Das MUCEM in Marseille, 2013 als herausragendes Projekt der Kulturhauptstadt Europas Marseille-Provence eröffnet, ist ein Museum – und es ist doch kein Museum im traditionellen Sinn: Priorität hat die Bevölkerung, die in Marseille und Umgebung lebt. Üblicherweise beschäftigen Museen sich mit der Vermittlung von Objekten, die sich seit Generationen in ihren Sammlungen befinden. Sammlungen, die in speziellen historischen Kontexten aufgebaut wurden und nicht mehr zum globalen (oder lokalen) Kulturkanon gehören. Das MUCEM, Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, dagegen versteht sich als Gesellschaftsmuseum. So begegnen einem in der Ausstellung des Museums beispielsweise auch alltägliche Küchengeräte aus Nordafrika wie ein Couscoussier, ein Tontopf zum Kochen von Couscous, aus Tipaza in Algerien. Oder es wird mit Hilfe von Bürgerinnen und Bürgern eine Sammlung von 600 Objekten aufgebaut, die den Umgang Frankreichs mit der COVID-Pandemie dokumentieren. Immer geht es um den direkten Bezug zu den Menschen mit ihren Geschichten.
Cécile Dumoulin, Leiterin der Abteilung für kulturelle Entwicklung und Publikumsentwicklung des MUCEM in Marseille, spricht über den Unterschied von Diversität und Inklusion, über die Rolle, in die jeder Museumsbesuchende schlüpft und darüber, wie ein Museum in Zeiten von Krise und Wandel relevant bleibt. Mit der Vision, ein Museum nah an den Menschen zu bauen, bereitete sie über drei Jahre die Eröffnung des Museums 2013 vor: im Mittelpunkt eine Strategie, wie man ein diverses Publikum anspricht und in Entscheidungsprozesse einbezieht. Doch wie erreicht man ein Publikum, das vielfältiger ist als die Themen, die das Museum bieten kann?
Arsprototo: Frau Dumoulin, Sie sind zuständig für die kulturelle Entwicklung und die Publikumsentwicklung Ihres Hauses. Von welcher Kultur sprechen wir denn eigentlich? Die der Menschen, des Museums, der Ausstellungspraxis?
Cécile Dumoulin: Der Begriff ‚kulturelle Entwicklung‘ ist in Frankreich sehr gebräuchlich. Er bezeichnet das kulturelle Angebot des Museums und wie man es den Besuchern und Besucherinnen präsentieren möchte. Aber das MUCEM ist etwas Besonderes, da es ein Gesellschaftsmuseum ist. Es thematisiert die heutigen Gesellschaften im Mittelmeerraum und in Europa. Unser kulturelles Angebot besteht also darin, den Besuchern Geschichten über sie selbst zu erzählen. Deswegen ist, wenn wir über kulturelle Entwicklung sprechen, letztlich sowohl das Angebot des Museums gemeint als auch die ‚Erfahrungskompetenz‘ – also das, was das Publikum zu einem Thema beitragen kann. Wir versuchen möglichst viele partizipative Formate zu nutzen, sodass das Ausstellungsangebot nicht nur auf professioneller Expertise und universitärem Wissen aufgebaut wird. Zum Beispiel binden wir Tänzer, Choreografen, Amateure oder einfach das Publikum ein, um sich kollektiv kreativ einzubringen. Damit wollen wir verdeutlichen, dass wir Kultur nicht besitzen, sondern gemeinsam schaffen und erleben.
Was bedeutet Diversität und Inklusion für Sie und für das MUCEM?
Für mich sind Diversität und Inklusion zwei unterschiedliche Aspekte. Diversität bezieht sich auf das Phänomen, das auch andere französische Museen betrifft: Wir sind ein Nationalmuseum und das bewirkt etwas bei unserem Publikum. Man muss eine Schwelle überschreiten – durch eine Eingangskontrolle gehen und in ein möglicherweise einschüchterndes Gebäude eintreten. Schon allein die Architektur ist zwar wunderschön, aber auch etwas abweisend – umgeben von einer Mauer und einem Wall, durch ein Gitter abgeschirmt. Selbst symbolisch haben wir also keine hohe Durchlässigkeit nach außen. Unser Publikum zeigt dementsprechend eine Unterrepräsentation der breiten Bevölkerung und eine Überrepräsentation der ausgebildeten und privilegierten sozialen Schichten.
