Junge Göttin für die Ewigkeit
Sie ist von schwebender Eleganz, diese junge Frau mit schlankem Körper. Keine Bewegung noch emotionale Regung scheint in ihr zu wohnen; sie wirkt ruhig und konzentriert, ihre Aufgabe als Verkörperung einer Pose vollendet zu leisten. Der Bildhauer Hans Joachim Albrecht beschrieb bei Rodin das Volumen, „das aus Muskeln, Eingeweiden und Skelett“ bestehe „in einer dehnbaren Haut: dagegen ist bei Maillol der Körper wie ein Gefäß von straff gewölbten Wandungen umschlossen“. Und so steht sie auf einer Plinthe, fest auf dem rechten, durchgedrückten Bein, das linke eben angewinkelt in leichtem Kontrapost. Den Kopf mit der vorne ausladend, zum Haarkranz hochgesteckten Frisur schnitzte Maillol selbstbewusst, den Blick leicht links nach vorne gerichtet. Etwas rund und pausbackig wirkt das Gesicht mit feiner Nase, den kleinen Augen, die obere Lippe lässt der Bildhauer leicht nach vorne über die untere gewölbt erscheinen. Ein Hauch von Kleid betont den nackten Körper ebenso wie es ihn enthüllt; von den Schultern heruntergerollt, legt es die Brüste frei und umgibt die Figur bis zu den Fesseln mit einer zweiten Haut. Dass wir es mit textilem Material zu tun haben, zeigt der Blick auf die Hände der Figur – nah am Körper, halten sie den überschüssigen Stoff. In der Rückenansicht überwiegt die Illusion der Nacktheit, zwischen den Schulterblättern fällt, leicht gerollt, spielerisch das lange Haar. Stramme, knackige Pobacken leicht nach rechts verschoben, geben der Rückenansicht eine ebenso anmutige wie klare Haltung.
Mit diesem Verweis auf ein wenn auch modifiziertes klassisches Standbild leitet der Bildhauer sein Thema ein: das des stehenden jungen Mädchens oder der Frauenfigur in der Nachfolge antiker Göttinnen, als Pomona oder Flora. Reduktion und Klassik versus Zeitgeist und Ausdruck? Von Rodin kennen wir die drängenden Gesten, die er seinen Modellen abverlangt, wenn er sie zeichnet, sei es bei ausladender Tanzbewegung oder beruhigter Pose, um den Reiz des Überzogenen zur Darstellung zu bringen. All das finden wir bei Aristide Maillol nicht. Als möchte er der Antipode sein zum Realisten Rodin, dessen Spiel mit der großen Gestik er mit fester, in sich ruhender Gebärde begegnet. Vielmehr wählt Maillol das Volumen eines antiken Körpers zum Ausgangspunkt seiner plastischen Arbeit und zeigt damit jene wirkungsvolle Schwerkraft, die sich in der körperlichen Anspannung wiederfindet. Sie wird zum gestalterischen Grundprinzip in allen Bereichen seiner Bildhauerei, deren gestalterischer Ansatz die Themen des Sitzens und des Hockens oder des Stehens variiert.
