Die Beethoven-Variationen

Die Neuerwerbung eines Skizzenblatts (s.o.) im 250. Geburtsjahr Ludwig van Beethovens (1770 –1827) ist ein willkommener Anlass, einen (Rück-)Blick auf den Sammlungsauftrag und die Sammelpraxis des Beethoven-Hauses Bonn zu werfen. Schon in den im April 1889 veröffentlichten Gründungsstatuten ist das Sammeln eine der zentralen Aufgaben: „Die Ansammlung von Manuskripten, Bildern, Büsten und Reliquien Beethoven’s sowie seiner Werke und der betreffenden Literatur.“ Wird dieser Sammlungs- und Bewahrungsauftrag mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erfüllt, greift deren satzungsgemäßer Auftrag, den Erwerb von Kulturgut „nationalen Ranges“, das heißt von gesamtstaatlicher Bedeutung, zu fördern. Wie sich diese Bedeutung konstituiert, lässt sich an den Förderrichtlinien ablesen, die nach Authentizität, Rarität, nach der Provenienz oder der Rezeptionsgeschichte fragen. Konkret wird sie an den Kriterien ablesbar, mit denen Objekte ausgewählt und Ankaufswünsche begründet werden; für die Öffentlichkeit anschaulich wird der Sinn einer Erwerbung in den vielfältigen Verknüpfungen mit bereits vorhandenen Quellen in der umfangreichen ­Dokumentation des 2004 freigeschalteten Digitalen Archivs ­­des Beethoven-Hauses. Seit Frühjahr 2020 An-Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, ist das 1927 gegründete Wissenschaftliche Archiv die Forschungsabteilung des Hauses und verfolgt seit den 1960er-Jahren das Großprojekt einer (gedruckten) Beethoven-Gesamtausgabe sowie Editionsprojekte zu Briefen und Dokumenten sowie zu seinen Skizzen. In Kooperationsprojekten mit anderen, nationalen wie internationalen Institutionen werden weitere Forschungsprojekte durchgeführt oder unterstützt, wie aktuell das Projekt „Beethovens Werkstatt“ in Kooperation mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und dem Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn. Auch bei diesem Projekt spielen die Möglichkeiten der Digitalisierung eine zentrale Rolle, geht es doch darum, auf der Basis des reichen und vielfältigen Quellenmaterials Beethovens Schreibprozess, sein – wie es auf der Webseite des Projektes heißt – „kompositorisches Denken, Handeln und Entscheiden“ zu analysieren und darzustellen.

Nun war und ist Beethovens Handschrift notorisch schwer lesbar, eine Herausforderung für Wissenschaftler wie Laien, die sich für letztere in der schlichten Freude am kalligrafischen Ereignis einer Seite mit Beethovens Schriftzügen, seien es nun Noten oder Briefzeilen, erschöpfen kann. Dass sich von diesen authentischen Schriftzeugnissen, seien sie musikalischer, persönlicher oder geschäftlicher Natur, überhaupt so viel erhalten hat, hat verschiedene Gründe: Beethoven selbst war sich der Bedeutung seines Werkes, seiner Radikalität, Originalität und Neuheit – all’ dies Qualitäten einer „modernen“, das heißt freien Kunst – durchaus bewusst und versuchte, so viel wie möglich von seinem musikalischen Schaffen für die Nachwelt, durchaus mit Blick auf eine spätere Gesamtausgabe, zu erhalten. Und zwar nicht nur durch die Notendrucke seiner Verleger. So bewahrte er etwa seine Skizzenbücher – Materialfundus und Ideenrepertoire seiner Kompositionen – lebenslang auf, sie begleiteten ihn auf seinen legendär häufigen Umzügen seiner Wiener Jahre seit 1792. Beethoven lebte und arbeitete in einer Epoche, deren enorme politische und gesellschaftliche Umbrüche nicht ohne Folgen für Künstlerkarrieren und Künstlerbilder blieben. Er gilt als einer der ersten „freien“, „modernen“ Künstler, die eine Karriere für Hof oder Kirche gegen eine selbstständige Existenz eintauschten, mit allen Konsequenzen. Vergleichbar sind zeitgenössische Karrieren in der bildenden Kunst wie die des Bildhauers Berthel Thorvaldsen (1770–1844) oder in der Literatur die von Lord Byron (1788–1824).  „Freiheit“ ist hier durchaus in einem eingeschränkten Sinne zu verstehen: Frei war Beethoven seit seinem Umzug nach Wien von der Indienststellung durch einen Monarchen oder Kirchenfürsten, aber es ist in zahlreichen Quellen überliefert, dass Beethoven jederzeit zu einer solchen Anstellung bereit gewesen wäre.

