Gewebe und Gestaltung

Gehört das Gewebe überhaupt zu den Dingen, die für den schöpferischen Gestaltungswillen des Menschen eine Aufgabe bedeuten? Ja! Denn das Gewebe ist ein ästhetisches Ganzes, eine Komposition von Form, Farbe und Materie zu einer Einheit. Auf allen Gestaltungsgebieten zeigt sich heute ein Bestreben nach Gesetzmäßigkeit und Ordnung. So haben auch wir in der Weberei uns zur Aufgabe gemacht, die Grundelemente unseres besonderen Stoffgebietes zu untersuchen…“

Diese programmatische Definition der Weberei am Bauhaus postulierte Gunta Stölzl 1926 im Bauhaus-Heft der Zeitschrift „Offset Buch und Werbekunst“. Sie gibt eine Vorstellung davon, dass die dortige Textilwerkstatt, in die Walter Gropius gern die weiblichen Ausbildungs-Bewerber umlenkte, keine biedere Web- und Knüpfstube war, sondern auf denselben Gestaltungsansprüchen fußte, wie sie für alle Werkstätten der Avantgardeschule formuliert wurden. Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen, was sich jetzt an den Neu­erwerbungen des Berliner Bauhaus-Archivs im Detail nachvollziehen lässt.

Gertrud Arndt, Wandbehang in Rottönen, um 1926, 173,5 × 101,5 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin / Foto: Markus Hawlik
Gertrud Arndt, Wandbehang in Rottönen, um 1926, 173,5 × 101,5 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin / Foto: Markus Hawlik

Nach Gründung des Staatlichen Bauhauses Weimar im Jahr 1919 gehörte die Werkstatt für Weberei zu den ersten Klassen, die ihre Arbeit aufnahmen. Die wichtigsten Impulse erhielten die Schülerinnen durch den Unterricht der bildenden Künstler: Bis 1921 war der Vorkurs von Johannes Itten stilprägend, danach lassen sich die bildnerischen Grundlagen von Paul Klee ablesen. Die Grundformen Kreis, Dreieck, Quadrat sowie die Grundfarben bildeten die Basis für die Knüpf- und Webarbeiten. Im Sinne einer neuen ab­strakten Kunst beeinflusste auch der Unterricht Wassily Kandinskys die flächig-konstruktiven Gestaltungen der Textilien.

Bald war die Werkstatt für Weberei professionell organisiert und wirtschaftlich orientiert. Ab 1924 wurden die Produkte auf den Grassi-Messen ausgestellt und Firmenkooperationen vereinbart. Nach der Schließung des Bauhauses in Weimar und der Übersiedlung nach Dessau wurde Gunta Stölzl von Walter Gropius mit der Neueinrichtung der Textilwerkstatt beauftragt.

Gunta Stölzl (1897–1983) gilt heute als bedeutendste Weberin am Bauhaus. Als einzige Frau war sie dort Meisterin und Leiterin einer Werkstatt, die sie mit ihren Lehrmethoden in Ausbildung und Ausrichtung prägte und reformierte. So gelang ihr nicht nur die Entwicklung vom gewebten Einzelstück zum modernen Industrieentwurf – gemäß der Forderung von Gropius „Industrie und Technik eine neue Einheit“ –, sie machte die Textilwerkstatt auch zu einer der finan­ziell erfolgreichsten Werkstätten. Mit ihren Lehrer­kollegen stand sie in engem Austausch, mit Oskar Schlemmer und seiner Familie war sie in Freundschaft verbunden.

Nach ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in München kam Gunta Stölzl bereits 1919 ans Bauhaus, wo sie 1922/23 ihre Gesellenprüfung als Weberin ablegte. Von 1925 bis 1931 leitete sie die Weberei­werkstatt am Bauhaus Dessau. Nach ihrer Emigration führte sie in Zürich eine Handweberei und kehrte erst 1948 mit ihrem Mann nach Deutschland zurück.

