Georg Flegel: Sanduhr und Südfrüchte

Georg Flegel, Stillleben mit Käse und Kirschen, 1635, 18,3×24,8 cm; Staatsgalerie Stuttgart
Georg Flegel, Stillleben mit Käse und Kirschen, 1635, 18,3×24,8 cm; Staatsgalerie Stuttgart

Die Versuchung, ein Künstlerleben mit Anekdoten zu füllen, ist groß. Vor allem, wenn der Künstler seit Jahrhunderten tot ist und die Archive nicht viel mehr als sein Geburts- und Sterbedatum hergeben. Bei dem 1632 geborenen Johannes Vermeer passiert das immer wieder. Wirklich klüger wird man durch kitschige Hollywoodfilme und fiktive Romane nicht, aber der Künstler wird immer bekannter. Das Leben des 1638 gestorbenen Malers Georg Flegel blieb – bisher – von solchen Versuchen verschont. Er ist heute, was er immer war: Ein bewunderter Stilllebenmaler, den nicht viele beim Namen nennen können. Dieses Schicksal teilt er mit vielen deutschen Künstlern des 17. Jahrhunderts, obwohl er den Titel des ersten deutschen Still­lebenmalers für sich beanspruchen kann.

Man könnte glauben, das hätte ihm großen Ruhm gebracht. Doch in der Stadt Frankfurt am Main, die ihn 1597 als seinen Bürger anerkannte, gibt es keine Straße, keine Schule, die nach ihm benannt wurde. Immerhin besitzt das Städel Museum drei seiner Bilder und wird sie bei seiner Wiedereröffnung Ende des Jahres zusammen mit anderen Stillleben erstmals in einem eigenen Saal präsentieren. Und zum Bestand des Historischen Museums in Frankfurt zählen sogar dreizehn Flegel-Arbeiten.

Wo wenig Überlieferung ist, bleiben viele Rätsel. Flegels Leben und Arbeiten sind voll davon. Das Einzige, was sicher ist, ist die Begeisterung für seine Bilder, die Bewunderung seiner Kompositionen, das Staunen über seine malerischen Fähigkeiten. Diese Begeisterung begann zu seinen Lebzeiten und endete nie. Schon der berühmte Kunsthistoriker Joachim von Sandrart lobte Flegel 40 Jahre nach seinem Tod: „der ein glücklicher Mahler in Nachverfolgung des Lebens, an Obst, Früchten, Fischen, Banqueten, Gläsern, Pocalen und Bechern von allerley Metallen gewesen und alles besonderlich, vernünftig, fleißig und natürlich gemahlt“. Trotz anhaltender Lobpreisungen galten Stillleben lange Zeit als zweitklassige, weniger bedeutende Kunst. Das Schlachtengemälde, das Historienbild und die figurenreiche mythologische Darstellung boten wesentlich mehr Interpretationsmöglichkeiten als die Zusammenstellung köstlicher Speisen und herrlicher Gefäße mit toten Tieren und bunten Blumen. Das hat sich geändert, seit Religion und Mythos nicht mehr zum Allgemeingut gehören und auch die Helden der großen Schlachten nahezu vergessen sind. So richtet sich das Interesse immer mehr auf die Porträtisten, die Stillleben- und die Landschaftsmaler. Denn Alltag ist jedem verständlich. Geschichte und Religion nur dem, der sie kennt. Auch Georg Flegel profitiert von diesem Interesse am Alltäglichen – nicht nur, wenn es um seine Teilnahme an den allgegenwärtigen Stilllebenausstellungen geht. Auch die Deutsche Post konnte sich für Georg Flegel begeistern und gab 2009 in ihrer Serie „Deutsche Malerei“ eine Briefmarke mit dem „Stillleben mit Kirschen“ heraus.

Die Lexikoneinträge sind durch die neue Aufmerksamkeit trotzdem nicht länger geworden. Denn die Spuren, die der Stilllebenmaler hinterließ, bleiben hauchzart. 1566 in Olmütz in Mähren als Sohn eines Schuhmachers geboren, kam Flegel wohl als Schüler der Malerfamilie von Valckenborch erst nach Linz und dann 1593 nach Frankfurt. Da hatte er seine Lehre bei Lucas von Valckenborch abgeschlossen und arbeitete als Staffierer in der großen Valckenborch-Werkstatt. Staffierer wurden Maler genannt, die sich auf bestimmte Sujets besonders gut verstanden. Bei Flegel waren es die Früchte und Tiere, die Blumen und die Gefäße. Valckenborch malte in den damals beliebten Marktszenen den Markt und die Menschen, Flegel fügte die Waren hinzu, Valckenborch malte die Gäste eines Festessens, Flegel malte die Speisen auf glänzenden Platten, die schimmernden Gläser, das Brot, den Blumenschmuck. Schon hier sind Flegels Stillleben-Anteile von besonderer Vielfalt und Eigenständigkeit. So blieb es, als er in Frankfurt seine eigene Werkstatt eröffnete und nur noch Stillleben malte.

