Here We Are!

Jeden letzten Sonntag im Monat sollen sie kommen. Mit Kreide bewaffnet und einem Namen im Gepäck. Namen von Kolleginnen aus allen Jahrhunderten bis heute. Je mehr Künstlerinnen kommen, um die Granitplatten des weitläufigen Platzes vor der Berliner Gemäldegalerie zu beschriften, desto besser. Ausgehend von einer Performance zum Weltfrauentag am 8. März 2021 möchte die regelmäßige Aktion des Bündnisses „Fair Share. Sichtbarkeit für Künstlerinnen“ auf diese Weise ­weibliche Kunstschaffende dazu ermutigen, miteinander ins Gespräch zu kommen, Netzwerke zu bilden und gemeinsam der Forderung nach mehr Präsenz von Künstlerinnen im Kunstbetrieb Ausdruck zu verleihen. Nicht nur das Publikum der anliegenden Ausstellungshäuser stößt so – zumindest bis zum nächsten kräftigen Regenschauer – auf das Namenmeer aus bekannten und weniger bekannten Malerinnen, Bildhauerinnen, Aktions-Künstlerinnen, Grafikerinnen, Fotografinnen oder Gestalterinnen, die aus Sicht des Bündnisses „Fair Share“ insgesamt noch immer viel zu selten in Museen gezeigt werden. Fotos auf der Webseite des Bündnisses und in den sozialen Netzwerken halten jene Momente fest und lassen die Namen der Künstlerinnen auch dort sichtbar werden.

Einer der zahlreichen Namen, die einem auf den Fotos von den beschrifteten Granitplatten begegnen, ist Zaha Hadid (1950–2016). Die international erfolgreiche Architektin und Designerin prägte mit ihren Entwürfen wie für das MAXXI ­Museum in Rom, das Heydar Aliyev Center in Baku, das Dongdaemun Design Plaza in Seoul, das London Aquatics Centre oder das Science-Center in Wolfsburg die Architekturlandschaft. Neben Bauwerken gestaltete Hadid auch immer wieder Möbel wie den 2007 entworfenen Mesa Table mit seiner unverkennbar organischen und futuristischen Form, die wie aus einem Guss gestaltet zu sein scheint.

Und so liegt es nahe, dass das Vitra Design Museum die vielfach ausgezeichnete Designerin mit diesem prominenten Stück als eine von insgesamt 80 Protagonistinnen im Rahmen der Ausstellung „Here We Are! Frauen im Design 1900 – heute“ vorstellt. Ausgehend von der eigenen Sammlung will die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Schau in Weil am Rhein den Beitrag von Frauen zur Entwicklung des Designs der letzten 120 Jahre würdigen und einen anderen Blick auf den überwiegend männlich dominierten Kanon dieser Disziplin werfen. So dürften vermutlich alle, die auch nur ein kleines Faible für Interieur und Produktdesign haben, sofort ein Bild von dem entsprechenden Sessel, Stuhl oder der entsprechenden Lampe vor Augen haben, wenn sie Namen wie Arne Jacobsen, Le ­Corbusier, Michael Thonet oder Wilhelm Wagenfeld hören. Doch wie steht es um Jeanne Toussaint, die 1958 für Cartier das Pantherarmband entwarf? Oder Clara Porset, die mit ihrem Butaque Stuhl Ende der 1940er-Jahre einen Designklassiker entwarf, der seitdem vielfach kopiert und imitiert wurde? Auch die 1962 ursprünglich für Kinder konzipierten Hocker aus der Trissen Serie von Nanna Ditzel lassen sich heute noch in zahlreichen ­Wohnungen finden. Das Vitra Design Museum räumt ihnen und ihren Kolleginnen einen gebührenden Platz in der Ausstellung ein und möchte so eine Standortbestimmung zu einem gesellschaftlich hochaktuellen Thema liefern.

Doch könnte man nicht meinen, dass es so etwas gar nicht (mehr) braucht: Ausstellungen, die ihren Fokus ausschließlich auf die Arbeiten von Künstlerinnen legen? Sind Künstlerinnen im Kunstbetrieb wirklich noch immer unterrepräsentiert? ­Benötigt es tatsächlich Initiativen wie das oben genannte Aktionsbündnis „Fair share. Sichtbarkeit für Künstlerinnen“ und vergleichbare Projekte und Förderprogramme? Verschiedene Studien der vergangenen Jahre belegen, dass die Mühlen zwar mahlen, aber – wie so oft – nur sehr, sehr langsam. Während in den Bereichen Kunst und Design Frauen noch immer den Hauptanteil der Studierenden ausmachen, verlagert sich diese Gewichtung schlagartig, sobald es um die Präsenz von Künstlerinnen auf dem Markt, in Ausstellungen und in der Presse geht. Von 1619 Einzelausstellungen in großen Museen im Zeitraum der Jahre 2000 bis 2020 waren nur 20,32 Prozent weiblichen Kunstschaffenden gewidmet. Auf Kunstauktionen erzielten Künstler in den vergangenen Jahren noch immer weitaus höhere Preise als ihre Kolleginnen. Nur zwei Prozent der Gesamtsumme, die 2008 bis 2019 weltweit auf Auktionen umgesetzt wurde, entfielen auf Frauen.

