Erbachs Erbe

Oktober 2005, Schloss Marienburg: Die „Welt“ wähnte sich wie auf einer Art „Edelflohmarkt“: Ritterrüstungen, Porzellane, Waffen, Möbel und Ahnenporträts dicht an dicht, wie in einer Verkaufsaufstellung präsentiert. Sehnsüchtig schienen die vielen Objekte auf neue Eigentümer zu warten in den 130 Zimmern und Salons. Auf jemanden, der sie vor dem Zerfall, der Zerstörung oder vor dem Versinken in Staub rettet. Auch aus den Kellern und von Dachböden wurden die Kostbarkeiten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zusammengetragen: Alles muss raus – vom Ahnenbildnis bis zum abgestoßenen Fauteuil. Noch nicht lange ist es her, dass in den Flussauen der Leine dieses Kulturdenkmal ausverkauft wurde. Das Auktionshaus Sotheby’s brachte auf Schloss Marienburg bei Hannover die Kunstschätze und Kulturgüter der Welfen unter den Hammer – im Auftrag der Söhne von Herzog Ernst-August von Hannover, die damit eine Stiftung zur Rettung der Schlossimmobilien finanzieren wollten.

Was so manchem damals als cleverer Coup der Schloss­eigentümer erschien, entsetzte die meisten Denkmalschützer und Kulturfreunde. Es gilt als Fanal, dass es der öffentlichen Hand damals nicht gelang, den Verkauf dieses Ensembles von Kunstwerken und Kulturgütern eines der ältesten noch existierenden Hochadelsgeschlechter zu verhindern. Aus ihrem kulturhistorischen Gesamtkontext wurden die beziehungsreichen Objekte entfernt und somit jede weitere Präsentation oder wissenschaftliche Untersuchung des Ensemblecharakters unmöglich. Vom „Ausverkauf des kulturellen Erbes“ und dem „Verkauf der Geschichte Niedersachsens“ war zu lesen. Am Ende stand ein Umsatz von 44 Millionen Euro, dem Dreifachen des Schätzwerts der Auktion.

Eine Blaupause für dieses Vorgehen hatte zuvor bereits das Haus Baden geliefert: Auch der Markgraf trennte sich von Möbeln, Kunstwerken und von der wertvollen Kunstkammer. Objekte aus Silber, Gold, Elfenbein und Bronze kamen 1995 zur Versteigerung, um die Verschuldung der Markgräflichen Badischen Hauptverwaltung auszugleichen. Am Ende war das Neue Schloss auf dem Florentinerberg in Baden-Baden leergefegt, die Kunstschätze des Hauses Baden, 1919 aus anderen Schlössern dort zusammengefasst, verloren. Das Land Baden-Württemberg konnte 2007 unter öffentlichem Druck durch eine Einigung wenigstens verhindern, dass auch wertvolle Leihgaben aus der Badischen Landesbibliothek zum Verkauf abgezogen wurden.

Eine vergleichbare Zerteilung wollten die politisch Verantwortlichen im hessischen Erbach von vornherein verhindern: Das in seiner heutigen Form im 18. Jahrhundert unter Einbeziehung der Vorgängerbauten entstandene Schloss ist der Stammsitz der Grafen von Erbach. Gegen Widerstand der Opposition, trotz Haushaltssperre und unter Protest des Steuerzahlerbundes entschied man sich 2005, das Schloss und den Großteil der gräflichen Sammlung mit Waffen, Jagdtrophäen, Antiken, Porzellanen samt einer weitgehend erhaltenen Innenausstattung der Salons und Säle für 13,3 Millionen Euro in öffentliches Eigentum zu übernehmen. Der Ensemblecharakter von Schloss Erbach erschien schützenswert, da sich bis auf die Bibliothek die historischen Bestände weitgehend erhalten hatten. Unlängst konnten mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und weiterer Förderer schließlich auch die im Eigentum der Familie verbliebenen Gemälde der Ahnengalerie und die ausführlichen Kataloge der Sammlungen gesichert werden. Wichtig nicht zuletzt deshalb, weil der sogenannte Oraniersaal bis heute für die Besucher eine Überraschung bereithält: Hier sind dreizehn Barockbildnisse von Mitgliedern des Hauses Oranien-Nassau zu sehen, die durch Eheschließungen im 17. Jahrhundert ihren Weg nach Erbach fanden. Darunter befinden sich Meisterwerke u. a. der bedeutenden Maler Anthonis van Dyck und Gerard von Honthorst.