Wirklich freiwillig freischaffend war er nicht. Denn im Gegensatz etwa zu Byron – der nach jüngsten Archivfunden in der Lage war, den griechischen Freiheitskampf durch ein Darlehen aus seinem Privatvermögen zu unterstützen – waren Beethoven wie Thorvaldsen auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen. So schrieb Beethoven am 11. Februar 1825 aus Wien an den Komponisten Ferdinand Ries (1784–1838) in Bonn: „Meine Lage macht, daß ich durch meine Noten aus meinen Nöthen zu kommen suchen muß.“ Und das ist nur ein Zitat zum Thema Geld, nur eine erhaltene Quelle, in der von finanziellen Schwierigkeiten die Rede ist. Von zentraler Bedeutung für Beethovens lebenslanges, letztlich erfolgreiches Navigieren als Künstler-Unternehmer waren die Mitglieder des Wiener (Hoch-)Adels, die als Gönner und Mäzene in Anerkennung einer außergewöhnlichen künstlerischen Kreativität ­neben Rentenzahlungen auch ihre Palais’ für Konzerte und ihre persönlichen Netzwerke zur Verfügung stellten, ebenso wie die Einnahmen durch die Publikation seiner Musik oder ihre Präsentation bei öffentlichen Konzerten. Die Emanzipation brachte neue Abhängigkeiten, aber sie befreite die Künstler aus tradi­tionellen Bindungen und eröffnete neue Möglichkeiten, die Tätigkeit für einen offenen, zunehmend bürgerlichen Markt. Der „Celebritäten-­Cultus“, den das 19. Jahrhundert bereits kannte, weil es ihn erfunden hat, führte wiederum dazu, dass die Zeitgenossen des schon zu Lebzeiten Berühmten seine schriftlichen Zeugnisse aufhoben. Sehr verkürzt gesagt, erschuf der romantische Genie- und Künstlerkult zugleich seinen Markt, den Handel mit den Reliquien der verehrten Schöpfer; nicht ganz zufällig fällt Beethovens Nachlassauktion vom 5.11.1827 exakt in die Anfangsphase des Autografenmarktes im deutschsprachigen Raum. Seitdem wurden seine Musikhandschriften, Briefe und Notizen zum kostbaren Inhalt privater und institutioneller Sammlungen, Beethoven-Autografen gehören heute zu den höchstbezahlten Musik- und Künstlerhandschriften überhaupt. Ihr Bedeutungs- und Funktionswandel lässt sich anhand der Herkunftsgeschichten der im Archiv des Beethoven-Hauses so sorgsam gesammelten, bewahrten und erschlossenen Quellen ablesen: Ihr Weg vom Geniekult des 19. Jahrhunderts bis zu einer für ein weltweites Publikum digitalen Zugänglichkeit des 21. Jahrhunderts ist Rezeptions- und Institutionengeschichte in einem.

