Eigenhändig Handke

Alltagsbeobachtungen, Aphorismen, Skizzen, literarische Bruchstücke: Tausende Aufzeichnungen bevölkern in engen Zeilen Peter Handkes Notizbücher. Verschiedenfarbige Tinte, wechselndes Schreibgerät, hin und wieder kalligraphisch gestaltete Anmerkungen und eingesprengte Skizzen bestimmen die etwa 23.500 Seiten der 151 Bücher, die der österreichische Literat in den vergangenen rund 25 Jahren beschrieb. Die Materialität der Büchlein erzählt vom intensiven Gebrauch: Lädierte Einbände, verschwommene Tinte, geknickte Seiten verweisen darauf, dass jedes Buch zu seiner Zeit dem Autor als ständiger Begleiter für jede Art von Einfall parat stand. Handke, der seit langer Zeit in Frankreich lebt, dokumentiert Tagesereignisse, reflektiert seine Reisen, listet Vokabeln der Sprachen, die er gerade erlernt, beschreibt Kunst- und Bauwerke und notiert immer wieder Naturbeobachtungen. Werkentwürfe und literarische Fragmente entstehen auf den Oktavblättern ebenso wie Sinnsprüche und Zeichnungen. Die Einträge markiert er über alle Jahre hinweg durchgehend mit genauem Datum. Dass einige der über 25.000 Seiten Fehlstellen aufweisen, geht auf den Autor selbst zurück: Er veröffentlichte die herausgelösten, kleinformatigen Zeichnungen aus jüngeren Notizbüchern in einer eigenständigen Publikation unter dem Titel „Vor der Baumschattenwand nachts“. Das Medienecho, das die Präsentation der darin publizierten Zeichnungen in einer Berliner Galerie unlängst hervorrief, zeugt vom ungebrochenen Interesse der Öffentlichkeit an der Figur Handke.

Tagebücher von Peter Handke der Jahre 1990 bis 2015; © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Tagebücher von Peter Handke der Jahre 1990 bis 2015; © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Die Tagebücher sind wichtige Quellen zur Arbeitsweise des Schriftstellers. Die teilweise über Jahre andauernde Werkgenese bildet sich in seinen Einträgen ab, insbesondere die Vorarbeit für literarische Werke wie „Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten“ von 1994, und „Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos“ von 2002. Auch wenn nicht in erster Linie intime Tagebucheinträge, so sind Handkes Notizen dennoch von einem persönlichen Moment bestimmt: Der 1942 in Kärnten geborene Schriftsteller kommentiert immer wieder seine Lektüre und das literarische Leben insgesamt. Er nimmt Stellung zum politischen Geschehen, auch zum Jugoslawien-Krieg. So sind seine Notizen zu seinem kontrovers diskutierten Reisebericht „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ von 1996 erhalten. Stärker noch als die früheren Kladden sind die jüngeren von Mehrsprachigkeit durchzogen: Französisch, die Sprache seines Wohnorts, Slowenisch, die Sprache seiner Mutter und Kindheit, Griechisch und Latein, die Sprache der antiken Schriftsteller, die er übersetzt, in jüngerer Zeit auch Arabisch als Frucht seiner Sprachstudien und Koran-Lektüre.

Seit 50 Jahren nahezu vollständig von Suhrkamp in Deutschland verlegt und seither kontinuierlich in Deutschland gelesen und aufgeführt, gehört das Œuvre von Peter Handke, der in den 1960er-Jahren u. a. mit dem Schauspiel „Publikumsbeschimpfung“ oder der Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ berühmt wurde, längst zum kulturellen Erbe der deutschsprachigen Literatur. Auf Handkes dezidierten Wunsch hin verteilt sich sein Vorlass auf zwei bedeutende Archive: Während Werkmanuskripte und Korrespondenzen sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien befinden, beherbergt das Deutsche Literaturarchiv Marbach die Notizbücher. 2008 gelang es dort ebenfalls mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, das erste, 66 Bände und die Jahre 1975 bis 1990 umfassende Konvolut der Handke-Notizen zu erwerben. Sie gehören seither zu den meistgenutzten Handschriften des Archivs. Mit dem neuerlichen durch die Kulturstiftung der Länder, die Hubert Burda Stiftung und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien ermöglichten Erwerbung der Aufzeichnungen ab 1990 kann Marbach seinen Bestand zu Handke-Autographen ergänzen. Das Deutsche Literaturarchiv verfügt damit über eine weitere wertvolle Quelle für die Forschung zum Leben und Werk Handkes und zur deutschsprachigen Literatur der Moderne überhaupt.