Muss die öffentliche Hand verhindern, dass solche Sammlungen zerrissen werden? Können sie vor dem Verkauf ins Ausland geschützt werden, etwa durch die Eintragung in die Liste national wertvollen Kulturguts, wie geschehen in Erbach? Müssen die Länder sich dann für die Finanzierung einer Erwerbung einsetzen? Wie können hohe Ankaufssummen vor der Öffentlichkeit legitimiert werden? Immer wieder stehen die Landesregierungen vor der schwierigen Entscheidung: Sollen adlige Sammlungen, insbesondere auch in ihrem ursprünglichen Kontext, erhalten werden? Verbunden sind damit meist erhebliche Investitionen in Bauwerk und Präsentation. Virulent wurde das Thema auch im Nachgang der deutschen Wiedervereinigung: Im Zusammenhang mit Restitutionen an die in der sowjetischen Besatzungszone enteigneten Eigentümer in Ostdeutschland waren etliche, auch in Museen übernommene Bestände aus Sammlungen des Adels betroffen. Nach über zehn Jahren Verhandlungen zwischen Land und Erbengemeinschaft wurden beispielsweise über 250 Objekte der „Sammlung Herzogliches Haus Mecklenburg-Schwerin“ für Schloss Ludwigslust erhalten. Auf Schloss Burgk an der Saale in Thüringen gab es eine Einigung mit den Nachfahren: Dort kann der überwiegende Teil der wertvollen, seit dem Mittelalter gewachsenen Innenausstattung weiter besichtigt werden. Die Kulturstiftung der Länder hatte in beiden Fällen maßgeblich die Verhandlungen moderiert.

„Eine Erhaltung im entsprechenden Kontext ist für einen großen Teil von Objekten die einzige Möglichkeit, da ihre Bedeutung und ihre Aussagekraft in der Vereinzelung kaum noch erkannt werden und den Einzelobjekten oft kein großer Wert zugeschrieben wird. Gleichzeitig stehen die Masse derartiger Bestände und deren Heterogenität häufig einer musealen Erhaltung im Weg“, erklärt Ulrike Sbresny, die zur Bedeutung von Adelssammlungen promoviert hat. „Die Bedeutung derartiger Sammlungen liegt aus meiner Sicht in den zahlreichen ihnen eingeschriebenen Bindungen zwischen Menschen und Objekten sowie zwischen den Objekten untereinander.“

Doch was sind beliebige „Ansammlungen“, was landes­geschichtlich wertvolles Kulturgut? „Nur im Ausnahmefall ist bekannt (oder gar von der Denkmalpflege inventarisiert), was sich in den zahlreichen Schlössern und Gutshäusern, die sich noch in adligem Besitz befinden, an Kulturgut erhalten hat. Unendlich viele Stücke versickern ohne Provenienzangabe im Kunsthandel und scheiden für eine kunstsoziologische Analyse, die ihren ‚Sitz im adligen Leben‘ in den Blick nimmt, somit aus“, beklagte der Historiker Klaus Graf bereits 2005 anlässlich der Ausstellung zu aristokratischen Sammlungen „Schatzhäuser Deutschlands“ im Münchner Haus der Kunst. Graf attackierte dabei auch den „Pretiosen-Fetischismus“ von Museen, der sich nur an „‚Spitzenwerken‘ und Erstklassigem orientiert“.

Graf plädiert dafür, die Geschichte des adligen Sammelns einzubetten in die Konjunkturen der damaligen Erinnerungskultur, also auch die Zusammenhänge mit bürgerlichen Sammlungen zu untersuchen. Jagdtrophäen seien beispielsweise mit in die wissenschaftliche Betrachtung zu nehmen, und der Historiker macht auf die Ausdifferenzierung innerhalb des Adels aufmerksam. Ahnengalerien hält Graf als Teil der ursprünglichen Ausstattung der Schlösser auch aus Denkmalschutzgründen für bewahrenswert. Die Wissenschaft schließlich solle sich weit mehr als bisher in die Diskussion um das aristokratische Kulturerbe einmischen, konstatierte Graf angesichts des wiederholten Ausverkaufs des Hochadels.

