Beim 91. Deutschen Archivtag am 8. Oktober 2024 in Suhl hielt Prof. Dr. Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, die Eröffnungsrede, die Sie im Folgenden nachlesen können.
1. Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive
„Deutschlands Archive nach der Zeitenwende“ – gewiss mag sich die eine oder der andere unter Ihnen gefragt haben, ob dieser rhetorische Rückgriff auf politisches Trendvokabular im Titel meines Vortrags unbedingt notwendig war. So strapaziert die politische Rede von der ‚Zeitenwende‘ auch sein mag, sie bringt eine Tatsache der gesellschaftlichen Gegenwart in Deutschland prägnant auf den Punkt: In der Wahrnehmung vieler Menschen verändern sich innere und äußere Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens derzeit mit einer Wucht, die zumindest in unserem Land seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ihresgleichen sucht. Dass diese sich wandelnden Rahmenbedingungen nicht nur zahlreich und vielschichtig sind, sondern sich auch gegenseitig bedingen, überlagern oder durchdringen, muss ich an dieser Stelle nicht ausführen: Von der dramatischen Beschleunigung der Erderwärmung über die geopolitische Neuordnung der Welt auch mit militärischen Mitteln bis hin zum demographischen Wandel und alarmierenden Investitionsdefiziten. Bei genauer Betrachtung stellt man also ernüchtert fest, dass der Begriff ‚Zeitenwende‘ wohl eher ein Euphemismus ist; ein Euphemismus für die tiefgreifenden und in ihren Konsequenzen noch weitgehend unabsehbaren Umbrüche, die auch uns in Deutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorstehen.
Die These, die ich Ihnen heute vortragen und über die ich mit Ihnen gern ins Gespräch kommen will, ist folgende: Als „Orte, an denen Unterlagen für die Ewigkeit bewahrt werden“ – so die Definition der Archivberatung Hessen – sind Archive gerade in Zeiten solcher massiven kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Disruptionen ein wesentlicher Faktor für die Widerstandskraft einer Gesellschaft und müssen deswegen gestärkt und gefördert werden. Dabei gilt, dass diese Förderung kontinuierlich erfolgen muss und nicht erst mit dem Beginn einer Krisensituation einsetzen darf. Mit anderen Worten: Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive.
Ich vermute, dass Sie, sehr geehrte Mitglieder des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare, dieser These nicht vehement widersprechen werden. Was ich mir aber wünsche, ist, dass der Satz „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“ denjenigen, die politische Verantwortung für die Archive in unserem Land tragen, ebenso leicht über die Lippen gehen möge wie die wohlfeile Rede von der ‚Zeitenwende‘.
2. Drei Perspektiven: Kulturgeschichte, Kulturpolitik, Kulturförderung
Wenn ich selbst über Archive gerade auch in Krisensituationen nachdenke, dann nehme ich dabei in der Regel diejenigen drei Perspektiven ein, die ich mir im Verlauf meines beruflichen Werdegangs aneignen konnte. Ich betrachte Archive demnach aus den Blickwinkeln der Kulturgeschichte, der Kulturpolitik und der Kulturförderung. Die juristische Frage, ob Archive in Deutschland auch formal als „systemrelevant“ eingestuft werden können, möchte ich hier ausklammern. Sie wurde unlängst von Dr. Paolo Cecconi, Leiter des Stadtarchivs Chemnitz, im Rahmen eines Vortrags bei der Deutschen Gesellschaft für Kulturgutschutz e. V. ausführlich behandelt.[i] Ich möchte Sie also vielmehr dazu einladen, heute Abend gemeinsam mit mir aus kulturgeschichtlicher, kulturpolitischer und kulturfördernder Perspektive auf Archive zu schauen und zu erkunden, welche Lehren man aus diesem multiperspektivischen Blick ziehen kann.
