder und Schnallen an Knien und Knöcheln zusammengerafft und zeugen in der lebendigen Wiedergabe der plastischen Faltenwürfe von der für die Tang-Dynastie typischen Betonung naturalistischer Körperlichkeit. Auf der Rückseite zeigt der Felsensockel einen Berg mit einer Höhle, in der ein Löwe kauert. Insgesamt ist die Wächterfigur in einer detailreichen und präzisen Meißeltechnik gearbeitet, die sich die Härte des kostbaren Marmors zunutze macht. Reste der ursprünglichen Bemalung in grün, rot und blau haben sich noch an Stellen, die von Abrieb verschont blieben, etwa dem Aufschlag des Gewandes am Schienbein (grün) oder am rückwärtigen rechten Ärmel (rot) bewahrt.
Im Unterschied zu Buddha- oder Bodhisattvafiguren sind nur wenige Skulpturen von Wächterkönigen am ursprünglichen Aufstellungsort in chinesischen Tempeln, aber auch museal in asiatischen und westlichen Sammlungen erhalten. Dieser Umstand mag damit zu erklären sein, dass Wächterfiguren innerhalb der Hierarchie des buddhistischen Pantheons niedriger als Buddhas und Bodhisattvas eingestuft wurden und man sich daher weniger um ihren Erhalt kümmerte. Auch reichen die wenigen vergleichbaren Stücke in der Mehrzahl nicht an die Qualität und Monumentalität des hier vorgestellten Lokapala heran, dessen Ankauf eine einmalige Gelegenheit bot, ein besonders seltenes Stück für die Kölner Sammlung zu gewinnen. Die hohe Qualität und Seltenheit der Skulptur lässt sich im Vergleich mit ikonographisch verwandten Werken in chinesischen Sammlungen aufzeigen, etwa anhand der im Museum der Provinz Shaanxi aufbewahrten Stücke. Die ins 7. bis 8. Jahrhundert datierten Wächterkönige aus Marmor stehen auf Felsensockeln und treten auf kleine, besiegte Dämonen. Ihre martialischen Posen wirken dem Zeitstil entsprechend hart. Auch der durch große Augen und zusammengezogene Augenbrauen aggressive Gesichtsausdruck arbeitet mit abstrakten Stilisierungen. Dagegen wirken die Gesichtszüge des Lokapala des Museums für Ostasiatische Kunst weicher und fülliger, aber auch realitätsnäher.
Ein weiteres in seiner üppigen Plastizität und Monumentalität stilistisch verwandtes Vergleichsstück befindet sich in der Heimat der berühmten Tonkriegerarmee, dem Museum für Stelen und Steinskulpturen in Xi’an, Hauptstadt der Provinz Shaanxi. Im Vergleich zu den bisher gezeigten Wächterfiguren dürfte dieses Stück in das 9. bis 10. Jahrhundert der späten Tang-Dynastie datieren und somit zeitgleich mit dem Lokapala des Museums für Ostasiatische Kunst entstanden sein. Möglicherweise stammt dieser ebenso wie die hier angeführten Beispiele aus der Gegend um die ehemalige Kaiserstadt Xi’an in der Provinz Shaanxi. Offensichtlich ist, dass der Lokapala durch seine qualitativ hochwertige Meißeltechnik, seinen voll entwickelten, realistischen, aber auch weichen Stil besticht und in hervorragender Weise den reifen Stil der späteren Tang-Dynastie repräsentiert.