Hatte die Erwerbungsförderung für das Beethoven-Haus der Kulturstiftung der Länder ab den 1990er-Jahren mit dem Ankauf so prominenter Werke wie der Handschrift des ersten Satzes der Sonate für Violoncello und Klavier op. 69 von 1807/08, der Klaviersonate e-Moll op. 90 von 1814 und dem „Flohlied“ nach Johann Wolfgang von Goethe op. 75, Nr. 3, von 1809 eingesetzt, so spiegelt die Bandbreite der Förderungen und der Anträge über die Jahre die beeindruckende Tiefe der Sammlung des Beethoven-Hauses wider – und trug ein Stück weit zu dieser bei. Wie lange es im Einzelfall dauern kann, ein Kulturgut selbst höchsten Ranges für eine öffentliche Einrichtung zu sichern, zeigt exemplarisch der Ankauf des Autografs der ­„Diabelli-Variationen“ op. 120 im Jahr 2009. Drei Jahre zuvor war es gelungen, die Stichvorlage der „Missa Solemnis“ op. 123 zu erwerben, aber der endgültigen Erfolgsmeldung zu den „­Diabelli-Variationen“ gingen Jahre unter größtmöglicher Diskretion geführter Verhandlungen mit den Verkäufern und eine beispiellose Anstrengung – etwa mit der Spendenaktion „Weltklassisch – eine Initiative für ­Beethoven“ – voraus, um die benötigten Mittel einzuwerben. Nach diesem Ankauf wurde es wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2008/2009 deutlich ruhiger. Einem über Jahre mangelnden Angebot geschuldet, kam es erst 2012 wieder zum Versuch einer Erwerbung mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder. Dass das Beethoven-Haus zu diesem Zeitpunkt in der Versteigerung überboten wurde, war bedauerlich, aber keineswegs die letzte Chance zum Ankauf, denn das damals begehrte Dokument fand im Sommer 2018 den Weg zurück auf den Markt – und dieses Mal war das Beethoven-Haus erfolgreich (s.u.).

Als Förderin von Ankäufen von Kulturgut mit gesamtstaatlicher Bedeutung ist die Kulturstiftung der Länder auch Marktteilnehmerin. Mag diese Rolle auf Grund der grundsätzlich nur anteiligen Förderung eher indirekt sein, so setzt der verantwortungsvolle Umgang mit Steuergeldern nicht zuletzt die Frage nach dem angemessenen Marktpreis voraus. Die mit dem Rhythmus der großen Versteigerungen von Musikautografen in ­London, New York oder Berlin wiederkehrenden Anträge (mit gelegentlichen Ausnahmen für direkte Ankäufe aus Privateigentum) zeigten, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Institution „ihren“ Markt in jeder Beziehung im Blick hatten. Bei einem Künstler von der globalen Bedeutung Ludwig van Beethovens bedeutet das die Beobachtung eines sich kontinuierlich vergrößernden, steigenden und schließlich globalen Marktes und ein Bewusstsein für die Bedeutung des Beethoven-Hauses als zentralem Akteur. Gerade bei Versteigerungen ist Fingerspitzengefühl gefragt; ein zu hohes Gebot kann den Markt um diverse Prozentpunkte anheben und damit auch den eigenen nächsten Ankauf entsprechend verteuern. Bei aller Dringlichkeit der ­Erwerbungswünsche, die drängenden Versteigerungsterminen wie der Bedeutung des jeweiligen Dokuments für die Sammlung geschuldet war, war die Einschätzung der Marktsitua­tion selbst stets von einer gewissen Gelassenheit geprägt – einer Gelas­senheit, die sich der jahrzehntelangen Erfahrung verdankt, ­dass kaum ein Objekt „für immer“ in Privateigentum aufbewahrt wird.