„Eine Skulptur muss schön sein, auch wenn ihre Oberfläche zerstört und kieselglatt geschliffen ist“, äußerte sich Maillol gegenüber Harry Graf Kessler, dem engen Freund, Förderer und Sammler. Faszinierend, wie sich die Bildhauer in ihrer Gegensätzlichkeit umkreisten, wie sie im Lob die Kritik versteckten und kritisch den anderen anerkannten. So zitierte Octave Mirbeau, französischer Journalist, Kunstkritiker und Romanautor, 1905 Rodin in seiner Kritik über Maillol in der Zeitschrift „La Revue“ vom 1. April: „Maillol ist ein Bildhauer, der so groß ist, wie die größten überhaupt. […] Maillol hat die Begabung zur Bildhauerei. […] Das Bewundernswerte an Maillol, das Ewige, wie ich sagen könnte, ist die Reinheit, die Klarheit und die Einfachheit sowohl in seiner Arbeit wie in seinem Denken.“ Das „Ewige“, Klassische, Essentielle bestimmt Maillol, doch erkannte er die populäre Überlegenheit Rodins an: „Die Schönheit von Rodins Kunst besteht in der Leidenschaft, die er hinlegt, in den Ideen, die in ihr enthalten sind. […] Rodin ist ein Genie, das die ganze Epoche bewegt hat. […] Ein solcher Mann, wie er, könnte ich nicht sein.“
Aber Maillol fand auch kritische Worte für seinen großen Zeitgenossen, von dem er sich abzusetzen wusste, weil er eine ganz andere Idee von Skulptur entwickelte: „Rodin spricht ständig vom Modelé. Ich verstehe das nicht“, so Maillol. „In der Natur sehe ich kein Modelé, ich sehe nur Formen, Formen, die ich so mit meinen beiden Händen greifen kann. Was ich wiedergeben will, das sind die schönen Formen, die ich sehe.“ Rodin hingegen empfahl, „die Volumen zu übersteigern“. Und Maillol hielt das nicht für richtig, denn „ich will nicht übertreiben, und alles Nötige muß trotzdem vorhanden sein. Rodin seinerseits bringt tausend Profile, tausend Facetten. Aus der Nähe besehen, ist es verblüffend, aber in der Natur ist alles anders“. Der harmonische Aufbau des menschlichen Körpers in Bewegung und Gegenbewegung, in der Anspannung und Entspannung der Glieder und die dichte Plastizität der Körpervolumen in vereinfachend-abstrahierender Ausführung interessierten ihn mehr als die detaillierte, um Naturtreue bemühte Körperabbildung. Maillol wehrte sich gegen die Doktrin einer geschmacklichen Vereinnahmung, wenn er an anderer Stelle das Vorgehen seines bildhauerischen Konkurrenten beschreibt: „Rodin kreist um seine Statue herum und modelliert dabei Profile: das ist beinahe wie Zeichnen. Ich dagegen konzentriere mich ausschließlich auf die Form.“ Vor allem in der früh- und hochklassischen Periode der griechischen Skulptur, die Maillol auf seiner Reise nach Griechenland 1908 mit Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal etwa auf der Akropolis entdecken konnte, fand Maillol die Vorbilder für seine die Form vereinfachende und von Details abstrahierende Arbeitsweise.
Kesslers Auftrag aus dem vorangegangenen Jahr 1907, einen Radfahrer nach dem lebenden Modell Gaston Colin so naturgetreu und detailliert wie möglich wiederzugeben, widersprach somit gänzlich der Intention von Maillols abstrahierender und stilisierender Arbeitsweise. „Das ist keine Idealfigur“, schreibt Maillol über seine Skulptur des Radrennfahrers („Le coureur cycliste“). „Wenn ich die Jugend hätte darstellen wollen, dann hätte ich etwas anderes gemacht. […] Es handelt sich um ein Porträt: das Bildnis des jungen Colin. In der Antike hat man Athletenporträts gemacht. […] Vielleicht bin ich der erste, der wieder eine Athletenstatue geschaffen hat.“ Nicht nur die Porträtähnlichkeit, die Feingliedrigkeit und Zartheit des männlichen Körpers wird zu einer Ausnahme in Maillols Werk. In seiner Feinheit ließe sich auch eine Hommage an Rodin sehen, bemerkte Antoinette Le Normand-Romain in ihrem Katalogbeitrag zur Ausstellung „Aristide Maillol“ (Berlin, Lausanne 1996), – in der Modellierung aber auch eine Verneigung vor großen Renaissancebronzen, etwa dem „David“ von Donatello oder dem „fliegenden Merkur“ von Giambologna. Keine andere bildhauerische Arbeit Maillols wird diese feinnervige Oberfläche aufzeigen, wird einen derart detailgetreuen Realismus aufweisen. Unterstützt wird dieser Eindruck durch das verwendete Gussverfahren, das Wachsausschmelzverfahren, welches weit aufwendiger und arbeitsintensiver ist als das von Maillol üblicherweise angewendete Sandgussverfahren. Das Resultat dieses Verfahrens – eine besonders feine und in der Patina geschmeidige Oberfläche – wurde ausschließlich für die beiden Exemplare des „Radrennfahrers“ angewendet, die für Maillols Freunde und Sammler, den Grafen Kessler und Karl Ernst Osthaus, produziert wurden. Der Künstler jedoch war von diesem einmaligen Auftrag wenig begeistert. Ihn interessierten allein weibliche, gleichsam überzeitliche und nicht männliche oder zeitgeistig-populäre Aktdarstellungen.