Die ältere Kunstwissenschaft, die in Stillleben allzu gern eine zweite Interpretations- und Bedeutungsebene findet, ist nicht ganz glücklich mit Georg Flegel. Die beliebte Suche nach Vanitasmotiven endet allzu schnell bei ein paar Verfallsmotiven, die Interpretation von Brot und Wein als Symbole für das letzte Abendmahl führt ebenfalls nicht zu einer eindeutig religiösen Aussage. Jochen Sander, stellvertretender Direktor des Städel Museums, spricht von so etwas wie einem „Grundrauschen der Zeit“, das die Bilder begleite. „Es gab eine grundlegende religiöse Weltsicht“, sagt Sander. Zu der gehörte eine Abkehr von der Völlerei und eine Hinwendung zur kultivierten Esskultur, die einen Wech­sel „fetter“ und „magerer“ Tage einschloss.

Für den heutigen Betrachter macht die Abwesenheit eines deutlich philosophisch-religiösen Konzeptes den Reiz dieser Bilder aus. Er ist begeistert von der äußerst feinen Zeichnung der Blumen und Tiere, von der genauen, geradezu haptischen Darstellung der Ober­flächen, der einfachen, wirkungsvollen Anordnung der Gefäße und Nahrungsmittel, von der genauen Wiedergabe der Tiere und Pflanzen. Und natürlich vom Licht, das Flegel ebenso dramatisch als Kerzenschein malen konnte, wie er es als sanften, freundlichen Schimmer über die Dinge gleiten lässt.

Doch egal welches Licht er malte: Die Dinge werden bis ins Detail präzise gezeichnet. Schon die Zeitgenossen rühmten ihn dafür. In einem Amster­damer Katalog hieß es über die Flegelschen Bilder: „Was soll ich Flegels Lampen und Kerzenlichtdarstellungen preisen/als stumme Bilder werden sie das Urteil sprechen/kein Ding ist hier anders dargestellt als es aussieht.“ Georg Flegel hatte ganz offensichtlich durchs Mikroskop geguckt, das damals die Menschen begeisterte, und er arbeitete mit Lupen, um seine Objekte genau sehen zu können. Das merken auch die Graphiker, die heute von den Gemälden Postkarten für die Museumsshops herstellen. So ein Flegel-Vogel, der aus einem Gemälde heraus vergrößert wird, wirkt noch immer perfekt.

Als 2003 die Flegelschen Aquarelle aus dem Ber­liner Kupferstichkabinett ausgestellt wurden, erreichte die Flegel-Begeisterung ihren aktuellen Höhepunkt. Den modernen „white cube“-Sehgewohnheiten der Vereinzelung eines Kunstwerks vor weißem Hintergrund kamen die erhaltenen 80 Studienblätter mit den exakt gezeichneten Blumen und Käfern, den Tieren und Früchten sehr entgegen. Außerdem lässt sich vor Flegel-Zeichnungen endlich einmal wieder herrlich schwärmen vom großen technischen und handwerk­lichen Können eines Künstlers.

Vielleicht gefällt, was Flegel vor 400 Jahren malte, noch heute so gut, weil es weniger dem Prunk huldigt als der bürgerlichen Realität. Das Arrangieren unerreichbar kostbarer Besitztümer tritt hinter das Arrangement alltäglicher Dinge zurück. Zumindest aus heutiger Sicht. Als die Bilder entstanden, waren vor allem Südfrüchte ein unglaublicher Luxus. Eine Zitrone kostete so viel, wie ein Handwerker an einem Tag verdiente. Georg Flegel geht sparsam mit den Luxus­gütern um. Das war offenbar ganz im Sinne seiner vor allem bürgerlichen Kunden, die die Bilder zur Dekoration ihrer Speisezimmer nutzten. Noch heute befindet sich die Hälfte der Stillleben Georg Flegels in Privatbesitz, und manches dieser Bilder hängt an dem Ort, für den es einst geschaffen wurde: im Esszimmer.