Diverse Beispiele finden sich in der gemeinsamen Geschichte von Kulturstiftung der Länder und Beethoven-Haus, so auch die aktuellste Förderung, eine handschriftliche Skizze Beethovens zum 4. Satz des Streichquartetts op. 127 (1824/25). Das Blatt wurde am 11. März 2020 in Berlin angeboten, eine der zahlreichen für die Entstehungsgeschichte dieses späten Streichquartetts überlieferten Skizzen. Seit 1956 gab es im Bestand des Beethoven-Archivs eine weitere Skizze zum Finale von op. 127 aus der berühmten Autografensammlung Hans Conrad Bodmer (1891 – 1956), ein Blatt, das ehemals ein Doppelblatt gewesen war. Hier war sie also, die abgetrennte Hälfte: Seit dem Tod des Komponisten waren fast 200 Jahre vergangen, in denen das Blatt verschiedenen, auch sehr prominenten Privatsammlern gehörte; fast 50 Jahre, seitdem es zuletzt in einer Auktion war. Aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts ist die Integrität eines Kulturgutes von der Bedeutung einer authen­tischen Handschrift Ludwig van Beethovens eine Selbstverständlichkeit; die Vorstellung, jemand hätte vor, ein Skizzenbuch des Komponisten aufzuteilen, um die Einzelseiten zum größeren Ruhm des Künstlers zu veräußern oder zu verschenken, würde zu Stürmen der Entrüstung führen. Das frühe 19. Jahrhundert sah die Sache anders: Zum einen sammelte man, wie ­Günther ­Mecklenburg (1898 – 1984) in seinem 1963 erschienenen ersten Handbuch schreibt, zunächst nur Namen, ungeachtet von Inhalt und Kontext. Zum anderen gehörten Weggefährten wie ­Beethovens Sekretär und erster Biograf Anton Schindler (1795 – 1864) zu denjenigen, die nach dem Tod des Komponisten zum Beispiel Skizzenbücher fragmentierten und die Einzelteile verschenkten oder verkauften – das Skizzenbuch, aus dem die beiden Fragmente des Beethoven-Hauses stammen, befindet sich seit dem Ankauf von Schindler 1846 in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Mit anderen Worten: Die letztlich auf den Reliquiencharakter der schriftlichen Zeugnisse der verehrten Persönlichkeit zurückgehende Fragmentierung und daraus resultierende weite Verbreitung von Beethovens Autografen kann den heutigen Markt mit seinen Wiederentdeckungen und dem Angebot auch partieller Partituren und Notizen erklären, zumal sich die großen Notenhandschriften – etwa zur „Missa Solemnis“ oder der 9. Symphonie, wiederum in der Staatsbibliothek  – bereits seit dem 19. Jahrhundert in öffentlichen Sammlungen befinden.

Eine vergleichbare Förderung gelang bereits 2013, als aus Privatbesitz ein Brief des Komponisten an den Grafen Franz Brunsvik (1777 – 1849) aus dem Jahre 1811 angeboten wurde. Auch hier konnten durch den Ankauf zwei Fragmente zusammengeführt werden: Der Umschlag befand sich seit 1995 im ­Bestand des Beethoven-Hauses, während der Inhalt des gesamten Briefes der Forschung bis dato nur aus einer fehlerhaften Übertragung bekannt war. Die Wiedervereinigung der beiden Briefteile ermöglichte die korrekte Zuordnung beider innerhalb der Korrespondenz des Komponisten, und sie ergänzte die reiche Bonner Briefsammlung um einen weiteren Adressaten aus ­Beethovens Umfeld; die beiden Schwestern Brunsviks waren bereits im Bestand vertreten. Der Ankauf revidierte auch in diesem Fall die Praxis der Fragmentierung und ist von editionswissenschaftlicher Bedeutung.

Der Podcast zur Erwerbung der Beethoven-Skizze zu Streichkonzert op. 127:

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Im Herbst 2015 richtete sich das Interesse auf ein Schreiben Beethovens an die Gräfin Maria Eleonora Fuchs (1786 – 1842) in Wien vom Januar 1813: Beethoven sagt so höflich wie deutlich die Einladung zu einem Konzert ab, er muss komponieren, um Geld zu verdienen: „[…] allein ich habe eben etwas sehr dringendes zu schreiben, denn leider ist dieses das einzige, was mir übrig bleibt troz allen Aufopferungen, die ich gemacht, wenn ich nicht vor Hunger umkommen will […]“ Der Brief hat biografische Bedeutung, gehört in den Kontext von Beethovens Wiener Netzwerk, er ist eine Momentaufnahme der Befindlichkeit des Komponisten an einem bestimmten Tag, des Konflikts von künstlerischer Produktivität und sozialer Verpflichtung und nicht zuletzt des Wiener Musiklebens unmittelbar vor den Befreiungskriegen. Für den Fall eines erfolgreichen Gebots in der Auktion in Wien mussten zwei Fragen geklärt werden: Die Provenienz war unbekannt, jedenfalls war der Brief bei einer früheren Auktion im Jahr 2007 wie bei seiner Publikation 1983 ohne Provenienz publiziert worden. Das Fehlen von Herkunftsnachweisen ist bei den erhaltenen Zeugnissen von Beethovens Korrespondenz nicht ungewöhnlich, die Eigentümerwechsel seiner Briefe sind im Gegensatz zu den großen Musikhandschriften oft nicht belegbar. Die Notwendigkeit einer nachprüfbaren Dokumentation bei Ankäufen mit öffentlichen Mitteln und für eine öffentliche Institution und das Bedürfnis privater Eigentümer nach Vertraulichkeit standen in einem bekannten und in diesem Fall letztlich überwindbaren Gegensatz. Die zweite Frage betraf den Kulturgutschutz, in diesem Fall das berechtigte Interesse Österreichs an einem seit 2008 unter Schutz gestellten Zeugnis von ­Beethovens Wiener Jahren. Am Ende war die Provenienz geklärt und der ­Zuschlag im Rahmen des Limits erteilt. Und das Österreichische Bundesdenkmalamt erteilte ausnahmsweise und explizit nur für das Beethoven-Haus Bonn eine Ausfuhrgenehmigung.

Das biografische Interesse stand auch im Mittelpunkt des Erwerbs eines Doppelblattes mit tagebuchähnlichen Notizen ­Beethovens aus dem Jahr 1826. Im April 2016 wiederum in ­Berlin mit einem moderaten Schätzpreis angeboten, überzeugten die Notizblätter durch die Vielfalt ihrer alltagshistorischen – vor ­allem geschäftlichen – Details und der Bezüge zu anderen, bereits im Bestand vorhandenen Quellen. Anlässlich ihrer letzten Versteigerung im Mai 1925 von dem Antiquar und ­Auktionator Karl Ernst Henrici (1879 – 1944) als „Hervorragend interessantes Unikum“ bezeichnet, waren die Notizen 90 Jahre später marktfrisch und boten die Gelegenheit, ein aussagekräftiges Dokument zum letzten Lebensjahr des Komponisten zu erwerben (vgl. Arsprototo 4/2016).

Dass im Frühjahr 2017 die Erwerbung des eigenhändigen Titelblatts von Ludwig van Beethoven für die „Diabelli-Variationen“ gelingen sollte, war mehr als ein Glücksfall. Angesichts der im Beethoven-Haus bereits vorhandenen Quellen und Dokumente rund um Opus 120 durfte das Titelblatt nicht fehlen, zumal das 2009 erworbene Autograph ohne Titelei auskommt. Vermutlich von Beethoven erst während des Drucklegungsprozesses konzipiert, tauchte das Titelblatt nun als missing link in der Überlieferung auf. Mit dem erfolgreichen Zuschlag an das Beethoven-Haus gelang acht Jahre nach dem spektakulären Erwerb der Originalhandschrift die Zusammenführung von Notenkorpus und Deckblatt – ein vorläufiger Schlussstein war gesetzt.