2.1. Kulturgeschichte
Ich beginne – Sie ahnen es schon – im sogenannten Alten Orient. Der babylonische Gelehrte und Priester Berossos von Babylon überliefert am Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. eine Geschichte der großen Flut, die uns durchaus an die Sintflutgeschichte der christlichen Bibel erinnert, sich aber in einigen wesentlichen Punkte von dieser unterscheidet. Denn die dem Seleukidenherrscher Antiochos Soter (281–260 v. Chr.) zugeeigneten Babyloniaka des Berossos von Babylon berichten, der Gott Kronos habe dem Sintfluthelden Xisouthros „im Schlafe geoffenbart, dass am fünfzehnten Tag des Monats Daisios die Menschheit durch eine Überschwemmung untergehen werde. Befehl habe er gegeben, alle Schriftwerke – die ersten, mittleren und letzten – zu vergraben und niederzulegen in der Sonnenstadt der Sipparer; (danach) ein Schiff zu bauen und in das Innere einzugehen mit den Verwandten und nächsten Freunden.“[ii]
Berossos weiß übrigens auch zu berichten, was nach der großen Flut geschah: Xisouthros wird den Augen seiner Begleiter entrückt, und eine Stimme aus den Lüften befiehlt den Geretteten, nach dem Schicksalsspruch der Götter „aus der Stadt der Sipparer ausgrabend die Schriftwerke zu holen, die dort geborgen lägen, und sie der Menschheit zu übergeben.“[iii]
Etwa 250 Jahre nach dem Ende des eigenständigen babylonischen Königtums unterstreicht diese Erzählung den sagenhaften Ruf der antiken babylonischen Stadt Sippar, die einer anderen altmesopotamischen Überlieferung zufolge sogar von der Sintflut verschont blieb und deren bedeutsamstes Heiligtum, das „strahlendweiße Haus“ Ebabbar des Sonnengottes Schamasch, zu dieser Zeit bereits auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken konnte. Noch Plinius der Ältere (23/24–79 n. Chr.) rühmt die Stadt Sippar, deren Ruinen etwa 35 Kilometer südwestlich der irakischen Hauptstadt Bagdad liegen, „als Sitz der Gelehrsamkeit der Chaldaier (chaldaeorum doctrina)“ und zieht den direkten Vergleich mit zwei weiteren Zentren babylonischer Wissenschaft, Babylon und Uruk, dem Erech des Alten Testaments.[iv]
Was ist so besonders an der bei Berossos überlieferten Sintflutgeschichte und was hat sie mit starken Archiven in Zeiten epischer Umbrüche zu tun? Die Antwort ist verblüffend: Berossos beschreibt den Schutz des schriftlichen Kulturerbes als erste, vordringliche Maßnahme gegen den Totalverlust menschlichen Lebens auf der Erde, noch vor der Rettung der wenigen Auserwählten im Bauch der Arche. So überraschend diese Dramaturgie für uns auch sein mag, sie wurzelt in einer fundamentalen Erkenntnis, die bereits vor mehr als 2000 Jahren in den Gesellschaften des antiken Mesopotamien verbreitet war: Ohne das archivalische und literarische Erbe, durch das menschliche Gemeinschaften ihre kulturellen Identitäten verankern und widerstandsfähig machen, können Menschen auf Dauer nicht existieren, selbst, wenn ihnen das nackte Leben geschenkt wird. Beinahe also scheint es so, als riefe uns schon Berossos von Babylon durch die Jahrtausende hindurch zu: „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“.
Die zweite kulturgeschichtliche Episode, die mich an die Relevanz leistungsfähiger Archive erinnert, ist eine Folge von Ereignissen, die durch den Sacco di Roma, die Plünderung Roms durch Söldner Kaiser Karls V. in den Tagen und Wochen nach dem 6. Mai 1527 ausgelöst wurde. Die schlecht versorgten Truppen des Kaisers zogen folternd, mordend und plündernd durch die Stadt. Neben Kunstschätzen in Palästen und Kirchen wurden auch Reliquien in unermesslicher Zahl geraubt und entweiht. Ein zeitgenössischer Autor berichtet, wie kaiserliche Soldaten die Schädel des heiligen Johannes, des heiligen Petrus und des heiligen Paulus gestohlen und mit ihnen in den Straßen Roms Ball gespielt hätten. Sämtliche Reliquien, derer man hätte habhaft werden können, seien so zu Objekten der Belustigung geworden.[v]
Da Reliquien nicht zuletzt für die Reputation und damit auch für die Einnahmen der Klöster und Kirchen in Rom von enormer Bedeutung waren, setzte man schon bald alles daran, die geplünderten Schätze zurückzuerhalten oder, was wohl viel öfter der Fall gewesen sein dürfte, sie zu ‚ersetzen‘. Denn es stellte sich heraus, dass die vorhandenen Inventare und Aufzeichnungen entweder sehr ungenau oder lückenhaft waren, was eine eindeutige Identifizierung und Authentifizierung der Reliquien maßgeblich erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.