Das nun erworbene Konvolut umfasst Fotografien aus ihrer Hand sowie Vintage Prints unterschiedlicher Fotografen aus den Jahren 1919 bis 1930, u. a. von T. Lux Feininger, Lucia Moholy und Judit Kárász, die atmosphärisch das Leben am Bauhaus schildern und Freunde, Kommilitonen und Kollegen wiedergeben. Ein weiterer Schwerpunkt der Fotografien liegt auf der Werkstatt für Weberei. Viele dieser Aufnahmen sind bisher kaum bekannt oder sogar völlig unbekannt. Unter den bedeutenden Dokumenten zur Geschichte der Schule besonders erwähnenswert und für die Forschung äußerst aufschlussreich sind das von Gunta Stölzl ab 1919 geführte Weimarer Tagebuch, das tiefe Einblicke in die wenig dokumentierte Frühzeit des Bauhauses unter Walter Gropius liefert, sowie die Briefe von ihrer damals besten Freundin Elisabeth Chomton-Abegg. Wertvoll und sehr selten sind auch die Briefe und Ansichtskarten von Oskar Schlemmer.

Lucia Moholy, Direktorzimmer von Walter Gropius im Bauhaus Weimar, mit Wandbehang von Else Mögelin, Teppich von Gertrud Arndt, Tischleuchte von Wilhelm Wagenfeld, um 1924 /1925, 17,9 × 12,4 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin
Lucia Moholy, Direktorzimmer von Walter Gropius im Bauhaus Weimar, mit Wandbehang von Else Mögelin, Teppich von Gertrud Arndt, Tischleuchte von Wilhelm Wagenfeld, um 1924 /1925, 17,9 × 12,4 cm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin

Benita Koch-Otte (1892 –1976) gehörte ebenfalls zu den bedeutendsten und prägendsten Textilgestalterinnen des 20. Jahrhunderts. Nach dem Studium am Bauhaus ab 1920 leitete sie von 1925 bis 1933 die Weberei an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale und von 1934 bis 1957 die Weberei an den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel. Am Bauhaus besuchte sie den Vorkurs von Johannes Itten und den Unterricht bei Paul Klee und Wassily Kandinsky, um danach die Ausbildung in Weberei zu absolvieren. Gemeinsam mit Gunta Stölzl modernisierte Koch-Otte die Textilwerkstatt und war mit ihren Webarbeiten schon bald auf den führenden Messen vertreten. Über einhundert Arbeiten auf Papier in Aquarell, Tusche und Bleistift sowie zahlreiche Knüpfproben geben einen Eindruck ihrer künstlerischen Ausbildung am Bauhaus: Vorkursarbeiten aus der Weimarer Bauhauszeit, Entwürfe zu ausgeführten Textilien, Textil­entwürfe und freie Arbeiten sowie Aquarelle aus den Jahren 1921 bis 1930. Zu den Höhepunkten des Teilnachlasses zählen die Entwürfe für die heute verlorenen Teppiche des Direktorenzimmers von Walter Gropius in Weimar sowie für das Büro des Frankfurter Stadtbaudirektors Ernst May. Besonders die freien Arbeiten spiegeln den großen Einfluss der Bildnerischen Formlehre von Paul Klee wider.

Auch Gertrud Arndt (1903 – 2004) war eine der begabtesten Schülerinnen am Bauhaus. Nach der Lehrzeit in einem Architekturbüro wollte sie ab 1923 am Bauhaus Architektur studieren, wurde jedoch nach dem Vorkurs der Textilwerkstatt zugewiesen, wo sie schon bald mit ihren handgeknüpften Teppichen und als Weberin für Streifenstoffe hervortrat. Nach Abschluss ihrer Aus­bildung zog sie mit ihrem Mann Alfred Arndt nach Probstzella und kehrte mit ihm 1929 ans Bauhaus zurück, wo sie sich vor allem als Fotografin betätigte. Ihr umfangreicher Teilnachlass umfasst Arbeiten aus allen Bereichen ihres künstlerischen Schaffens: graphische Blätter aus der Vorbauhauszeit, Skizzen und Zeichnungen aus dem Unterricht bei Paul Klee und Wassily Kandinsky, zahlreiche Textilentwürfe, Webstoffe und Unterrichtsmitschriften aus der Textilwerkstatt, teilweise gemalte und collagierte Korrespondenz mit anderen Bauhäuslern sowie ihr fotografisches Œuvre. Die Skizzen, Zeichnungen und Aquarelle aus dem Unterricht bei Kandinsky und Klee gelten als zentrale Quellen. Besonders Gertrud Arndts Skizzen und Tafeln aus dem Farb- und Form­unterricht Kandinskys in Weimar zählen zu den raren Dokumenten seiner dortigen Lehre. Die Arbeiten aus der Textilwerkstatt umfassen Entwürfe, Arbeitsbögen mit Fadenproben und Berechnungen, Unterrichts­dokumentationen, Stoffproben sowie ausgeführte Textilien. ­Herausragend ist hier der großformatige Wandbehang in Rottönen (um 1926), der mit seiner Farbfrische heute zu den extrem seltenen authentischen Wandbehängen aus der Bauhauszeit gehört. Über den Bauhauskontext hinaus wurde die Künstlerin durch ihre fotografischen Arbeiten bekannt. Hier sind besonders die Vintage Prints ihrer Maskenporträts hervorzuheben, in denen sie sich in wechselnden Kostümierungen, Frisuren und Posen selbst inszenierte. Darüber hinaus liegen Porträts ihrer Kommilitonen sowie Produktaufnahmen vor. Die schöne Reihe der Albumblätter gibt atmosphärisch das Leben am Bauhaus wieder.

