Der Lenz bringt Herbst und Winter
Schwerverletzt floh der Herzog vor den herannahenden napoleonischen Truppen. In der Schlacht von Auerstedt am 14. Oktober 1806 lebensgefährlich verwundet, war Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel zunächst nach Braunschweig zurückgekehrt. Den Wunsch des Besiegten, dort in Ruhe sterben zu können, sowie seine Bitte, die Stadt zu schonen, verwehrte ihm Napoleon. So blieb dem sterbenden Herzog nur die Flucht ins dänische Exil. Nach dem Tod des Souveräns am 10. November 1806 verließ auch die herzogliche Familie hastig die Residenz. Besonders wertvolle und leicht transportierbare Objekte des „Kunst- und Naturalienkabinett“ benannten Museums nahmen sie mit, vermutlich um diese später verkaufen zu können.
Auch zwei kostbare Elfenbeinfiguren begleiteten die Flüchtenden: Zum einen ein übermütiger Jüngling, mit Trauben und Weinlaub geschmückt, der sich auf einen Satyrknaben zu seinen Füßen stützt. Die zweite filigrane Schnitzarbeit zeigt einen frierenden Greis, der sich an einem lodernden Feuer wärmt. Als Personifikationen von Herbst und Winter erkennt man die antiken Götter Bacchus und Vulkan. Die Figuren des Jahreszeitenzyklus von 1695 waren vermutlich vom Braunschweiger Museumsgründer Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633–1714) beim berühmten Dresdner Hofbildhauer Balthasar Permoser in Auftrag gegeben worden.
Als einer der wichtigsten und einflussreichsten Bildhauer seiner Zeit prägte Balthasar Permoser (1651–1732) den sogenannten Dresdner Barock, er entwarf den virtuosen Skulpturenschmuck des Zwingers und gestaltete singuläre Bildwerke wie die „Apotheose des Prinzen Eugen“ für das Wiener Schloss Belvedere. Ausgebildet in Salzburg und Wien, reiste er mehrmals nach Italien, wirkte unter anderem in Florenz für die Medici. Der sächsische Kurfürst Johann Georg war es, der Permoser 1689 an den Dresdner Hof holte, wo er zum einflussreichsten Botschafter der italienischen Barockformen wurde. Immer wieder widmete er sich der Darstellung der Jahreszeiten – seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ein beliebtes Sujet in der Kunst. Allein drei Zyklen schuf er in Elfenbein, als ersten den Braunschweiger Figurenreigen. Im Wettstreit der deutschen Barockfürsten um die schönsten Kunstwerke avancierte das kostbare Material aus Elefantenstoßzahn, das bereits im Mittelalter breite Verwendung fand, wieder zum begehrten Schnitzmaterial der höfischen Bildhauer.
Warum die Göttinnen Flora und Ceres, Frühling und Sommer symbolisierend, 1806 von Herbst und Winter getrennt wurden und in Braunschweig verblieben, ist unklar. Über hundert Jahre verlor sich die Spur von Herbst und Winter, 1931 dann wurden die beiden Elfenbeinskulpturen in der Kunstsammlung von Harewood House identifiziert, einer traditionsreichen adligen Privatsammlung im englischen Yorkshire. Übereinstimmende Maße, stilistische Details und die ähnlich angebrachten Signaturen am Sockel der Statuetten ließen keinen Zweifel, dass es sich um die beiden vermissten Braunschweiger Jahreszeiten handelte. 2015 gelangten sie aus der Sammlung von David Lascelles, 8. Earl of Harewood, in den britischen Kunsthandel. Von dort glückte nun die sensationelle Heimkehr in die angestammte Sammlung des Herzog Anton Ulrich-Museums.
Nach über zweihundert Jahren sind damit dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Fritz Behrens-Stiftung, der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Rudolf-August Oetker-Stiftung die Braunschweiger Jahreszeiten nun wieder vereint.