Seinen Opponenten im künstlerischen Wettstreit fand Maillol in seinem Bildhauerkollegen Rodin – die Künstlerfreunde suchte er sich in der Malergruppe der „Nabis“: „Gauguin und Denis waren es, die mir zuerst die Augen öffneten, nachdem ich die Akademie verlassen hatte“, so Maillol. Vor allem zwischen ihm und Denis entwickelte sich eine feste Freundschaft seit der ersten gemeinsamen Ausstellung 1896 in der Galerie Le Barc de Boutteville. Später bemerkte Maillol, dass seine ersten Bilder denen von Denis zum Verwechseln ähnlich gewesen wären.
Monumentale Frauenfiguren als Göttinnen für die Gegenwart
Wie eng die Beziehung war und dass sie möglicherweise auch einen Einfluss auf die Entstehung unserer „Jeune fille debout“ hatte, zeigt die etwa zeitgleiche Porträtbüste von Marthe Denis. Wir erfahren dies durch das Tagebuch von Harry Graf Kessler, der seine erste Begegnung mit Maillol vor derselben Büste für den 21. April 1904 notiert hatte. Da heißt es: „Er führte uns gleich ins Atelier […] und zeigte uns seine Arbeiten und Zeichnungen, die Büste von Mme Maurice Denis, eine kleine hockende weibliche Figur.“ Marthe Denis entsprach wohl Maillols Ideal einer Frau, denn es wird nicht bei der hockenden Figur bleiben, sondern Maillol wird Marthe Denis mehrfach porträtieren, wohl schon 1904 und später zwei weitere Male, 1907 respektive 1908, und das Modell des Bildhauers begegnet uns in zahlreichen „Rollen“ natürlich auch in den Gemälden ihres Mannes. Sie gehören zu den wenigen Büsten, die der Bildhauer nach einem Modell erarbeiten wird. Abgesehen von der Wertschätzung Maillols für seinen Freund Maurice Denis, die zu dieser Zeit auch Werke tauschen, scheint es nicht abwegig, in der Ausarbeitung des Kopfes der „Jeune fille debout“ eine Ähnlichkeit mit Marthe Denis zu entdecken: die ausladende, zeittypische Frisur, die das rundliche Gesicht rahmt, der leichte Blick nach oben, die kleine schmale Nase und die Partie der Augen zeigen in Maillols stehendem Mädchen weitere Entlehnungen aus der Physiognomie seines Modells. Später, 1910, wird Maillol neben der „Pomona“ (Frau mit Äpfeln) und zwei weiteren Bronzen auch die „Flora“ für den russischen Sammler Iwan Morosow modellieren. „Flora“, die Göttin der Blüte, in strenger Frontalität gesehen, ähnelt der „Jeune fille debout“, ist eine schlanke und mit durchsichtigem, faltenreichen Gewand elegant bekleidete Schönheit. In den herabhängenden Händen hält sie mit grazil gespitzten Fingern nicht Stoff, sondern eine Blumengirlande. Auch die strenge Achsialität übernimmt und wiederholt Maillol in der „Flora“ und folgt in der Anmut dem Prinzip einer antiken Karyatide, wie sie für die Korenhalle auf der Akropolis in Athen als Pfeiler dient.
Die vier Skulpturen fanden ihre Aufstellung in dem von seinem Freund Maurice Denis mit Wandbildern zur Geschichte der Psyche bestückten Weißen Saal in der Villa des Moskauer Sammlers. Mittels ihrer Bilder und Formensprache übersetzten die Werke beider Künstler die klassische Antike in ihre Zeit und ließen einen Raum entstehen, der im besten Sinne „Moderne Klassik“ erlebbar macht. Maillols „Jeune fille debout“, die wie der „Radrennfahrer“ Aufnahme in die Sammlung von Karl Ernst und Gertrud Osthaus fand, steht am Beginn jener Werke monumentaler Frauenfiguren, die den Zeitgenossen als gegenwärtige Göttinnen gegenüberstanden. Wahrscheinlich für rund zehn Jahre befand sich die „Jeune fille debout“ als Leihgabe von Gertrud Osthaus seit Mitte der 1920er Jahre schon einmal im Museum Folkwang, bevor sie wohl von der Sammlerin nach der Aktion „Entartete Kunst“ der Nationalsozialisten abgezogen wurde. Jetzt kehrte sie aus dem Nachlass Karl Ernst und Gertrud Osthaus glücklich wieder zurück in das Essener Museum.