Gegen die Wand
Deutlich offenbart die Wandgestaltung im Speisesaal einer Offenburger Kantine den künstlerischen Konflikt, dem sich der Maler Oskar Schlemmer (1888 –1943) unter dem Regime der Nationalsozialisten ausgesetzt sah. Nicht das Medium überrascht: Raumgestaltende Wandbilder durchziehen das gesamte Œuvre des berühmten Bauhauskünstlers. Das Architektur und Malerei, Raum und Fläche vereinende Wandgemälde, dessen Potential er in nichts geringerem sah, als „[d]as große Thema zu gestalten“, entsprach exakt den Anforderungen seiner theoriebetonten Kunst. Hier nun erstaunen aber Sujet und Umsetzung: 1940 malte Schlemmer an die 19 Meter lange Kantinenwand des Maschinenbauunternehmens Martin fünf realistische Landschaftsausschnitte in gedeckten Tönen – zwischen lieblicher Hügellandschaft und bewaldetem Steilhang, einer von Wildtieren belagerten Quelle und der mit Äckern überzogenen Rheinebene deutet nichts auf die radikalen Form- und Farblehren Schlemmers hin, mit denen er sich einst im Bauhaus einen Namen gemacht hatte. Für die Gestaltung der Fresken verriet der Meister der Abstraktion seine künstlerischen Überzeugungen. Die Wand – statt Medium für „das große Thema“ – wurde bloße Folie für Dekorationen.
Doch der ideologiekonforme Stil der vom nahen Schwarzwald inspirierten Gemälde kosteten den überzeugten Avantgardisten Schlemmer, der von 1921 bis 1929 am Staatlichen Bauhaus gelehrt hatte, offenkundig größte Überwindung. Seinem Freund und Förderer Dieter Keller (1909 –1985) schilderte er in einem Brief seine innere Zerrissenheit: „Ich murkse hier mühselig an der Wand herum. […] Dazu die Grundstimmung, dass es doch nicht meine Sache ist, dergleichen zu tun und daß die eigentliche dabei notleidet […] nun empfinde ich diesmal besonders stark aus dem Gleis geworfen zu sein, entwurzelt, fremd einer Sache, in eine Welt eingeklemmt, in der das Beste, was man hat, verschwiegen werden muß […].“ Diese Welt war in der Tat eine beklemmende – und eine völlig veränderte: Innerhalb einer Dekade hatten sich mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten die Bedingungen für moderne Kunst in Deutschland drastisch verschärft, liberal geprägte Künstler wie Oskar Schlemmer sahen sich mehr und mehr in prekäre Arbeits- und Lebensumstände abgedrängt. Spätestens 1930 zog sich die Schlinge der erstarkenden Rechten weiter zu. Die endgültige Machtübernahme der NSDAP in Berlin hatte noch nicht stattgefunden, die Nationalsozialisten verzeichneten jedoch erste regionale Wahlerfolge, allen voran in Thüringen. Von der neuen Landesregierung als Direktor der Kunstlehranstalten in Weimar – dem ehemaligen Bauhaus – eingesetzt, vollzog Parteimitglied Paul Schultze-Naumburg (1869 –1949) einen symbolischen Akt: Er ließ Schlemmers Wandarbeit von 1923 übertünchen, die der Maler – inzwischen an der Staatlichen Kunstakademie in Breslau tätig – in seinen frühen Bauhaustagen für das Treppenhaus des Werkstattgebäudes angefertigt hatte. Grobe Pinselstriche verwandelten nun die bunte Wandkomposition aus ineinander verschachtelten Figuren in eine weiße Einheitsfläche, machten aus dem avantgardistischen Fresko einen Vorboten der anbrandenden Zerstörungswelle rechter Kunstideologie.
Im März 1933 ließ man Schlemmers Retrospektive im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart im vorauseilenden Gehorsam gegenüber den neuen Machthabern umgehend nach Eröffnung schließen. Zwei Monate später entließ man ihn – mittlerweile an den Berliner Vereinigten Staatsschulen tätig – auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ fristlos aus dem Staatsdienst. Aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt und um seine Arbeit gebracht, zog sich Schlemmer mit seiner Frau und den drei Kindern an die Schweizer Grenze zurück. Ohne gesichertes Einkommen trafen die Familie erstmals existenzbedrohende Geldnöte. 1937 wurden zwölf Schlemmer-Werke noch einmal öffentlich gezeigt – verhöhnt als „entartete Kunst“ in der gleichnamigen Ausstellung in München und als Musterbeispiele für das, was Hitler zynischerweise als „Kulturvernichtung“ und „Kulturzerfall“ bezeichnete. Aus den Museen beschlagnahmten die Nazis 50 weitere Arbeiten Schlemmers. International stießen seine Werke weiterhin auf großen Zuspruch: Das Museum of Modern Art in New York gliederte sein berühmtes Gemälde „Bauhaustreppe“ (1932) in die Sammlung ein und zeigte den Künstler – ebenso wie die New Burlington Galleries in London im Jahr 1938 – in verschiedenen Ausstellungen. Gleichzeitig verhinderte jedoch die Kulturpolitik der Nazis, dass der Maler in seiner Heimat von seiner Kunst leben konnte.
