Der Garten der Avantgarde
Wiesbaden als Zentrum der Moderne: Der Privatier Heinrich Kirchhoff (1874–1934) kreierte um die Jahrhundertwende eine einzigartige Sammlung der Kunst seiner Zeit, die vom Deutschen Impressionismus über den facettenreichen Expressionismus bis hin zur Abstraktion reichte. So finden sich unter anderem hochwertige Arbeiten von Künstlern wie Paul Klee, Emil Nolde und Franz Marc in seiner Kollektion. Auf Einladung Kirchhoffs kam auch Alexej von Jawlensky nach Wiesbaden und verbrachte hier seinen Lebensabend bis zu seinem Tod 1941. Der aus einer Essener Baudynastie stammende Sammler hatte sich zur Jahreswende 1908 aufgrund gesundheitlicher Schwierigkeiten in der bis dahin preußisch-konservativ wahrgenommenen Kurstadt niedergelassen und begann bereits ein Jahr später seine revolutionäre Kollektion aufzubauen, die dem bestimmenden Geschmack des Kaisers allerdings nicht entsprach. Von Anfang an von dem Gedanken einer öffentlichen Präsentation geleitet, stellte Kirchhoff seine Bilder erstmals 1917 dem zwei Jahre zuvor eröffneten Museum Wiesbaden für eine Ausstellung zur Verfügung. Es sollten drei weitere Schauen folgen. Dass er größere Werkgruppen der bedeutendsten Künstler der Moderne erstehen konnte, lag vor allem auch an seinem persönlichen Kontakt zu ihnen. In seine Villa in der Beethovenstraße 10 kam regelmäßig das Who ist Who der Avantgarde sowie Sammler und Schriftsteller zu Besuch, was anschaulich das Gästebuch illustriert. Eine besondere Rolle spielte dabei sein tropischer Garten, den der Hausherr selbst angelegt hatte, und der Botanik-Freunden und Kunstschaffenden gleichermaßen 20 Jahre lang als Inspirationsquelle diente. Während der Krisenzeit infolge des Ersten Weltkriegs bot dieser außergewöhnliche Ort ein idyllisches Paradies, dessen exotische Pflanzenwelt in zahlreichen Werken der Avantgarde festgehalten ist, beispielsweise in kleinen Künstlerzeichnungen von Paul Klee und Conrad Felixmüller. Das Gipfeltreffen der Moderne in Wiesbaden endete jedoch jäh mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten: 1933/34 wurde Kirchhoffs Sammlung aus dem Museum Wiesbaden – dem er einen Großteil seiner Werke als permanente Leihgaben zur Verfügung gestellt hatte – entfernt. In der Folge gelangten die Kunstwerke wieder an die Familie des Sammlers zurück. Kurz darauf starb Heinrich Kirchhoff 1934. Politische Ereignisse und Schicksalsschläge in Kirchhoffs Familie führten schließlich zur schrittweisen Auflösung der Sammlung. Auch der außergewöhnliche Garten in der Villa des Privatiers fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer und in der Folgezeit geriet die Sammlung Kirchhoff in Vergessenheit.
Nach 100 Jahren werden nun ca. 170 herausragende Werke aus Kirchhoffs Sammlung, die heutzutage in bedeutenden Museen und Privatsammlungen auf der ganzen Welt verstreut sind, für eine Ausstellung in das Museum Wiesbaden wieder vereint. Auf einer Fläche von 1.000 qm können die Besucher die Genese dieser einzigartigen Kollektion der Moderne über zwei Jahrzehnte von 1914 bis 1934 nachverfolgen. Neben bekannten Künstlern wie Max Liebermann, Lovis Corinth, Oskar Kokoschka, Emil Nolde, Franz Marc, Marc Chagall, Alexej von Jawlensky oder Paul Klee werden auch junge Talente wie Josef Eberz, Conrad Felixmüller oder Walter Jacob, die Kirchhoff maßgeblich förderte, gezeigt. Die präsentierten Gemälde, Aquarelle, Grafiken und Skulpturen aus der Sammlung Kirchhoff stammen aus dem eigenen Bestand des Museums Wiesbaden, aber vor allem auch aus dem In- und Ausland. So sind unter anderem spektakuläre Leihgaben aus dem Museum of Modern Art, Solomon R. Guggenheim, The Metropolitan Museum, alle New York, der Pinakothek der Moderne und dem Lenbachhaus München, dem Brücke-Museum Berlin, dem Frankfurter Städel Museum sowie dem Museum Ludwig Köln und dem Folkwang Museum Essen zu sehen. Die aufwendigen Recherchen zur Sammlung Kirchhoff, die bisher nicht gut erforscht ist, sind auch im reichbebilderten Ausstellungskatalog enthalten. Führungen durch die Ausstellung – auch speziell für Familien – bereiten die Thematik didaktisch gut auf.