Höllenmusik

Chefaufseher über die gesamte Kirchenmusik in Leipzig: Für Johann Sebastian Bach bedeutete die Berufung auf den Posten des Thomaskantors im Jahr 1723 den – wenn auch unverhofften – Höhepunkt seiner Karriere. Denn der heute überaus berühmte Komponist war den Leipzigern nur die dritte Wahl gewesen. Zwei viel geeigneter erscheinende Kandidaten hatten der Stadt einen Korb gegeben, bevor Bach zum Zuge kam. Sein wichtigster Auftrag: Für jeden Sonn- und Feiertag eine neue Kantate zu komponieren. Und der frühere Köthener Hofkapellmeister legte sich ins Zeug. Gleich der zweite Kantatenzyklus für die Jahre 1724/25 wird aus heutiger Sicht Bachs ambitioniertestes Projekt überhaupt. Die komplexe kompositorische Varianz und der Umfang des Zyklus lassen nach Expertensicht selbst so bekannte Werke wie seine Passionen und Messen dahinter zurückfallen.

Bach greift für seinen Choralkantatenjahrgang tief ins musikalische Repertoire, erneuert aber auch die Gattung: Althergebrachte Kirchenlieder und ihre Harmonien verschränken sich mit modernen Formen wie Rezitativ und Arie sowie mitunter konzertant angelegten Chören. Nicht Bibeltexte, sondern den Gläubigen wohlbekannte evangelische Lieder in den Mittelpunkt der Predigt zu stellen – das war unter Leipzigs Predigern dieser Zeit ein populäres Phänomen. Und Bach lieferte den eng verzahnten und eindrucksvollen Soundtrack zu den Auftritten der Pfarrer in Leipzigs vier Hauptkirchen. Die erste Kantate des Zyklus, „O Ewigkeit, du Donnerwort“ für den 1. Sonntag nach Trinitatis am 11. Juni 1724, variiert das gleichnamige Kirchenlied von Johann Rist. Die Strophen schildern mit eindringlichen Worten die Schrecken des Jüngsten Gerichts und die Qualen der Hölle, gefolgt von der Ermahnung zu einem gottgefälligen Leben.

Wie die Leipziger seinen Kantatenjahrgang 1724/25 aufnahmen, ist leider nicht überliefert, doch ein Detail beweist, dass die Zeitgenossen die herausragende Stellung dieses Werkzyklus erkannten: Als einzige autographe Notenhandschrift erwarb die Stadt die originalen Aufführungsstimmen des Thomanerchores aus der Erbmasse Johann Sebastian Bachs. Die Partituren allerdings nahm Bachs Sohn Wilhelm Friedemann an sich. Zusammen mit vielen weiteren kostbaren Bachiana erwarb 1917 der Geheimrat Henri Hinrichsen aus einer Privatsammlung das originale Manuskript der Kantate für seine Musikbibliothek Peters, der Sammlung des international erfolgreichen Musikverlags Edition Peters. Nach der Ermordung Henri Hinrichsens in Auschwitz nahm sein Sohn 1945 die Partitur mit in die USA. Der Sammler Paul Sacher, dessen Stiftung nun das Autograph veräußerte, erwarb das Manuskript 1982 auf einer Londoner Auktion. Wenige der originalen Partituren haben sich erhalten, insofern ist die Rückkehr nach Leipzig ein Glücksfall besonderer Art. Zum ersten Mal überhaupt seit Bachs Tod kommen die Stimmen und Bachs Niederschrift wieder zueinander. Die zwölf Blätter lassen Bachs Schöpfungsakt unmittelbar erleben, denn es handelt sich nicht wie üblich um eine zeitgenössische Reinschrift von fremder Hand, sondern tatsächlich um das Erstnotat des Komponisten. Später entschied sich Bach für eine Überarbeitung des Zyklus. Zahlreiche Korrekturen, Überschreibungen und Randskizzen illustrieren vor allem auch spätere Revisionen. Da diese Qualität der Partitur auch in der grundlegenden Edition der Bach’schen Werke unberücksichtigt blieb, erhofft sich die Forschung zahlreiche neue Erkenntnisse zum Bach’schen Kompositionsprozess.

2014 bot die Paul Sacher Stiftung (Basel) dem Bach-Archiv Leipzig die Handschrift für 1,98 Millionen Euro exklusiv zum Kauf an. Im Dezember 2016 erwarb das Bach-Archiv Leipzig das Manuskript dank Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Stadt Leipzig, des Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Sparkasse Leipzig sowie privater Spender. Das ebenfalls im Bach-Archiv Leipzig aufbewahrte originale Aufführungsmaterial des Thomanerchores und die handschriftliche Partitur der Kantate sind dadurch nach 267 Jahren wieder in Leipzig vereint. Dort künden die kostbaren zwölf Blätter des prominenten Eröffnungsstücks zukünftig wie kaum eine andere Handschrift von der revolutionären Kraft des Thomaskantors Bach.