Galionsfigur droht Untergang
Nahezu allen Besucherinnen und Besuchern des Altonaer Museums bleibt ein Raum besonders intensiv und nachhaltig in Erinnerung: der Galionsfigurensaal. Das Altonaer Museum befasst sich mit der Kunst- und Kulturgeschichte des norddeutschen Raumes und präsentiert die kulturhistorische Entwicklung der Elbregion um Altona, von Schleswig-Holstein und der Küstengebiete von Nord- und Ostsee. Ohne die Schifffahrt ist die Kulturgeschichte dieser Region nicht denkbar. Im prominentesten Raum des Hauses, im Galionsfigurensaal, sind daher die bedeutendsten Einzelstücke aus den Sammlungen des Altonaer Museums zur maritimen Dekorationskunst versammelt: Aufwendige Tafelaufsätze in Schiffsform aus Silber, Dekorationsobjekte aus Walbarten und Elfenbein, Seemannsarbeiten, Knochenschiffe sowie die Galionsfiguren, die dem Saal seinen Namen geben. Dramatisch von unten angeleuchtet, strahlen die Galionsfiguren vor den dunklen Holzpanelen der Längsseite des ungefähr 30 Meter langen Saales und laden ihn geradezu sakral auf. Nach einem Schiffsuntergang blieb oft allein die Galionsfigur erhalten, die Verkörperung der Seele eines Schiffes, auf die sich Glaube und Aberglaube der Besatzung konzentrierten. Etliche der ausgestellten Figuren sind zur See gefahren und konnten nach dem Untergang des Schiffes geborgen werden.
Den Anlass für die Einrichtung des Raumes bildete 1964 eine Stiftung des Verlegers Axel Springer, die den Erwerb von 18 Galionsfiguren aus dem Kunsthandel ermöglichte. In den Folgejahren konnte der Bestand an historischen Galionsfiguren und an Rekonstruktionen kontinuierlich ausgeweitet werden. Heute ist die Sammlung, die Figuren vom 17. bis zum 19. Jahrhundert umfasst, in Deutschland einzigartig. Nach dem Vorbild des National Maritime Museum in Greenwich mit der weltweit größten Galionsfigurensammlung entschied man sich für eine nach damaligen Maßstäben ausgesprochen dramatische Inszenierung. Die zumeist bunt gefassten Figuren stehen auf schmalen Sockeln, die den Schwung eines Schiffsbugs aufnehmen und ungefähr auf Brusthöhe der Besucher enden. So scheinen die Bildwerke wie an einem realen Schiff über den Köpfen der Betrachter zu schweben. Im Zentrum der Reihe steht ein originalgroßer Nachbau einer Galion aus dem 18. Jahrhundert, der von einer Figur gekrönt wird, die den Kriegsgott Ares darstellt.
Sehr selten sind Doppelfiguren wie das „Geschwisterpaar“, das auf einem kleinen Podest – einer sogenannten Krulle – steht. Ein Mädchen und ein Knabe in spätbiedermeierlicher Kleidung fassen sich an den Händen und scheinen sich gegen den Wind zu stemmen. Die Bemalung hat sich nicht erhalten, jedoch lassen die sorgfältige Ausarbeitung von Falten und anderen Details der Kleidung auf die Anfertigung durch einen Spezialisten schließen. Laut mündlicher Überlieferung soll das in der Mitte des 19. Jahrhunderts gefertigte Schnitzwerk aus Pitchpineholz – ein besonders hartes hochwertiges rot-gelbes Nadelholz aus dem Südwesten der USA – eine amerikanische Bark geziert haben, die in der Elbe strandete. Nachgewiesen ist jedoch, dass die Figurengruppe vor 1906 als Dekoration der Fassade der Renkschen Werft in Harburg diente. Nach dem Konkurs der Werft 1953 wurde die Galionsfigur unter Denkmalschutz gestellt und versteigert. Die Witwe des damaligen Käufers schenkte sie 1969 dem Altonaer Museum, wo sie seitdem eines der wichtigsten Stücke im Galionsfigurensaal bildet.
Leider hat sich der konservatorische Zustand des Objektes inzwischen derart verschlechtert, dass es seit 2013 nicht mehr ausgestellt werden kann. Die 1969 angebrachte Befestigung hat zu einer so tiefen und flächendeckenden Rissbildung im Sockelbereich geführt, dass die Figur in ihrer Substanz gefährdet ist. Im Rahmen einer umfangreichen Restaurierungsmaßnahme sollen das Holz stabilisiert und die Risse und Ausbrüche geschlossen werden. Außerdem muss eine statisch geeignetere Aufhängung entwickelt und individuell gefertigt werden. Mit Hilfe der Arsprototo-Leser hoffen wir, das „Geschwisterpaar“ als eines der wichtigsten Exponate im Galionsfigurensaal der Öffentlichkeit wieder präsentieren zu können.