Schon im ersten Nachruf auf Georg Flegel heißt es, er sei ein zweiter Apelles und Dürer gewesen. Das Lob wirkt bis heute fort und verdeckt den Menschen Flegel mit dem Künstler Flegel. Sicher, er war ein großer Beobachter und ein exzellenter Zeichner wie Apelles. Ein vielseitiger Unternehmer wie Dürer und vergleichsweise eitel war er nicht. Georg Flegel, der Sohn eines Schuhmachers, blieb auch im reichen Frankfurt ein armer Handwerker. Die Kostbarkeiten wie Südfrüchte, Zuckerwerk, Porzellan und vergoldete Pokale hat er wahrscheinlich auf der Frankfurter Messe gesehen, Gefäße womöglich von seinen Auftraggebern als Modell bekommen. Vielleicht hat er sie auch bei ihnen vor Ort gezeichnet, um sie dann in die Bilder einzufügen. Es wäre zu schön, dafür einen Beleg zu finden, doch bisher fand ihn niemand. Insgesamt 69 Gemälde Flegels sind erhalten geblieben. Das ist für 40 Jahre Malerdasein nicht viel, zumal die meisten Bilder nur klein sind. 69 oder auch ein paar Bilder mehr, die heute verschollen sind, sprechen nicht gerade dafür, das Flegel nur Stillleben malte. Hatte er doch sieben Kinder zu ernähren. Unsere Vorstellung, große Kunst könne nur entstehen, wenn der Künstler ausschließlich Künstler ist, geht meist an der Realität vorbei. Niemand war damals ein Künstler zweiter Klasse, wenn er ein zweites Standbein hatte. Das Malen mag Flegels Hauptbeschäftigung gewesen sein, das Stilllebenmalen war es sicher nicht. Vielmehr hat er wohl eher Geld mit dem Schildermalen verdient. Vielleicht war er auch wie seine Maler-Kollegen nebenbei Kunsthändler, Kaufmann, Tulpenzwiebelspekulant. Spuren in Archiven haben sich nicht erhalten, nur eben der Hinweis, Flegel habe Postkutschen und Wirtshausschilder bemalt. Fest steht dagegen: Als die Bürger von Frankfurt eine einkommensabhängige Strafsteuer bezahlen mussten, zahlte Flegel den niedrigsten Satz wie die meisten einfachen Handwerker.

Das reiche Frankfurt mit seinen beiden jährlichen Messen zog zwar viele Händler an, doch ein freier Kunstmarkt, auf dem Bürger nun Bilder kauften, entwickelte sich gerade erst. Auftragsbilder waren daher wohl die meisten Bilder, denn die Wissenschaft stöhnt noch heute nicht nur über Zuschreibungsprobleme, sondern auch über Probleme bei der Festlegung, wann ein Werk Georg Flegels entstand. Denn es gibt keine eindeutige Entwicklung vom Einfachen zum Aufwendigen. Flegel hat je nach Auftraggeberwunsch gemalt. Signiert hat er, datiert erstmals 1630, also acht Jahre vor seinem Tod. Warum erst dann? Auch dafür gibt es keine überzeugende Erklärung. Marcus Dekiert, Oberkonservator an der Alten Pinakothek in München, würde Flegel gern einige Bilder abschreiben, um sie seinen zwei Söhnen, die ebenfalls Maler waren, oder anderen Werkstattmitarbeitern zuzuschreiben. Zu unterschiedlich sei die Qualität der Bilder. Das scheint plausibel, zumal es keine nachgewiesenen Arbeiten der beiden Söhne gibt, die allerdings jung und noch vor dem Vater starben. Allein Jacob Marrel ist als Flegel-Schüler verbürgt. Er wurde später der Lehrer von Maria Sibylla Merian. „Marrel war ein äußerst qualitätvoller Maler. Da sieht man die hervorragende Ausbildung bei Georg Flegel“, lobt Marcus Dekiert.

Ein einziges Mal zeigt und zeichnet sich Flegel selbst. Auf seinem Selbstporträt mit Stundenglas ist ein alter, bärtiger Mann mit zerfurchter Stirn und großen Augen zu sehen. Im Hintergrund malt er – wie damals üblich – als Zeichen der Vergänglichkeit eine Sanduhr. Aus seiner Sicht war die Sanduhr das richtige Motiv. Aus unserer Sicht ist sie nur eine kleine Koketterie. Denn vergänglich mag das Leben des Malers Georg Flegel gewesen sein. Sein Werk ist es nicht.