Ein Löwe für den Löwen

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Besucher kommen und gehen, strömen zum Ticket­schalter oder ins nahe gelegene Café im seit­lichen Gebäudeteil mit Blick auf den Kupfergraben – es herrscht rege Betriebsamkeit in der James-Simon-Galerie, dem neuen zentralen Eingangsgebäude zu den Schätzen der Museumsinsel Berlin.

Verhältnismäßig wenige Besucher halten jedoch länger vor dem etwas überlebensgroßen Löwen aus hellem Kalkstein inne, der an prominenter Stelle in der Eingangshalle platziert ist, so friedvoll und bescheiden präsentiert er sich: der „Liegende Löwe“ des Bildhauers, Bronzegießers und Medailleurs August Gaul (1869 –1921). Und doch gibt dieser sanfte Riese, der einst dem deutsch-jüdischen Selfmade-Millionär und berühmten Verleger des liberalen „Berliner Tageblatts“ Rudolf Mosse (1843 –1920) gehörte, in mehrfacher Hinsicht zum Innehalten Anlass.

Denn Rudolf Mosse, der den „Liegenden Löwen“ um 1902 mittels des Kunsthändlers, Verlegers und Galeristen Paul Cassirer bei August Gaul in Auftrag gab und dessen umfangreiche Kunstsammlung Opfer des nationalsozialistischen Raubzugs seit 1933 wurde, gehörte  gemeinsam  mit  James  Simon  und  Eduard Arnhold zu den bedeutendsten jüdischen Kunstsammlern, Mäzenen und Stiftern Berlins um 1900.

Glücklicherweise markierte der Raub im Falle des „Liegenden Löwen“ nicht den tragischen Schlussakkord. Vielmehr konnte die Skulptur, die 1949 zunächst zur Verwahrung in die Bestände der Alten Nationalgalerie (Berlin-Ost) gelangt und mit der Wiedervereinigung in das Inventar der Staatlichen Museen übergegangen war, 2015 an die Erben von Rudolf und Emilie Mosse restituiert und 2016 mit Hilfe der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und mittels der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz rechtmäßig zurück­erworben werden.

Im März 2017 startete zudem die „Mosse Art Research Initiative“ (MARI). Hierbei handelt es sich um ein Pilotprojekt, das von der Kulturstiftung der Länder und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz initiiert wurde. Gemeinsam von den Mosse-Erben und der Freien Universität Berlin ins Leben gerufen, bemüht sich die Initiative im Verbund mit weiteren Museen und Archiven um die Rekonstruktion der Sammlung und die Identifizierung und Lokalisierung der Kunstwerke. Der „Liegende Löwe“ ist nach der „Susanna“ von Reinhold Begas bereits das zweite Kunstwerk, das restituiert und für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz regulär erworben werden konnte. Daneben konnten bisher sechs weitere Kunstwerke in den Museen der Stiftung als Bestandteil der ehemaligen Kunstsammlung Mosse identifiziert werden, die vorerst als Leihgaben in Berlin verbleiben dürfen.

An all dies soll der „Liegende Löwe“ fortan in der James-Simon-Galerie erinnern und hier ein Stück lebendiger Erinnerungskultur werden. Dass der steinerne Löwe in seiner kraftvollen und majestätischen, zugleich jedoch gütigen und gar nicht raubtierhaften Ausstrahlung durchaus als eine Verkörperung seines ursprünglichen Eigentümers gesehen werden kann, lässt seine Aufstellung als besonders gelungen erscheinen und verleiht der Skulptur einen ganz besonderen Reiz.

Tatsächlich kann man Rudolf Mosses wirtschaft­lichen Aufstieg zum „Medienlöwen“ insofern als kraftvoll bezeichnen, als er sein Imperium in einer unfass­baren Geschwindigkeit und mit großem Gespür für die Bedürfnisse und Chancen seiner Zeit aufgebaut hat.

Allerdings besaß Rudolf Mosse noch kein Vermögen, das er hätte in Kunst investieren können, als er 1865 bei der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ anfing. Als Breitenmedium verfügte die Zeitschrift über eine separate Beilage mit Werbeannoncen und es war hier, im Management eben dieses Anzeigenteils, in dem Rudolf Mosse brillierte. Das bald darauf erfolgte Angebot einer Teilhaberschaft schlug der junge Mann jedoch aus und eröffnete 1867 die „Zeitungs-Annoncen-Expedition Rudolf Mosse“ in der Friedrichstraße 60, die er schon drei Jahre später in eine Offene Handelsgesellschaft (OHG) umwandelte.

