Homosexualität_en
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“ Mit seinem gleichnamigen Film wollte der Regisseur und Autor Rosa von Praunheim Anfang der 1970er Jahre vor allem eins: aufrütteln. Homosexuelle sollten sich nicht mehr länger verstecken, sie sollten mit den bürgerlichen Konventionen brechen und für ihre Rechte kämpfen. Rückblickend gilt die fiktionalisierte soziale Studie – bei den Internationalen Berliner Filmfestspielen 1971 uraufgeführt – als Auslöser der Lesben- und Schwulenbewegung in Deutschland. Homosexuelle fingen an, sich zu vernetzen, sie formierten sich in Gruppen, beispielsweise der „Homosexuellen Aktion Westberlin“ oder der „Roten Zelle Schwul“, sprachen offen über ihre Homosexualität und riefen zu Demonstrationen und Protestaktionen auf. Mit Ausdauer und Vehemenz trieb die Emanzipationsbewegung die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Frauen und Männern voran. Um eine selbstverständliche und alltägliche Anerkennung ihrer Lebensform ringen sie bis heute; nach wie vor sehen sich Homosexuelle in vielen Teilen der Gesellschaft Vorurteilen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt.
In einem Kooperationsprojekt widmen sich nun das Deutsche Historische Museum und das Schwule Museum in Berlin ausführlich der Geschichte, Politik, Kunst und Kultur männlicher wie weiblicher Homosexualität. Auf insgesamt 1.600 qm Ausstellungsfläche zeigt die kulturhistorisch ausgerichtete Schau zeitgleich in beiden Häusern Exponate der Kunst- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Wie Homosexualität von Gesellschaft, Kirche und Staat diskriminiert und von der Gesetzgebung kriminalisiert wurde, zeigen die präsentierten Ausstellungsstücke. So belegt ein Exemplar der Constitutio Criminalis Carolina – des ersten welt¬lichen Strafgesetzesbuches –, dass homosexuelle Handlungen Mitte des 16. Jahrhunderts mit der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen bestraft wurden. Welche Rolle die Medizin und Psychologie in der Vergangenheit bei der die Stigmatisierung von Homosexualität spielt, wird in dem Bemühen deutlich, sexuelles Begehren jenseits der „Norm“ anhand von Tiefenpsychologie und Elektroschocks zu therapieren. Angefangen mit der schrittweisen Emanzipation der Homosexualität seit dem späten 19. Jahrhundert, setzt sich die Ausstellung mit dem politischen Beitrag der Lesben- und Schwulenbewegung zur Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft auseinander, die mit der endgültigen Streichung des Paragraphen 175, dem sogenannten Schwulenparagraphen, im Jahr 1994 einen wichtigen Höhepunkt erreichte. Erstmals würdigt die von der Kulturstiftung der Länder und der Kulturstiftung des Bundes gemeinsam geförderte Doppelausstellung auch das Engagement der lesbischen Bewegung für die Emanzipation von Homosexuellen, denn die Geschichte der Homosexualität wurde bisher vorwiegend aus männlicher Sicht erzählt, ihre Historie und Kultur in den letzten 30 Jahren vergleichsweise breit erforscht und in Ausstellungen umfassend dokumentiert. Ferner rückt die Schau wichtige Akteure und Akteurinnen in der spannungsreichen Auseinandersetzung um die Geschlechterordnung in den Fokus. So wurde der studierte Jurist und Theologe Karl Heinrich Ulrichs auf Grund seines offenen Bekenntnisses zur Homosexualität 1864 aus dem Freien Deutschen Hochstift ausgeschlossen. Heute gilt er als erster bekannter Vorkämpfer für die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen. Doch auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter der Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868 –1935) oder die amerikanische Philosophin und Philologin Judith Butler (geb. 1956), werden in ihrem Bestreben um ein Verständnis für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt vorgestellt. Beeindruckendes dokumentarisches Material – Plakate, Flugblätter, Videos und Transparente – ebenso wie ausgewählte künstlerische Arbeiten, u.a. von Louise Bourgeois, Andy Warhol, Elaine Sturtevant, Heather Cassils oder Lotte Laserstein komplettieren die Berliner Schau. Neben dem Fokus auf die historischen Entwicklungen der vergangenen 150 Jahre greift das kuratorische Konzept die aktuelle Debatte um die Legitimität von homosexuellen Lebensentwürfen auf, hinterfragt die gesellschaftlichen Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit, Normalität und Abweichung und fordert das Publikum dazu auf, eigene Emotionen zu diesen Themen zu reflektieren und Vorurteile abzubauen. Wurde das Schwule Museum 1985 als privater Verein ins Leben gerufen, geht die Gründung des Deutschen Historischen Museums als Deutschlands nationales Geschichtsmuseum auf das Jahr 1987 durch die damalige Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin zurück. Vor dem Hintergrund der spezifischen Funktionen und der jeweiligen Kontexte beider Häuser wendet sich die Ausstellung bewusst an ein breites Publikum. In ihrer Fülle von Vermittlungsansätzen zielt sie darauf ab, sowohl die ausdifferenzierte Community als auch die kulturelle Öffentlichkeit einzubeziehen, ohne Außenseiterrollen zu sanktionieren oder Klischees zu zelebrieren.