Zudem befinden wir uns in Marseille, einer Stadt mit erheblichen sozioökonomischen Schwierigkeiten. Marseille nimmt in Frankreich eine besondere Stellung ein, da das Stadtzentrum nicht gentrifiziert wurde. So bleibt das Zentrum der Stadt weiterhin ein Wohnort der breiten Bevölkerung, und das MUCEM befindet sich in direkter Nähe zu wirklich beliebten Vierteln. Dennoch bleibt es eine fortwährende Herausforderung, diese Bevölkerungsgruppen für das Museum zu gewinnen. Die Frage der Vielfalt betrifft für mich zunächst diese unsichtbare, aber mächtige Barriere zwischen der Stadt in ihrer gesamten Vielfalt und dem Museumsbesuch – der in den Vorstellungen der Menschen immer noch einer Elite vorbehalten zu sein scheint. Dieses psychologische Hindernis stellt häufig die größte Barriere dar. Dann gibt es zwei weitere Barrieren: die finanzielle Hürde und die der Mobilität, welche in Marseille aufgrund des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs besonders groß ist. Wenn wir die beiden anderen Hindernisse überwinden, erleichtern wir die Sache schon erheblich. Wir haben verschiedene anreizschaffende Maßnahmen eingeführt, die eher konzeptionell oder praktisch sind. Der „Destination MUCEM“-Bus bringt zum Beispiel Besucher und Besucherinnen sonntags kostenlos ins Museum und wieder nach Hause. Konzeptionelle Initiativen wie der „Conseil des public“, der Besucherrat, den wir vor einem Jahr ins Leben gerufen haben, dienen dazu, das Leitungskomitee des Museums in Bezug auf die Inklusion der am weitesten entfernten Zielgruppen zu beraten.
Es muss sich also physisch und mental etwas bei den Besuchenden verändern. Beide Beispiele zeigen, wie die physische und mentale Bewegung zusammenspielen. Der Bus steht für einen tatsächlichen Ortswechsel. Ein Museumsbesuch ist aber auch ein mentaler Ortswechsel, bei dem man eine neue Rolle einnimmt – man schlüpft ins Kostüm des Museumsbesuchers.
Die Frage der Inklusion geht also noch etwas weiter. Hier besteht die Herausforderung darin, alle dahin zu bewegen, das Kostüm des Museumsbesuchers und der Museumsbesucherin anzuprobieren. Gleichzeitig bewegt sich das Museum aber auch zum Publikum hin, physisch und mental. Inklusion ist also genau das: ein doppelter Umzug, bei dem sich beide Seiten aufeinander zu bewegen.
Ein Museum engagiert sich grundsätzlich in der Ausstellung und Vermittlung von Inhalten, die oft bereits seit mehreren Generationen Teil seiner Sammlungen bzw. seines Bildungsauftrags sind. Doch diese Inhalte wecken heute möglicherweise nicht mehr das gleiche Interesse wie vor 100 Jahren. Im MUCEM jedoch finden sich selten Objekte klassischer Kunst. Es scheint, dass die Ausstellungen und Objekte speziell für das Museum entwickelt wurden. Es macht den Eindruck, dass die Frage nach der Vermittlung und dem Publikumsinteresse zuerst gestellt wurde und die Sammlung sich erst anschließend konstituiert hat. Wie kuratieren Sie Ihre Ausstellungen und wie bauen Sie Ihre Sammlung auf?