Seine Geschäftsidee war so einfach wie genial: Indem er den gesamten Anzeigenteil großer Blätter mietete und seine Firma in eigenen Inseraten „zur ge­fälligen Betrachtung“ und zu attraktiven Konditionen als zentrales Vertriebsorgan für Werbeannoncen aller Art anbot, machte er seine „Annoncen-Expedition“ schnell zur entscheidenden Schnittstelle zwischen An­gebot und Nachfrage im Werbegeschäft.

 

Als Rudolf Mosse 1872 das „Berliner Tageblatt“ ins Leben rief, das insbesondere unter seinem späteren Chefredakteur Theodor Wolff (1868 –1943) zum liberalen Leitmedium der Hauptstadt avancieren sollte, hatte sein Unternehmen bereits eine große Zahl von Zweigniederlassungen und bald über 250 Agenturen im In- und Ausland.

Ähnlich wie mit der „Annoncen-Expedition“ schloss Rudolf Mosse auch mit der Etablierung des „Berliner Tageblatts“ eine Angebotslücke. Dass ihm dabei in erster Linie eine lokale Tageszeitung vorschwebte und er damit – wieder einmal – ein außerordentliches Gespür für die Bedürfnisse der Konsumenten an den Tag legte, eine Reihe äußerst begabter Redakteure einstellte und ein weitgespanntes Korrespondentennetz etablierte, legte den Grundstein für den lang­fristigen Erfolg des Blattes, das bis zur Gleichschaltung 1933 für lange Zeit die auflagenstärkste Berliner Tageszeitung bleiben sollte (bis zur Einstellung 1939 wurde sie mehrfach verboten).

Beflügelnd wirkten sich auch jene Demokratisierungsschübe aus, die sich insbesondere in der Zeit von 1848 bis zur Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 auf dem Gebiet Preußens abspielten. So fiel etwa in Preußen nach Vormärz und Revolution 1850 end­gültig das Monopol des Staates, alleinig „Intelligenz“, d. h. Nachrichten, Anzeigen und öffentliche Bekanntmachungen zu publizieren. Zudem wurde mit der Reichsgründung das Recht der Gewerbefreiheit auf das ganze Staatsgebiet ausgedehnt und Berlin zur Reichshauptstadt erhoben.

Um seinen wirtschaftlichen Erfolg nicht verlegen, ließ sich Rudolf Mosse in den Jahren 1881 bis 1885 (in Teilen bis 1888) auf einem bis dato unbebauten Grundstück im Zentrum Berlins (am Leipziger Platz 15/Voßstraße 22) von den renommierten Architekten Ebe & Benda ein Wohngebäude errichten, über dessen majes­tätisches Gepräge in Architektur und Ausstattung die „Deutsche Bauzeitung“ in einem großen Beitrag eigens berichtete. Hier heißt es sinngemäß, die Errichtung palastartiger, nur zur Benutzung einer einzigen Familie bestimmter Wohnhäuser könne in einer Stadt wie Berlin mit geschlossener Bebauung, in der das vielgeschossige Miethaus die Regel bilde, doch eher selten und naturgemäß nur an wenigen Orten stattfinden, im Gegensatz zu vielen anderen Prachtbauten der letzten beiden Jahrzehnte trage das Mosse-Palais am Tiergarten in seiner Gesamtgestalt jedoch dazu bei, der Stadt Berlin „allmählich einen weltstädtischen Hauch zu geben“.

Für die Ausstattung des Gebäudes, dessen Speisesaal sich Rudolf Mosse von Anton von Werner, dem Lieblingsmaler Wilhelm II., im Jahre 1899 mit dem Monumentalgemälde „Gastmahl der Familie Mosse“ im Stile Rembrandts ausgestalten ließ, gab Rudolf Mosse um 1902 auch den „Liegenden  Löwen“  bei  August  Gaul  in  Auftrag.  Dieser  war abseits des akademischen Kunstbetriebs insbesondere für seine Tierplastiken bekannt.

Bis August Gaul seine Passion als Tierbildhauer fand, hatte es jedoch verhältnismäßig lange gedauert. So absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Modelleur und Ziseleur in seiner Heimatstadt und konnte sich bereits hier durch den Gewinn von Medaillen und Geldpreisen hervortun. Auf seinen Umzug nach Berlin 1888 folgte 1889 der Eintritt in das Atelier des Bild­hauers Alexander Calandrelli. Erste finanzielle Erfolge ließen nicht lange auf sich warten und so begann Gaul 1894 das Studium an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin, wo er schließlich von Reinhold Begas entdeckt wurde. Dieser machte ihn 1896 zu seinem Meisterschüler.

