Die Innovation kam aus Antwerpen
Wie stark Bezugspunkte, egal ob als Vorbild oder Abgrenzung, auch die alten Meister geprägt haben, verdeutlicht eine auf den ersten Blick unscheinbare Tafel, die das Historische Museum in Frankfurt am Main kürzlich erwerben konnte. Sie zeigt zwei weibliche Heiligenfiguren, die nebeneinander auf einem Mauervorsprung vor einer Wand stehen. Die Malerei ist denkbar zurückhaltend gestaltet. Kleidung und Architektur sind auf Grautöne beschränkt, die Heiligen werden nur durch Attribute und Inschriften bezeichnet. Links steht die Heilige Odilia von Hohenburg, die als Blinde geboren durch ihre Taufe plötzlich sehen konnte. Zwei in die Bibel gelegte Augen dienen als ihre Attribute. Die Heilige Cäcilie von Rom trägt als Patronin der Musik eine kleine Orgel als Hinweis auf den liturgischen Wechselgesang, der anlässlich ihres Festtages gesungen wurde. Ein Palmwedel kennzeichnet sie als Märtyrerin.
Die Tafel ist sehr qualitätvoll ausgeführt worden. Die Figuren zeigen trotz ihrer Typisierung lebendig wirkende Gesichter, die stark beschränkte Farbpalette besticht durch eine Vielzahl von Abstufungen. Der Kauf dieser Tafel ist für Frankfurt ein großer Glücksfall, wird damit doch ein Werk vervollständigt, das den Auslöser für ein sehr bedeutendes Werk der altdeutschen Kunst bilden sollte. Denn sie gehört zu einem Altarretabel, das für den Annenaltar der Frankfurter Dominikanerkirche bestimmt war. Es wurde um 1505 von einem unbekannten, in Antwerpen tätigen Maler ausgeführt, den man nach seinen Hauptwerken als Meister von Frankfurt bezeichnet.
Das Annenretabel muss mit seiner imposanten Höhe von mehr als zwei Metern zu einer bedeutenden Stiftung gehört haben, deren Urheber allerdings nicht überliefert wurde. Der geöffnete Zustand zeigt im Schrein die Heilige Sippe. In freier Landschaft steht ein prächtiger Thron, auf dem der Jesusknabe zwischen Maria und seiner Großmutter Anna sitzt. Wie bei einem Familientreffen sind alle Verwandten um den Thron herum gruppiert. Die beschauliche Idylle gibt einen Teil der Alltagserfahrung des Betrachters wieder und erlaubt ihm damit, sich in die tiefere Bedeutung der Szene einzufühlen. Dass es sich dabei um weitaus mehr als eine Genredarstellung handelt, zeigt der obere Teil des Thrones. Vor der Lehne schwebt der Heilige Geist in Form der Taube, über ihm in einer Wolkenglorie die Halbfigur des segnenden Gottvaters. Zusammen mit dem auf der Bank thronenden Kind bilden sie die Heilige Dreifaltigkeit Gottes, flankiert von den Figuren musizierender Engel auf den Thronpfosten. Dieser vertikale Sinnbezug wird auf horizontaler Ebene mit der sogenannten Trinubiums-Legende, der „Dreiheirat“ der Heiligen Anna, verbunden. Die Darstellung der Heiligen Sippe folgte der Vorstellung, dass Anna nach ihrer Ehe mit Joachim zwei weitere Male geheiratet habe. Die aus diesen Ehen hervorgegangenen Töchter wurden gleichfalls Maria genannt, viele ihrer Söhne folgten später Jesus als Apostel. Die Darstellung der weitverzweigten Verwandtschaftsverhältnisse wird auf den Flügeln von zwei Szenen eingerahmt, mit denen die zentrale Bedeutung von Anna und Maria für das Heilsgeschehen betont wird. Der linke Flügel zeigt das Wochenbett der erschöpften Anna, der rechte den Tod der Gottesmutter im Kreise der um sie versammelten Apostel. Schrein und Flügel werden durch eine Blumenwiese miteinander verbunden, die mit ihrer Vielzahl von Pflanzen symbolische Verweise auf den Paradiesgarten und die Tugenden der Heiligen enthält.