Benita Koch-Otte, Stoffproben aus den Jahren 1924 –1926; © v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel / Fotos: Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin
Benita Koch-Otte, Stoffproben aus den Jahren 1924 –1926; © v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel / Fotos: Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin

Über den Kontext der Textilwerkstatt hinaus konnten von den Nachfahren Arndts auch Dokumente und Arbeiten des Architekten Alfred Arndt (1898 – 1976), dem Ehemann von Gertrud Arndt, gesichert werden. Er war einer der wichtigsten Studenten (1921–1927) und Lehrer (1929 –1932) am Bauhaus und blieb zeitlebens dieser Institution und seiner Idee eng verbunden. Noch während seines Studiums erhielt er als freier Architekt den Auftrag für das „Haus des Volkes“ in Probstzella, eines der prominentesten Beispiele des Neuen Bauens in Thüringen. 1929 berief ihn der damalige Direktor Hannes Meyer als Leiter der Ausbauabteilung (Wandmalerei-, Metall- und Möbelwerkstatt) zurück ans Bauhaus. Danach war er von 1932 bis 1945 als Reklamegraphiker und Architekt wieder in Probstzella tätig. Nach Kriegsende wirkte er zunächst als Baurat in Jena und ab 1948 als freier Architekt in Darmstadt. Von Alfred Arndt konnten jetzt zentrale künstlerische Werke, freie zeichnerische, druckgraphische und malerische Arbeiten sowie umfangreiches Material zum Unterricht am Bauhaus und zu seinem werbegraphischen und architektonischen Schaffen, außerdem umfangreiche Dokumente und Manuskripte aus allen Phasen des Bauhauses in das Eigentum des Bauhaus-Archivs übergehen. Als eines der seltenen Gemälde der Bauhauszeit gilt die an De Stijl orientierte „Thüringische Landschaft“ (1925). In seinen freien Zeichnungen und Druckgraphiken sind Impulse aus dem Unterricht Wassily Kandinskys, Paul Klees und Johannes Ittens verarbeitet. Seine Plakate zählen zu den bedeutendsten typographischen Arbeiten des Bau­hauses. Das Konvolut zu Probstzella gehört zu den wenigen erhaltenen Beispielen für die Umsetzung der gesamtkünstlerischen Idee des Bauhauses: Er wirkte nicht nur am Umbau des Hauses mit, sondern auch an der Inneneinrichtung und der Gestaltung der gesamten Geschäftsausstattung, wie durch seine umfangreiche fotografische Dokumentation belegt wird. Die aus dem Haushalt Arndt im Nachlass erhaltenen Kinderstühle und der dazugehörige Tisch von Marcel Breuer aus direkter Bauhausprovenienz bilden weitere Höhepunkte des wertvollen Teilnachlasses.

Das 1960 von Hans Maria Wingler mit Unterstützung durch Walter Gropius gegründete Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung hatte zunächst das Ziel, das weltweit zerstreute Erbe der ehemaligen Bauhäusler zu sammeln und zu bewahren. Durch deren Engagement in Form von Schenkungen und Dauerleihgaben entstand so die international größte Sammlung zum Bauhaus. Durch die jüngste Erwerbung konnten die Teilnachlässe nicht nur dauerhaft für das Haus gesichert und damit die Sammlungs- und Archivbestände ergänzt werden, auch das bedeutende Quellenmaterial kann nun für die Forschung erschlossen werden.

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Wüstenrotstiftung, Rudolf-August Oetker-Stiftung