Durch die systematische Diffamierung und Marginalisierung war Schlemmer sowohl finanziell als auch emotional schwer belastet. Die Familie zog nun ins schwarzwaldnahe Sehringen um, wo Gemüseanbau und Viehzucht immerhin ein schmales Einkommen einbrachten. Im über 200 km entfernten Stuttgart, Schlemmers Geburtsstadt, vermittelte ihm schließlich sein Künstlerfreund Willi Baumeister eine Anstellung in einem Malergeschäft. Dort führte der ehemalige Bauhaus-Formmeister für Wandmalerei und Bildhauerei nun einfache, unverfängliche Malerarbeiten aus, darunter den Tarnanstrich des Stuttgarter Gaskessels und den Jahreszeitenzyklus für das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Im Oktober 1940 entstanden auch die fünf Schwarzwaldbilder für die Maschinenfabrik Martin (heute Witzig & Frank) in Offenburg. Schlemmer hatte den Auftrag dem Wohlwollen des damaligen Firmengeschäftsführers zu verdanken: Für die offenbar durch die nationalsozialistische Kulturorganisation „Kraft durch Freude“ genehmigten Malerarbeiten heuerte dieser den als „entartet“ geltenden Bauhauskünstler an. Dankbar um den Lohn, unterwarf sich Schlemmer bei der Umsetzung den engen ästhetischen Vorgaben des Auftrags und nahm notgedrungen die (Selbst-)Zensur seiner Kunst in Kauf.
Der aus einer wohlhabenden Verlegerfamilie stammende Dieter Keller, ein Kunstsammler mit Vorliebe für die Moderne, war Schlemmer sehr verbunden und kaufte ihm auch hin und wieder ein Werk ab – darunter die 1932 in Breslau entstandene „Geländerszene“. 1940 lud er den Künstler in sein Haus im Knappenweg 31 in Stuttgart-Vaihingen ein mit dem Auftrag, ein Wandbild für das heimische Wohnzimmer zu gestalten. Im gleichen Jahr also, in dem Schlemmer die Offenburger Kantine dekorierte, gab ihm Keller die Möglichkeit, noch einmal seine Visionen von Form, Farbe und Raum zu verwirklichen: „[I]mmer wenn mir die Gelegenheit gegeben wurde, frei u kompromißlos etwas zu machen, habe ich mich für die Abstraktion entschieden“, schrieb Schlemmer in sein Tagebuch, während er sich in über 70 Vorzeichnungen der endgültigen Komposition annäherte. Im Juli 1940 brachte er schließlich in nur fünf Tagen ein über 10m2 großes, figurativ-abstraktes Gemälde mit dem programmatischen Titel „Familie“ auf die Wand. In seinem monumentalen Werk verdichtete er mit formelhaft reduzierten Mitteln die persönliche Geschichte seiner Auftraggeber, der Eheleute Martha und Dieter Keller, die zu jener Zeit Nachwuchs erwarteten. Vor geometrischen Abstraktionen in pastellenen Grundfarben hob er Silhouetten von Mann, Frau und Kind ab. Den hellen Raumgrund begrenzte er links und rechts – hin zu den seitlich anschließenden Wohnzimmerwänden – durch rätselhafte Gestalten, die das auratische Familienglück im Zentrum dräuend umschließen: Mit einer aus dem Bild schreitenden Figur nahm Schlemmer Bezug auf Keller selbst, dessen Fronteinsatz während der Schwangerschaft seiner Frau unmittelbar bevorstand. Den großen Kopf im Profil habe Schlemmer, so Martha Keller später, als das „Schicksal, wie es uns anschaut“ konzipiert.
Drei Jahre bevor Schlemmer im Alter von 54 Jahren emotional zerrüttet in der Folge einer Erkrankung starb, arbeitete er mit der „Familie“ ein letztes Mal in seinem bevorzugten Medium des Wandgemäldes und begründete seine Entscheidung für die Abstraktion trotzig gerade mit den politischen Umständen: „man sollte es tun, vollends in einer Zeit, die sie [die Abstraktion, Anm. d. Verf.] einem verbietet.“ Doch erst der sichere Raum des Privaten, der buchstäbliche Rückzug ins Innere ermöglichte dem Künstler die Freiheit und Kompromisslosigkeit, seiner eigenen Formenlehre nachzugehen. Die beiden in der Gestaltung so unterschiedlichen Wandarbeiten aus dem Jahr 1940 bezeugen eindringlich den Spagat zwischen Diffamierung und Instrumentalisierung, Fremd- und Selbstzensur, Ablehnung und finanzieller Abhängigkeit, künstlerischer Überzeugung und ideologischer Anpassung, den Künstler wie Oskar Schlemmer unter dem NS-Regime vollführten. Während die Kantinendekoration noch heute an Ort und Stelle zu betrachten ist, durchlebte Schlemmers „Familie“ in den Folgejahren bewegte Zeiten: Im Krieg als einziges Haus der ganzen Straße unbeschädigt, stand das Keller’sche Eigenheim nach Besitzerwechseln Mitte der 1990er-Jahre vor dem Abriss. Die Abnahme der „Familie“ war die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass Schlemmers letztes abstraktes Wandbild ebenfalls das Schicksal der Zerstörung ereilte und so fräste man 1995 die rund 2,5 × 4,5 m große Wohnzimmerwand fast vollständig aus dem Bau heraus. In einen Metallrahmen gefasst und von einem Alugitter rückwärtig gesichert, war das fragile Werk jedoch nur kurz öffentlich zu sehen, bevor es für knapp zwei Jahrzehnte ins Ausland gelangte. Nun glückte die Rückführung der „Familie“ in ihre Heimat Stuttgart: Hier widerfährt der meisterlichen Farb-Form-Komposition jetzt die öffentliche Würdigung, die ihr im Schatten des NS-Regimes vorenthalten blieb.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Museumsstiftung Baden-Württemberg, zahlreiche private und Firmenspenden