Im Odenwald gibt es zum Glück Erbgraf Franz I. von Erbach-Erbach (1754 – 1823): Er ist der Superstar der Familiengeschichte, verkörperter Garant gegen jeden Zweifel an der landesgeschichtlichen Relevanz von Schloss und Sammlung. Gebildet, weltoffen, den Ideen der Aufklärung zugewandt, wird er die kleine Grafschaft mit Europa vernetzen. Er wird sein bescheidenes Reich aus den Schulden führen, wirtschaftliche Reformen durchsetzen. Zugleich baut er eine der bedeutendsten privaten Antikensammlungen seiner Zeit auf, förderte die Bildung seiner Landsleute, initiiert gar erste Ausgrabungen, um den römischen Schutzwall Limes zu erforschen. Denn bei seinen Besuchen in Neapel und Pompeji war Graf Franz die immense kulturpoli­tische Bedeutung von systematischen Ausgrabungen vor Augen geführt worden.

Als junger Mann hatte Franz sehr zum Ärger seiner verwitweten Mutter aber zunächst keine große Lust auf das Regieren, sondern machte seine erste Grand Tour, die beliebte Bildungsreise der geistig-sozialen Eliten mit dem Ziel Ewige Stadt. Die Antike zu studieren anstatt zu regieren, Intellektuelle und Künstler kennenzulernen statt Bauern und Bittsteller zu empfangen, Rom und seine weltberühmten Kulturorte in der gleißenden Sonne zu genießen statt im Nebel des Odenwalds Hirsche zu erlegen: Für den jungen Franz war Vasen-Shopping in Neapel erst einmal attraktiver als sich im heimischen Erbach über die leere Staatskasse zu ärgern.

Als Schlüsselfigur gilt sein Erzieher, ein Mann mit bestem Ruf: Christian Friedrich Freund von Sternfeld (1730 – 1803), angelockt von der Grafen-Mutter mit trickreichen Versprechungen. Englisch, Französisch, Italienisch lernt der Erbgraf bei ihm. Bei anderen Schulmeistern Geschichte, Latein, Diplomatie, Genealogie, Münz- und Wappenkunde. Mit 15 Jahren geht es zum Studium nach Straßburg, u. a. Staats- und Altertumswissenschaften beim Goethe-Lehrer Johann Daniel Schöpflin (1694 – 1771) stehen auf dem Curriculum. Franz besucht Voltaire und trifft Jean-Jacques Rousseau. Sein Lehrer Freund von Sternfeld, Anhänger staatsreformerischer Ideen, sorgte dafür, dass Franz während eines neunmonatigen Besuchs in Paris 1772/73 mit zahlreichen Intellektuellen der Aufklärung zusammentraf, so etwa mit Denis Diderot, mit dem er für einige Tage nach Amsterdam reiste. Der Marquis de Mirabeau beeinflusste mit seinen neuen staatstheoretischen Vorstellungen die später von Franz angestoßenen Reformen in der heimischen Grafschaft.

Von der ungeduldigen Mutter nach Erbach zurückbeordert, trat Franz I. 1775 die Regierung an, begann beherzt mit Reformen in der stark verschuldeten Grafschaft durch die Förderung der Landwirtschaft und mit Sparprogrammen. Neu ausgebaute Handelswege belebten die Wirtschaft, flankiert von weiteren Maßnahmen zur Freizügigkeit und erleichterten Zollabwicklungen. Das regionale Handwerk kurbelte er durch die Ansiedlung von neuen Technologien an, eine eigene Sparkasse ermöglichte Kredite jenseits des Kapitalmarkts. Auch in der Bildungspolitik bewies Franz Weitsicht, hob die Besoldung der Lehrer an und gründete zahlreiche Schulen neu.