In Begas’ Werkstatt fertigte er auch seine ersten Bronze-Löwen, und zwar als Teil eines Kriegerdenkmals für Wilhelm I. Doch sind es nicht die zähnefletschenden und brüllenden Tiere Begas’, sondern die ruhenden Löwen August Gauls, die sich erhalten haben und heute als schmückendes Beiwerk im Tierpark Friedrichsfelde zu bestaunen sind. Wie sehr sich August Gaul in seiner bildnerischen Auffassung von Begas, aber auch von der damals oft zum Vergleich herangezogenen französischen Referenz, dem Tierbildhauer Antoine-Louis Barye, unterschied, zeigt das Urteil Emil Waldmanns, der in seiner 1919 bei Paul Cassirer erschienenen Biografie August Gauls schrieb: „Barye liebte die Tierseele in Aufruhr […]. Gaul weiß von solchen Freuden nichts und will von ihnen nichts wissen. Ausnahmeformen und Höchstspannungen sucht er so wenig, daß man sich von ihm noch nicht einmal einen brüllenden Löwen vorstellen kann. Ein brüllender Löwe ist für Gaul zu sehr außer sich, als daß er ihn noch als typisch löwenhaft empfände. Ganz abgesehen davon, daß der aufgerissene Rachen ihm plastisch unangenehm wäre als eine quälende, jenseits alles Gleichgewichts befindliche Grimasse. Er kann am meisten und am schönsten über die Tiere aussagen, wenn sie ihren Schwerpunkt über ihren Füßen haben. Das ist nun einmal sein ruhiges, maßvolles Temperament […].“

1898 schloss sich August Gaul der Berliner Secession um Max Liebermann an, in deren Vorstand er 1902 gewählt wurde. Über die Secession kam auch der Kontakt August Gauls zu Bruno und vor allem Paul Cassirer zustande, der bald darauf exklusiv den Vertrieb der Kunstwerke Gauls übernehmen sollte. Beide verband zudem bald eine so enge Freundschaft, dass sie allenthalben als „Paulchen und Gaulchen“ bezeichnet wurden. Paul Cassirer dürfte auch den Kontakt zu Rudolf Mosse vermittelt haben.

Tatsächlich ging Rudolf Mosse in der Zusammenstellung seiner Kunstsammlung im Vergleich mit den anderen wichtigen Berliner Sammlern Eduard Arnhold und James Simon einen eigenen Weg. Dies drückte sich unter anderem in der Tatsache aus, dass er sich in seiner Sammelleidenschaft nicht – wie diese – von Wilhelm von Bode beraten ließ, sondern in Kunstfragen auf seinen langjährigen Freund und Mitarbeiter beim „Berliner Tageblatt“, den Kunstkritiker Fritz Stahl, vertraute.

In jedem Fall scheint Rudolf Mosse der „Dienst an der jungen Künstlerschaft seiner Generation“ ein besonderes Anliegen gewesen zu sein, wie es der 1929 erschienene Katalog seiner Sammlung formuliert, die zu diesem Zeitpunkt im Palais am Leipziger Platz für die Öffentlichkeit zugänglich war. Ein besonderer Schwerpunkt der Sammlung lag offenbar auf der zeitgenössischen Skulptur, wie selbst der Auktionskatalog des Auktionshauses Lepke aus dem Jahre 1934 im Vorfeld der Versteigerung der Sammlung feststellt:

„Ein Verdienst Mosses muss hervorgehoben werden: er hat in großzügiger Weise die Bildhauerkunst unterstützt. Vielleicht ist die unmittelbare Veranlassung dazu das Haus gewesen; aber es geschieht so selten, dass Bildersammler Plastiken grossen Stils erwerben, dass eine Ausnahme, wie sie Mosse darstellt, nicht hoch genug zu rühmen ist. Er erwarb den prachtvollen ‚Marmor­löwen‘ von August Gaul und die gewaltige granitne ‚Caritas‘ von Hugo Lederer, sowie manches schöne Stück von Begas, Eberlein, Klimsch, Schott, Lambeaux, Meunier, Glycenstein und anderen. In jener Zeit hat nur Wilhelm II. in ähnlicher Weise die Bildhauer gefördert.“