Mehr als ein Jahr nach dem Sacco di Roma, am 26. November 1528, wurden Hunderte von Reliquien in den Vatikan überführt, die angeblich zuvor von spanischen Soldaten ‚wiederaufgefunden‘ worden waren. In den vatikanischen Archiven findet sich ein zeitgenössisches Dokument mit dem Titel „Instrumentum relationis reliqiarum a militibus Borboni ab urbe extractis [sic!]“, das von diesem Ereignis berichtet und das durchaus beunruhigend ist.[vi] Denn die Liste der zurückgekehrten Reliquien bietet vielfach nur summarische und derart allgemeine Objektbeschreibungen, dass man sich wohl nicht nur fragen muss, wie es seinerzeit möglich war, die einzelnen Stücke eindeutig zu identifizieren, sondern auch, welche menschlichen Überreste seither tatsächlich in den Gotteshäusern Roms verehrt werden. Mag in diesem speziellen Fall die Schwäche der archivalischen Überlieferung den Päpsten in den Jahrzehnten nach dem Sacco di Roma politisch durchaus willkommen gewesen sein, in religiöser und kultureller Hinsicht muss man zu einer anderen Bewertung gelangen: „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“.
Sie alle kennen gewiss weitere Begebenheiten aus der Kulturgeschichte, die veranschaulichen, wie zentral die Funktion von leistungsfähigen Archiven sowie umfassendem, angemessen erschlossenem Archivgut sein kann; ebenso sind Ihnen vermutlich auch Beispiele geläufig für den Verlust oder die Unzulänglichkeit von Archiven und für die daraus resultierenden gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen.
Sollte ich aus kulturgeschichtlichem Blickwinkel prägnant die hohen Güter benennen, die eine Gesellschaft starken Archiven verdankt, so wären dies die folgenden fünf Zustandsmerkmale:
- Historizität; 2. Authentizität; 3. Integrität; 4. Legitimität; 5. Kontinuität.
Diese Merkmale charakterisieren den Zustand insbesondere von Personen, Dingen, Institutionen und Organisationen, Normen sowie Prozessen in einer Gesellschaft. Dabei gehe ich davon aus, dass Historizität, Authentizität, Integrität, Legitimität und Kontinuität konstitutiv sind für das Zusammenleben in einer freiheitlich-demokratischen, pluralen und den Werten sowie Übereinkünften des multilateralen Völkerrechts verpflichteten Gesellschaft.
Unter Beweis stellen Archive
- Historizität, indem sie Personen, Dinge, Institutionen und Organisationen, Normen sowie Prozesse in ihrer geschichtlichen Entwicklung dokumentieren und darauf bezogene Wissensansprüche über die Vergangenheit regulieren;
- Authentizität, indem sie die Echtheit und Wahrheit gesellschaftlicher Tatsachen und Phänomene belegen und kontrafaktische Behauptungen widerlegen;
- Integrität, indem sie die fortgesetzte, bedingungslose und unantastbare Wertebindung von Entitäten und Prozessen in einem pluralen und liberalen Rechtsstaat demonstrieren und damit antiplurale und illiberale Wertesysteme herausfordern;
- Legitimität, indem sie die Rechtmäßigkeit und Anerkennungswürdigkeit von Personen, Dingen, Institutionen und Organisationen, Normen sowie Prozessen begründen und dadurch unrechtmäßigen Machtansprüchen entgegenwirken;
- und schließlich Kontinuität, indem sie durch die Angebote der Historizität, Authentizität, Integrität und Legitimität eine Gesellschaft stabilisieren und widerstandsfähig machen, gegen Angriffe von außen und innen.
Funktionale Archive sind also unverzichtbar für eine Gesellschaft, die ihre Normen, Institutionen und Prozesse sowie die Vielfalt und Freiheit des Zusammenlebens durch diese fünf hohen Güter absichern will. Oder, anders formuliert: „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“.