Viele seiner Bekanntschaften aus Kultur und aufgeklärter Geisteswelt traf Graf Franz später bei einer zweiten großen Reise wieder, zu der er bald aufbrach. Museumsleiter, Politiker und einflussreiche Sammler wurden zu wichtigen Freunden und Beratern, vom Antikenboom-Initiator Sir William Hamilton bis hin zum Goethe- und Herder-Cicerone, dem Kunstagenten Johann Friedrich Reiffenstein (1719 – 1793). Mit ihrer Unterstützung begann Franz, systematisch und mit wissenschaftlichem Anspruch zu sammeln und die Innenausstattung des Schlosses zu gestalten. Sein Interesse galt, neben der Antikenbegeisterung, insbesondere auch den historischen Geweihen, damals ein den Antiken und der Kunst ebenbürtiges Sammlungsgebiet. 500 außergewöhnlich starke Reh- und 155 abnorme Hirschgehörne, für die er sogar aus tschechischen Sammlungen ankauft, kamen so nach Erbach. Franz gestaltete den Stammsitz der Familie zu einem Gesamtkunstwerk um, von der Tapisserie bis zum Besucher-Hocker folgt alles seinem bis ins Detail ausgetüftelten Plan, den Blick geschult durch seine Reisen durch Europa. Von klassizistischen Stuckdekorationen, exquisiten Seidentapeten bis zu feinsten Möbeln nach antikem Vorbild: Die Hadriansvilla in Tivoli steht Pate oder besichtigte europäische Höfe, aber auch die kurfürstliche Antikensammlung im nahen Mannheim.

Erfahrene Ausgräber und Kunsthändler unterstützten Franz bei seinen ersten Ankäufen für die geplante Antikensammlung: Mit drei Statuen und 31 Büsten, etruskischen und unteritalienischen Vasen, Bronzen und Münzen der Kaiserzeit kehrte die Reisegesellschaft von der zweiten Grand Tour zurück. Drei sogenannte Römerzimmer entstanden in Erbach nach Entwürfen des mitreisenden Hofarchitekten und Malers Johann Wilhelm Wendt (1747 – 1815). Auch den Rittersaal lässt Franz von Wendt gestalten, über zwei Geschosshöhen eingebaut, überwölbt von einem der ersten in Europa bekannten neugotischen Stern­rippengewölbe: Die Sammlung, die Franz hier ausstellte, zählt zu den bedeutendsten Deutschlands und zeigt u. a. historische Waffen, Sättel der Renaissance und Rüstungen von Franz von Sickingen und Gustav Adolf von Schweden.

Franz I. setzte sich mit seinem komplexen Gestaltungswillen jedenfalls von der breiten Masse des Adels ab, wie sie sein Zeitgenosse Goethe verspottete: „Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.” Ganz im Gegenteil, Adelssammlungs-Experte Klaus Graf schätzt die Bedeutung von Franz I. hoch ein: „Er war einer der berühmtesten Antikensammler des späten 18. Jahrhunderts und gilt als Pionier der provinzialrömischen Archäologie.“ Dass Franz I. kein, wie noch bis Anfang 2000 teilweise angenommen, laienhafter Antikenschwärmer war, belegte mittlerweile auch ein Forschungsprojekt. Dabei konnte man u. a. auf das mehr als 2.000 Seiten umfassende, vielbändige Katalogwerk zurückgreifen, das Franz I. selbst zu sämtlichen Artefakten seiner Sammlung anfertigte. Den „außerordentlich kenntnisreichen, nicht selten sogar ausgesprochen wissenschaftlichen Umgang mit seinen Antiken“ stellte dabei die Archäologin Caterina Maderna fest. Anlässlich des 200. Todesjahres von Graf Franz soll 2023 eine Fachtagung die Bedeutung der Sammlungen und deren Rezeption untersuchen, um die Grundlagen für die spätere Neukonzeption von Schloss Erbach und die möglichen Vermittlungsebenen zu erarbeiten und auszuloten.

Die Nachfahren von Graf Franz nahmen im Schloss in den folgenden Generationen noch diverse Umgestaltungen vor, vielfach sind diese ausführlich dokumentiert worden. Somit werden heute beim Besuch auf Schloss Erbach vier Jahrhunderte aristokratischen Lebens in allen Details erlebbar. Mit der nun abgeschlossen vollständigen Erwerbung dieses Ensembles wird aus einer bedeutenden privaten Kollektion ein nationales, öffent­liches Kulturerbe.

Leo Seidel war Schüler von Roger Melis am Lette Verein. Er lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin, sein Spezialgebiet sind europäische Schlösser und Gärten.