Im Vorfeld der Ausstellung hat sich das Vitra Design Museum selbstkritisch mit seiner Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte auseinandergesetzt. Die drei Kuratorinnen Susanne Graner, Viviane Stappmanns und Nina Steinmüller hatten den rund 20.000 Objekte umfassenden Bestand des Museums gründlich durchforstet und mussten dabei selbst feststellen, dass einige der dort vertretenen Designerinnen bislang noch nie ausgestellt wurden, noch kaum erforscht oder überhaupt bekannt sind. Doch welche Gründe, welche Umstände führten dazu, dass die Karrieren der Designerinnen so gänzlich anders verliefen als die ihrer Kollegen? Dass sie in Vergessenheit gerieten, ihre Entwürfe, aber nicht ihre Biografien bekannt sind? Welche Ausbildungsmöglichkeiten hatten sie? Mit diesen Fragen im Hinterkopf konzipierte das Kuratorinnen-Team die chronologisch gegliederte und in verschiedene Themenbereiche unterteilte Schau und bettete die Präsentation der Objekte und Persönlichkeiten in den Kontext des Kampfes um Gleichberechtigung in Gesellschaft und Design von 1900 bis heute ein. So spannt die Ausstellung einen historischen Bogen von der Suffragetten-Bewegung um die Jahrhundertwende über die zweite feministische Welle ab den 1960er-Jahren bis hin zum Genderdiskurs der Gegenwart – und dies stets vor dem Hintergrund der jeweiligen Auswirkungen auf das Design. Dabei lernt das Publikum außergewöhnliche und bislang weniger bekannte Persönlichkeiten kennen wie die Sozialreformerin Louise Brigham (1875–1956). Die Amerikanerin brachte 1909 das Buch „Box Furniture: How to Make a Hundred Useful Articles for the Home“ heraus, das anhand verständlicher Anleitungen zeigen sollte, wie man ganze Wohnungen mit selbstgebauten Möbeln aus damals standardisiert verfügbaren Holzkisten kostengünstig einrichten kann. Aber auch prominentere Designerinnen wie Eileen Gray (1878–1976), zu deren bekanntesten Entwürfen der Tisch E.1027 gehört, oder Aino Aalto (1894–1949) und ihre zeitlosen Glasentwürfe für die finnische Firma Iittala werden den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung vorgestellt.

Doch wo stehen die Designerinnen heute? Welche ­Themen beschäftigen und welche setzen sie? Auch auf diese Fragen versucht die Ausstellung in dem vom Architekten Frank Gehry entworfenen, charakteristischen Hauptgebäude Antworten zu finden und führt das Publikum am Ende des chronologischen Überblicks zu Arbeiten etablierter zeitgenössischer Gestalterinnen und Künstlerinnenkollektive, darunter das niederländische Duo „Atelier NL“, das sich mit dem Ton- und Sandvorkommen der eigenen Region auseinandersetzt und die Rohstoffe der Natur in seinen Werken einbindet. Dieser Aspekt findet sich auch bei dem Werk der deutschen Designerin und Künstlerin Julia Lohmann wieder, die das Potenzial von Seetang als Designmaterial erforscht und großformatige Skulpturen, aber auch Möbel daraus gestaltet. Der abschließende Themenbereich der Ausstellung macht nicht nur deutlich, dass Designerinnen heute genauso erfolgreich und selbstverständlich Studios wie ihre männlichen Kollegen führen, sondern zeigt exemplarisch, wie diese in den letzten Jahren zu einer Erweiterung des Designbegriffs beitrugen.

Mit der Entstehung des Designs als eigenständige Disziplin um 1900 handelt es sich, anders als zum Beispiel bei der Malerei oder der Architektur, um ein noch vergleichsweise junges Fach. Vielleicht liegt genau hier die Chance, den Blick zu weiten, Ausstellungs- und Sammlungstätigkeiten kritisch zu beleuchten und einen bislang vorrangig männlich dominierten Kanon aufzubrechen. Die Ausstellung „Here We Are! Frauen im Design 1900 – heute“ hat diese Chance ergriffen und lässt die Geschichte des Designs der vergangenen 120 Jahre in einem vielseitigeren, breit gefächerten und neuen Licht erscheinen, während sie ein themenreiches, dynamisches und reflektiertes Bild der Zukunft zeichnet.