Das Museum hat einen politischen Zweck. Unsere Sammlung wurde, wie die jedes anderen französischen Nationalmuseums, mit dem Ziel konstituiert, ein materielles und immaterielles Erbe zu bewahren, das durch die Urbanisierung zu verschwinden drohte. Den Ursprung unserer Sammlung haben wir vom 2005 geschlossenen Pariser Volkskundemuseum sowie der Europa-Sammlung des Museums der Menschen (Museum für Vorgeschichte und Anthropologie) geerbt. Tatsächlich bauen wir unsere Sammlung nach und nach auf und führen Befragungen durch Open Calls auf Social Media durch. Zum Beispiel gab es einen Open Call zum Thema Hochzeiten, wodurch wir 14 Hochzeiten in 14 Ländern rund ums Mittelmeer in einer Ausstellung dokumentieren konnten. Ich sehe uns als Resonanzboden für die heutigen Gesellschaften. Teilhabe ist daher intrinsisch mit unserer Sammlung verbunden. Themen wählen wir nach großen gesellschaftlichen Ereignissen, wichtigen Phänomenen des 21. Jahrhunderts und durch das Beleuchten von wenig beachteten Aspekten eines Themas aus, wie bei der Ausstellung „Revenir“, dem Thema der Rückkehr ins Heimatland von Geflüchteten.
Aktuelle Debatten über Programme zur kulturellen Teilhabe beinhalten oft die Institutionskritik, dass Projekte als symbolische Geste eingesetzt werden, ohne strukturelle Veränderungen zu bewirken. Wie gestalten Sie nachhaltige kulturelle Teilhabe und binden das Thema in die Gesamtstruktur des Museums ein?
Laut dem Museumsgesetz von 2002 basieren Museen in Frankreich auf zwei Säulen: der Sammlung und dem Publikum. Die Teilhabe des Publikums sollte also nie nur Aufgabe einer einzigen Abteilung sein, sondern in die Verantwortung des gesamten Museumsteams fallen.
Der „Conseil des public“, der sich zweimal im Jahr mit der Museumsleitung trifft, hat genau das zum Ziel. 20 Mitglieder werden ausgewählt, die Experten für ihr jeweiliges Publikum sind und als Vermittelnde fungieren. Dazu gehören zum Beispiel die Kriminalpolizei, gemeinnützige Vereine und der Fußball-Fanclub von Olympique Marseille. Zweimal im Jahr kommt dieser Rat zusammen und das Museum präsentiert seine geplanten Angebote und Maßnahmen und erhält Anmerkungen und Ratschläge des Beratungsgremiums. Es handelt sich also um eine vorausschauende Bewertung, damit wir dies gleich bei der Gestaltung von Projekten berücksichtigen können und nicht erst retrospektiv die Resonanz von Projekten beurteilen.
Jede Sitzung bei uns ist von informellen Momenten wie Führungen durch die Sammlung und einem Mittagessen begleitet. Es sind gerade diese Momente, in denen Ideen aufkommen und geteilt werden. Ein ermutigendes Ergebnis sind die engen Verbindungen zwischen Kuratoren und Kuratorinnen und dem Besucherrat, wodurch eine inklusive und publikumsnahe Programmgestaltung entsteht. Die Entscheidungsstruktur wird damit grundsätzlich verändert.
Kulturelle Teilhabe wird stark vom sozioökonomischen Umfeld und dem familiären Hintergrund beeinflusst. Bedeutende Teile der Bevölkerung nehmen immer noch nicht an kulturellen Angeboten der Museen teil. Wie erreichen Sie Ihre Community, wer ist das und wen würden Sie gerne noch erreichen?
Da muss man bescheiden sein. Wir bleiben ein Museum. Dieses Label bringt besondere Herausforderungen mit sich. Viele Menschen denken nicht daran, ein Museum zu besuchen, weil sie sich nicht als Teil dieser Welt wahrnehmen. In Frankreich versucht man schon seit über 40 Jahren, die Museen weniger weihevoll erscheinen zu lassen und für eine breitere Bevölkerungsgruppe zugänglicher zu machen. Durch die Programmgestaltung von Ausstellungen und Veranstaltungen versuchen wir so viele Zielgruppen wie möglich zu erreichen. Zum Beispiel haben wir „Collect“, ein Gesellschaftsspiel, dass den Umgang mit den Sammlungen auflockert, entwickelt.
Im Sommer bieten wir beliebte Ausstellungen an, die Familien einbeziehen. Ausstellungen mit pädagogischem Fokus richten sich an schulische Zielgruppen, da wir Verbindungen zu Schulprogrammen haben. Die familienfreundlichen Maßnahmen wie der MUCEM-Bus und Workshops für Kinder haben erreicht, dass viele Besucher regelmäßig wiederkommen.