Für Archive können diese Zusammenhänge eine schwerwiegende und unangenehme Konsequenz haben: Seien es Widersacher im Innern einer Gesellschaft oder solche, die von außen kommen, wer die Historizität, Authentizität, Integrität und Legitimität der tragenden Elemente eines Gemeinwesens in Frage stellen und damit dessen Kontinuität zerstören will, wird vorrangig die Auslöschung der Archive betreiben. Auch für diesen Sachverhalt sind aus der Geschichte zahlreiche Beispiele bekannt.
2.2. Kulturpolitik
Spätestens an diesem Punkt der Argumentation wird aber deutlich, dass sich aus der kulturhistorischen Perspektive auf die Funktion von Archiven für eine widerstandsfähige Gesellschaft zwangsläufig auch Fragen zutiefst politischer Natur ergeben: Wenn es zutrifft, dass Archive zu den Garanten pluraler, liberaler und rechtsstaatlicher Gemeinwesen gehören und es vor allem Archive sind, die Wissens- und Machtansprüche verifizieren oder falsifizieren können – erfahren Archive dann auch diejenige politische und gesellschaftliche Wertschätzung, die dieser buchstäblich existentiellen Funktion angemessen ist?
Wenn es weiterhin richtig ist, dass Archive gerade in Zeiten weitreichender kultureller, politischer und gesellschaftlicher Umbrüche ein wesentlicher kultureller und gesellschaftlicher Stabilitätsfaktor und damit potentiell auch besonderen Gefährdungen ausgesetzt sind – schlägt sich das rezente politische Bekenntnis zur ‚Zeitenwende‘ auch in einer ‚Politikwende‘ nieder, die durch speziell auf die Bedürfnisse von Archiven zugeschnittene Investitions- und Förderprogramme ihre operative Leistungsfähigkeit, ihre infrastrukturellen Rahmenbedingungen sowie ihren Schutz vor Naturkatastrophen, Sabotage und bewaffneten Konflikten erhöht?
Und schließlich, drittens: Wie viele Expert:innen-Plattformen, Runden Tische oder andere reguläre Austauschformate gibt es in Deutschland, in denen die für die Archive politisch Verantwortlichen mit Archivarinnen und Archivaren sowie den relevanten Fachverbänden nach Antworten auf diese und weitere Fragen suchen und diese Antworten in politische Strategien und konkrete Fördermaßnahmen übersetzen?
Vermutlich liegt es an meiner Unkenntnis, dass ich diese Fragen überhaupt stelle. Gewiss werden Sie mir Ihre sachkundigen Antworten darauf prompt entgegenrufen –was mich tatsächlich freuen würde, denn ich muss gestehen, dass ich bei meinen eigenen Recherchen zu diesen Fragen leider wenig Erfolg hatte.
Immerhin, ein gutes Beispiel aus jüngster Zeit für die zielgerichtete Förderung von Archiven im Bereich der digitalen Innovation und Transformation ist das Neustart Kultur-Programm „Wissenswandel“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Mit mehr als 24 Mio. Euro wurden in den Jahren 2021 und 2022 insgesamt 751 Digitalisierungsprojekte an Archiven und Bibliotheken gefördert, davon 304 an Archiven in öffentlicher Trägerschaft.[vii] Nicht antragsberechtigt waren allerdings Einrichtungen, die sich in Trägerschaft des Bundes oder der Länder befinden oder vom Bund oder den Ländern überwiegend finanziert werden. Dies ist bedauerlich, denn auch in diesen wichtigen Archiven bestehen mitunter beträchtliche Bedarfe in den Bereichen der Digitalisierung von Archivgut sowie der digital gestützten Erschließung und Vermittlung.
Vielleicht täusche ich mich, aber mein persönlicher Eindruck ist, dass seit geraumer Zeit die politische Befassung mit den Bedarfen leistungsfähiger Archive in Deutschland zu kurz gekommen ist und daher ihre strategische und systematische Stärkung in unterschiedlichen archivalischen Handlungsfeldern deutlich geringer ausfällt, als dies mit Blick auf die politische, kulturelle und gesellschaftliche Funktion von Archiven angezeigt wäre. Sollten Sie diese Einschätzung teilen, meine sehr geehrten Damen und Herren, so möchte ich Sie als Expertinnen und Experten ebenso wie als Interessenvertretung des gesamten Archivwesens in Deutschland dazu ermutigen, in Ihren Gesprächen mit politisch Verantwortlichen und den Trägern von Archiven nicht nur diese Handlungsbedarfe zu benennen und Handlungsoptionen aufzuzeigen, sondern Ihrem Gegenüber auch die übergeordnete Logik einer markant verbesserten Archivförderung angesichts der ‚Zeitenwende‘ zu vermitteln: „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“.