Die während des Alltags geschlossenen Flügel zeigen auf ihren Außenseiten die Darstellungen von acht Heiligen, die zusammen mit Anna als Patrone desjenigen Altars dienten, für den das Retabel bestimmt war. Zu ihnen gehört auch die hier besprochene Tafel. Alle Figuren werden paarweise dargestellt, wobei sich je zwei Frauen und Männer in versetzter Anordnung übereinander befanden. Die auf Halbgrisaillen beschränkte Malerei, die nur Haut und Haare in natürlichen Farben abbildet, dürfte damals in Frankfurt einen höchst ungewöhnlichen Anblick geboten haben. Seit etwa 1430 begann man in den Niederlanden, die Außenseiten von Altarflügeln in Grisaillemalerei zu gestalten, eine Gewohnheit, die in Deutschland erst Ende des 15. Jahrhunderts übernommen wurde. Auslöser dafür dürften Importe wie der Frankfurter Annenaltar gewesen sein, der aus einem der großen Zentren der niederländischen Malerei stammte. Seine Gestaltung lässt deutliche, vielleicht auf die Lehrzeit des Künstlers zurückzuführende Kenntnisse von Werken des Malers Hugo van der Goes erkennen. Gemessen an der hohen Zahl der überlieferten Arbeiten muss der Meister von Frankfurt eine bedeutende Werkstatt geführt haben. Auch wenn sich keine seiner Arbeiten mit einem Namen verbinden lässt, hat man doch nicht ohne Grund versucht, diesen Meister mit dem Maler Heynderick van Wueluwe zu identifizieren. Er dürfte einer der angesehensten Künstler Antwerpens gewesen sein, da er über sechs Amtszeiten hinweg die riesige Lukasgilde der Maler leitete. Trotz der zweifelhaften Zuschreibung weiß man immerhin, wie der Meister von Frankfurt ausgesehen hat: Auf der Mitteltafel des Annenretabels befindet sich rechts neben dem Thron am Bildrand ein auffallend schlicht gekleideter Mann, der als einziger aus dem Bild heraus den Betrachter ansieht. Er weist große Ähnlichkeit mit einem in Antwerpen befindlichen Doppelporträt auf, das den Maler zusammen mit seiner Frau zeigt.
Der Annenaltar muss die Gläubigen in Frankfurt sehr beeindruckt haben und führte zu einer unmittelbaren Reaktion unter den einheimischen Künstlern. Nur wenige Jahre nach seiner Errichtung gab der Frankfurter Kaufmann Jakob Heller bei Albrecht Dürer ein Retabel in Auftrag, das nur wenige Meter vom Annenaltar entfernt in der Dominikanerkirche aufgestellt werden sollte. Der Heller-Altar gehört zu den berühmtesten Werken der altdeutschen Kunst und besitzt eine ungewöhnliche Genese. Das von Dürer 1509 gelieferte Triptychon wurde nämlich von Matthias Grünewald mit Standflügeln ausgestattet. In der Alltagsansicht lassen die Malereien die große Konkurrenz zwischen den Künstlern erkennen. Wie beim Annenretabel wurden die Heiligendarstellungen in Grisaillemalerei ausgeführt, allerdings mit einer höchst unterschiedlichen Wirkung. Hier trifft der kalte Technokrat auf den religiösen Fanatiker. Dürer isoliert die Heiligen in strenger Komposition vor einem schwarzen Hintergrund, Grünewald dagegen beharrt auf einen räumlichen Kontext, schafft aber gleichzeitig durch Körperhaltung und Gewandung eine unwirkliche Stimmung, die die Figuren seltsamerweise realer wirken lässt als bei Dürer. Kennerschaft und Können gehen in diesem Kunstwerk eine eigenwillige Verbindung ein.
Ohne das Annenretabel des Frankfurter Meisters aber wäre dies undenkbar gewesen, ein Vorbild, das sich in seiner Wirkung erst jetzt wieder richtig beurteilen lässt, da Tafel und Altar nach mindestens 200 Jahren wieder vereint sind. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts berichtet der Klosterbibliothekar Franciscus Jacquin in seiner Chronik davon, dass die auseinandergesägten Malflügel an unterschiedlichen Stellen in der Kirche aufgehängt waren. Als die einzelnen Teile nach der Säkularisation 1808 der Frankfurter Museumssammlung übergeben wurden, fehlte die Heiligentafel. Sie dürfte damals schon auf den Kunstmarkt gekommen sein, lässt sich aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts in der Sammlung von Alice Gutmann in Berlin nachweisen. Über die Galerie Matthiesen in Berlin gelangte sie 1928 in den Besitz des jüdischen Kunsthändlers Jacques Goudstikker in Amsterdam. Goudstikker starb 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten; sein Galeriebestand wurde unter Zwang verkauft und kam zu großen Teilen in den Besitz von Hermann Göring.
Auch die Frankfurter Tafel gehörte bis 1945 zur Sammlung Göring und wurde nach einem Zwischenstopp im Münchner Zentrallager für die von den Nationalsozialisten geraubte Kunst von den Alliierten zunächst an die holländische Regierung übergeben. Die Restitution der Sammlung Goudstikker an die Erben des Kunsthändlers durch die Niederlande im Jahre 2006 ermöglichte schließlich auch die Rückkehr der Tafel nach Frankfurt. Ihre Erwerbung nach zwei Jahrhunderten historischer Umwälzungen bis hin zu einem der düstersten Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte ist ein kunsthistorischer Glücksfall mit zeithistorischer Dimension.