Mit dem „Diabelli“-Titelblatt hatte sich ein Kreis geschlossen. Was für eine aktiv sammelnde Einrichtung noch lange nicht bedeutet, dass alle Wünsche erfüllt und alle Ankäufe getätigt wären. Denn die zweite Chance, sie kommt bestimmt. Und dies gleich zweifach, denn nachdem das Beethoven-Haus 2004 und 2012 einem Bieter unterlegen war, der offenbar spekulativ das Preisniveau für literarische wie musikalische Handschriften in ungeahnte Höhen trieb, profitierten die Bonner Wissenschaftler im Sommer 2018 vom Zusammenbruch dieses antiquarischen Schneeballsystems (vgl. Arsprototo 4/2018). Der Autografenfonds „Aristophil“ hatte Tausende von Anlegerinnen und Anlegern um ihre Einlagen betrogen, die folgende Liquidation der Bestände zugunsten der Geschädigten durch den französischen Staat führte in einer Folge zu einem Überangebot qualitätvoller historischer Handschriften – und zu einer Preiskorrektur. Nachdem die Entscheidung gefallen war, auf zwei der angebotenen Beethoven-Handschriften zu bieten, führte das präzise eingeschätzte Preislimit zum Erfolg. Mit dem Autograph des Liedes „Ruf vom Berge (Wenn ich ein Vöglein wär)“ (1816) gelang es, die vollständige Handschrift zum Notentext des „Fidelio“-Librettisten Georg Friedrich Treitschke (1776 – 1842) zu erwerben. Edi­tionshistorisch wichtig ist, dass der Notentext hier vom bekannten Wortlaut leicht abweicht, das Beethoven-Haus besaß zudem einen Brief des Komponisten an Treitschke vom 9. Juni 1817, in dem er ihn aufforderte, sein Manuskript an den Musikverleger Sigmund Anton Steiner (1773 – 1838) in Wien für eine fehlerfreie Version des Liedes zu schicken. Dies war offenbar nicht geschehen, das bis zur Auktion 2004 unbekannte Stück zeigt nun die authentische Notation. Sucht man nach sprachlichen Belegen der Bedeutung von Beethovens handschriftlichen Zeugnissen bereits für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, wird man bei der Überlieferung zu dem anderen Autografen zum „Ruf vom Berge“ im Beethoven-Haus fündig: Ein Tagebucheintrag von Fanny Giannattasio de Rio (1790 – ca. 1876) vom 20. Dezember 1816 hält fest, Beethoven habe „das kleine neue Lied, dessen Manuscript sie als Reliquie verwahrt“, ihrer Schwester Anna (1792 – ca. 1866) eines Abends in Gesellschaft der befreundeten Familie geschenkt.

Stellte bereits die Liederhandschrift einen Fund für die Forschung dar, war der zweite Ankauf in der „Aristophil“-Auktion eine wirkliche Sensation: Auch dieses Autograf kam wie bereits erwähnt in einer Versteigerung, dieses Mal 2012 in Berlin, zurück ans Licht. Dass Autor und Adressaten bekannt waren, die Bedeutung des Briefes aber in Vergessenheit geriet – oder angesichts des Desinteresses der damaligen Sammler an den Inhalten „sinnlicher Zeugnisse bedeutender Männer“ (Johann Wolfgang von Goethe an Cotta, 1806) nie erkannt wurde – bezeugt die Beschriftung des zugehörigen Umschlags aus dem 19. Jahrhundert: „Autograph du célèbre / Compositeur Beethoven / billet adreßé a M.r Henri / de Struve“. Beethoven schreibt darin am 17. September 1795 aus Wien an seinen Bonner Freund, den jungen Diplomaten Heinrich von Struve (1772 – 1851) in Russland: „[…] du bist also jezt in dem Kalten Lande, wo die Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird, ich weiß gewiß, daß dir da manches begegnen wird, was wider deine Denkungs-Art, dein Herz, und überhaupt wider dein ganzes Gefühl ist. wann wird auch der Zeitpunkt kommen wo es nur Menschen geben wird, wir werden wohl diesen Glücklichen Zeitpunkt nur an einigen Orten heran nahen sehen, aber allgemein – das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch JahrHunderte vorübergehen. […]“. Es ist kein anderes so frühes briefliches Zeugnis von Beethovens Freiheitsemphase bekannt, seinem auf den Idealen der Französischen Revolution beruhenden Selbstverständnis als Bürger bereits seit Bonner Zeiten. Monumentale Gedanken und Wünsche in minimalem Format – der Brief misst 8,1 × 9,3 cm, ein Porträt des Künstlers als junger Mann auf kleinstem Raum. Funde wie diese sind Höhepunkte in der Sammlungsgeschichte eines Archivs, und ihre Wirkung weist weit über die einzelne Institution hinaus.