2.3. Kulturförderung
Wir haben Archive aus kulturgeschichtlicher und politischer bzw. kulturpolitischer Perspektive betrachtet und dabei eine markante Diskrepanz wahrgenommen zwischen der stabilisierenden Funktion von Archiven für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen gerade in Zeiten des Umbruchs einerseits und dem Maß der politischen Aufmerksamkeit und Wertschätzung für diesen Sachverhalt andererseits. Zum Abschluss will ich gemeinsam mit Ihnen noch kurz der Frage nachgehen, welcher Stellenwert Archiven in der Kulturförderung in Deutschland zukommt. Da dies hier weder abschließend noch ausführlich geschehen kann, will ich die Frage exemplarisch behandeln. Am Beispiel der Fördertätigkeit der Kulturstiftung der Länder möchte ich durchaus auch selbstkritisch zeigen, wo für Archive Potentiale und Grenzen in der Kulturförderung bestehen und welche Handlungserfordernisse sich daraus ableiten lassen. Ich möchte auch deswegen über die Arbeit der Kulturstiftung der Länder sprechen, weil es aus meiner Sicht unanständig wäre, wenn ich als Vorstand einer kulturfördernden Stiftung Kritik und Forderungen an Andere richte, ohne das Handeln dieser Stiftung im Hinblick auf die Archivförderung selbst auf den Prüfstand zu stellen.
Als gemeinsame Stiftung der 16 deutschen Länder ist es die Aufgabe der Kulturstiftung der Länder, „Kunst und Kultur nationalen Ranges“ zu fördern und zu bewahren, so formuliert es die Satzung der Kulturstiftung der Länder. Dieses sehr weit gefasste Mandat hat es der Kulturstiftung der Länder in den letzten vier Jahrzehnten ermöglicht, auch Archive zu fördern, wenn diese gemeinnützig oder Körperschaften öffentlichen Rechts sind. Mit mehr als 6 Millionen Euro hat die Kulturstiftung der Länder so die Erwerbung von Archivgut mit gesamtstaatlicher kultureller Bedeutung ermöglicht, darunter sogenannte Adelsarchive, Verlagsarchive sowie Archive von Autorinnen und Autoren sowie Künstlerinnen und Künstlern. In kleinerem Umfang gewährt die Kulturstiftung der Länder weiterhin finanzielle Unterstützung für Ausstellungs- sowie Konservierungs- und Restaurierungsprojekte in Archiven. Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) wurde im Jahr 2011 mit einer Initiativförderung der Kulturstiftung der Länder gegründet. Bis heute leitet die Kulturstiftung der Länder die Mittel der Ländergemeinschaft an die KEK weiter und wirkt in den Gremien der KEK mit. Darüber hinaus sind Archive und Archivgut immer wieder Gegenstand von Veröffentlichungen der Kulturstiftung der Länder.
Vor dem Hintergrund der Hochwasserkatastrophen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 hat die Kulturstiftung der Länder die Notfallallianz Kultur ins Leben gerufen.[viii] Die Notfallallianz Kultur ist ein gesamtgesellschaftliches Bündnis für Kultur in Krisen und Notfällen und versteht sich als bundesweite Wissensplattform für Institutionen und Organisationen, die in Krisen- und Notfallsituationen einen Beitrag zur Notfallhilfe im Bereich Kultur leisten. Ich freue mich außerordentlich, dass zu den zahlreichen Partnern der Notfallallianz Kultur die Bundeskonferenz der Kommunalarchive im Deutschen Städtetag (BKK), das Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH) und nicht zuletzt der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) gehört. Die Notfallallianz Kultur hat kürzlich einen Aktionsfonds aufgelegt, der auf Antrag Mittel zur Notfallhilfe und Notfallprävention bereitstellt. Auch Archive sind für diesen Aktionsfonds der Notfallallianz Kultur antragsberechtigt.