Dieser Umstand brachte Rudolf Mosse ausgerechnet das Lob der Nationalsozialisten ein, die die Handels­gesellschaft 1933 zwangsweise in die – euphemistisch als „Treuhandgesellschaft“ bezeichnete – „Rudolf-Mosse-Stiftung“ umwandelten. Die immer wieder zu lesende Behauptung eines 1932 offiziell eröffneten Konkurs­verfahrens stützen die historischen Dokumente dagegen nicht, auch wenn sich das Unternehmen durch Weltwirtschaftskrise, Inflation und wachsenden politischen Druck zu dieser Zeit in finanziellen Schwierigkeiten befand. Vielmehr findet sich die faktische Inbesitznahme durch den nationalsozialistischen Apparat in hämischer Art und Weise erst in offizieller Korrespondenz vom Juni 1933 beschrieben. An gleicher Stelle findet sich auch der Vermerk, dass sich in dem durch die Treuhandgesellschaft übernommenen Rudolf-Mosse-Kunstpalais „die weltberühmte Gemälde-Galerie, eine Sammlung deutscher Meister, welche der alte verstorbene Rudolf Mosse gesammelt hat“, befinde.

Diese und andere Werke der Kunstsammlung wurden auf Veranlassung der Nationalsozialisten in zwei Auktionen im Mai und Juni 1934 verkauft und sind bis heute zum größten Teil unauffindbar. Überhaupt fehlt von einem Großteil der Sammlung, insbesondere auch jener von Hans Lachmann-Mosse, jede Spur. Dies gilt zuvorderst für jene Werke, die nicht Teil der Versteigerungen waren und sich nicht in den Auktionskatalogen der beiden Häuser Lepke und Union aufgeführt finden.

Der „Liegende Löwe“ war nicht Teil der Versteigerungen. Hatte er noch bis 1929 in der Halle der sogenannten Mosse-Galerie des Palais gestanden, wurde er 1935 im Ehrenhof des Gebäudes Richtung Voßstraße aufgestellt. Anders als das schwer beschädigte Mosse-Palais blieb er jedoch vor der völligen Zerstörung bewahrt und muss den sowjetischen Soldaten, die sich 1945 an Ort und Stelle mit ihm fotografieren ließen, wie ein kleines Wunder erschienen sein. Das Wissen, dass der Löwe zuvor der Familie Mosse gehört hatte, war jedoch in den Trümmern des Krieges verschüttgegangen, wurde der Löwe 1949 doch schließlich nur mit dem Herkunftsvermerk „Sichergestellt aus einem Garten in der Voßstraße“, an die Nationalgalerie (Berlin-Ost) übergeben.

So sehr James Simon, Eduard Arnhold und Rudolf Mosse als Kunstsammler und Mäzene in die Erinnerung zurückkehren sollten, so sehr gebührt ihnen dies auch auf andere Weise. Denn alle drei einte weit mehr als die Liebe zur Kunst. Im Zusammenspiel von liberaler Grundhaltung und der gleichzeitigen Verpflichtung auf das jüdische Gebot der „Zedaka“, der Wohltätigkeit, entfalteten sie eine beispiellose karitative Tätigkeit für benachteiligte und verarmte Menschen in Berlin und andernorts. Fortschrittlich und progressiv waren ihre Hilfsangebote weder an Konfession noch Geschlecht gebunden. Kranken- und Waisenhäuser, öffentliche Badeanstalten, Bildungseinrichtungen und moderne Wohngebäude für die Armen gingen – im wahrsten Sinne des Wortes – auf ihr Konto. Daneben richtete Rudolf Mosse nach dem markanten Motto „Treue um Treue“ als einer der ersten Unternehmer überhaupt eine Pensionskasse für seine zahlreichen Mitarbeiter ein. Zwischen 1893 und 1895 ließ das Ehepaar Mosse in Berlin-Wilmersdorf mit dem Mosse-Stift ein interkonfessionelles Waisenhaus errichten, das heute noch steht. Die neubarocke Dreiflügelanlage mit überkuppeltem Mittelrisalit beherbergt gegenwärtig unter anderem ein Jugendfreizeitheim und einen Kindergarten und zeigt sich auf diese Weise dem Geist ihrer Stifter verpflichtet. Seit 1989 erinnert zusätzlich eine Gedenktafel aus KPM-Porzellan an den Erbauer der Anlage. Auch das Grab der Familie Mosse auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee erhält die Erinnerung an die Personen und ihre Ideale aufrecht, denen sich die Nachkommen der Familie Lachmann-Mosse bis heute auf den unterschiedlichsten Gebieten verpflichtet zeigen. In diesem Sinne ist zu hoffen und stimmt zuversichtlich, dass die James-Simon-Galerie heute im besten Sinne Werbung für Rudolf Mosse macht und jeder Besucher des „Liegenden Löwen“ auch etwas vom Wirken der Mosses mit nach Hause nimmt.