Wir nutzen unsere großen Außenbereiche, um das Erlebnis von Geselligkeit zu schaffen. Das klappt besonders gut bei Konzerten, zum Beispiel mit Rappern aus Marseille. Wobei wir davon profitieren, dass Marseille eine wichtige Hip-Hop-Szene hat. Außerdem kommen viele Leute zum Flanieren in unseren Außenbereich. Viele Leute kommen zu uns, ohne unbedingt die Ausstellung zu besuchen und machen sich so schrittweise mit dem Museum vertraut. So finden sie eines Tages vielleicht den Weg hinein. Es ist also ein langfristiger Prozess und eine große Herausforderung für die Museumsleitung in der Gestaltung des Angebotes.
Die Veranstaltungsreihe „Les procès du siècle“ (Die Prozesse des Jahrhunderts) spricht aktuelle gesellschaftliche Themen an. Die Themen der Veranstaltungen sind prägnant formuliert, wie z. B.: „Ist Ökologie den Reichen vorbehalten?” Wir laden Experten ein, häufig Persönlichkeiten mit großen Communities in sozialen Netzwerken, und ziehen so ein junges Publikum (20- bis 30-Jährige) an, das sonst selten in klassische Ausstellungen geht. Diese Reihe ist regelmäßig ausverkauft und erzielt darüber hinaus Reichweite durch begleitende Podcasts und Publikationen. Die Reichweite solcher Programme ist im Vergleich zu den 400.000 Besuchern von Ausstellungen mit 5.000 Teilnehmenden pro Saison zwar geringer, das MUCEM kann sich jedoch als modernes, dialogorientiertes Museum positionieren. Durch diese diversifizierte Programmgestaltung und die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle versuchen wir unsere Community aufzubauen. Was aber immer noch zu sehr fehlt, sind die prekären Gemeinschaften. Wir bringen diese entfernten Zielgruppen zwar punktuell zu uns, aber nicht in großen Mengen.
Worauf achten Sie persönlich am meisten, wenn Sie eine Ausstellung besuchen?
Ich mag es, wenn man eine Erfahrung machen kann und wenn man an mich als Besucherin gedacht hat. Wie wenn man jemanden zu Hause bei sich empfängt, muss man an seinen Gast gedacht haben und Platz für ihn oder sie lassen. Ausstellungen sollten auf einem Austausch zwischen Besucher und Inhalt basieren, sodass wir uns auf einer Ebene begegnen, die sowohl Wissen und Lernen als auch Emotion und menschliche Verbindung umfasst.
In welche Richtung beobachten Sie die aktuelle Entwicklung der Kulturinstitutionen und wie sollten Sie sich Ihrer Meinung nach entwickeln? Wie sieht das Museum in 20 Jahren aus?
Das Museum muss aus seinem Elfenbeinturm herauskommen und wirklich mit der Gesellschaft in Verbindung stehen und in Kontakt bleiben. Ein Museum, was auch immer es ist, bleibt immer ein politisches Objekt, ein Objekt des Lebens in der Stadt. Es muss also seinen Platz in der Stadt haben. Letztlich ist das, was ich an Museen mag und woran meiner Meinung nach mehr gearbeitet werden sollte, die Fähigkeit, Besuchenden eine Möglichkeit zu bieten, über sich selbst hinauszugehen, ihren Alltag, ihre Probleme zurückzulassen und den Blick aufs Wesentliche zu weiten. In Frankreich wurde die Kultur während des Lockdowns leider nicht als wesentlich angesehen. Aber genau das möchte ich geändert sehen: dass Museen und im weiteren Sinne alle Kulturstätten, Theater, Bibliotheken als unverzichtbare Orte anerkannt werden, als Orte des gemeinsamen Erbes, der Kultur, der Kunst in ihrer befreienden Wirkung und als Ort, an dem sich jede und jeder entfalten kann.
Liebe Frau Dumoulin, herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Dela Miessen, Mitarbeit: Juliette Thouin, Johannes Fellmann