Entscheidend ist hier das Wort „auch“, meine sehr geehrten Damen und Herren. Denn es zeigt an, dass die Förderaktivitäten der Kulturstiftung der Länder zwar auch für Archive relevant sind, dass es aber kein Förderprogramm gibt, das auf die speziellen Bedürfnisse von Archiven zugeschnitten wurde und ausschließlich Archiven als antragstellenden Einrichtungen offensteht. Die Förderung von Archiven aus Mitteln der Kulturstiftung der Länder ist damit weder strategisch noch systematisch. Sie wirkt vielmehr sporadisch und ephemer.
Ich behaupte, dass dieser für die Kulturstiftung der Länder erhobene Befund kein Einzelfall ist, sondern charakteristisch für die öffentliche Kulturförderung in Deutschland. Dabei liegt es gewiss auch in der Natur der Sache, dass diese öffentliche Kulturförderung ihren Fokus nur auf ausgewählte Themen und Gegenstandsbereiche richtet und deswegen davon abweichenden oder darüber hinausgehenden Bedarfen auf Seiten der Archive nicht immer entsprechen kann.
Dennoch, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn es stimmt, dass Archive für die kulturelle, politische und soziale Stabilität eines Staates unverzichtbar sind, und wenn es weiterhin zutrifft, dass es an politisch verantworteten, Sektor übergreifenden Strategien, Konzepten und Handlungsplänen zur ganzheitlichen Stärkung von Archiven fehlt, so müsste es nach meiner Überzeugung eine Aufgabe der öffentlichen Kulturförderung in Deutschland sein, durch gezielte Anreize ihren spezifischen Beitrag dazu zu leisten, dass diese Defizite langfristig ausgeglichen werden: Durch einen strategiegeleiteten Austausch der relevanten Interessensgruppen sowie, darauf aufbauend, durch Fördermaßnahmen, die sich ausschließlich an den Bedarfen von Archiven orientieren
3. Zwei Vorschläge
Damit ich jedoch hier nicht nur Forderungen formuliere, erlaube ich mir, Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, abschließend ein Angebot zu machen – genau genommen, sind es zwei Vorschläge:
1. Sollten Sie dies für sinnvoll erachten und wünschen, wird die Kulturstiftung der Länder den Verband deutscher Archivarinnen und Archivare auch finanziell dabei unterstützen, Austauschformate zu entwickeln und umzusetzen, durch die Strategien und Handlungsempfehlungen zur nachhaltigen Stärkung von Archiven in Deutschland erarbeitet werden.
2. Darüber hinaus möchten wir Ihnen vorschlagen, gemeinsam mit Ihnen ein zunächst moderat dimensioniertes Förderprogramm zu entwickeln, das ausnahmslos Archiven zu Gute kommen und so auch den bestehenden strategischen Förderbedarf in diesem Bereich illustrieren soll.
Ich würde mich freuen, wenn es uns auf diese Weise gemeinsam gelänge, die Arbeit von Archiven in Deutschland konkret zu unterstützen.
Denn es gilt, heute vielleicht mehr denn je zuvor: „Eine resiliente Gesellschaft braucht starke Archive“.
Vielen Dank!
[i] Paolo Cecconi, Systemrelevanz der Archive. Haager Konvention und Funktionalität des Staates. Vortrag bei der Mitgliederversammlung 2024 der Deutschen Gesellschaft für Kulturgutschutz e. V., 17.-18. August 2024.
[ii] Felix Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker. Dritter Teil. Geschichte von Staedten und Voelkern (Horographie und Ethnographie) (Leiden: E. J. Brill, 1958), 378–379.
[iii] Ebenda, 381.
[iv] Caius Plinius Secundus (der Ältere), Naturalis Historiae Libri XXXVII. Liber VI 123; zitiert nach Kai Brodersen (Hrsg.), C. Plinius Secundus d. Ä. Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch VI. Geographie: Asien (Zürich und Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 1996), 90–91, 123.
[v] André Chastel, Il sacco die Roma 1527 (Turin: Giulio Einaud editore, 1983), 80.
[vi] Ebenda, 82f.
[vii] https://www.bibliotheksverband.de/wissenswandel-digitalprogramm-fuer-bibliotheken-und-archive-innerhalb-von-neustart-kultur (Abgerufen am 24.10.2024)
[viii] https://notfallallianz-kultur.de/ (Abgerufen am 24.10.2024)