Der doppelte Heckel

Mit ihrer aktuellen Erwerbung knüpft die Galerie Neue Meister in Dresden an die Rolle der Stadt als Wiege des Expressionismus an: Die Szene von Erich Heckel zeigt das bunte Innen­leben des Brücke-Ateliers im Dresdner Arbeiterbezirk Friedrichstadt. Der mit Textilien und selbst geschnitzten Objekten eingerichtete ehemalige Laden war für die jungen Sachsen in den Jahren 1910 –1911 ein Raum, dessen unkonventionelles Dekor ihr Aufbegehren gegen das Establishment widerspiegelte und dem heute als Experimentierfeld avantgardistischer Arbeits- und Lebensformen eine zentrale Rolle zukommt. Dass ihr anti-bürgerlicher Lebensentwurf nicht in allen Bereichen mit gesellschaftlicher Fortschrittlichkeit gleichgesetzt werden darf, zeigt unter anderem die von Klischees geprägte Sicht auf ihre  Modelle  –  Frauen,  Kinder  oder Schwarze, in denen sie eine von sexuellen Zwängen befreite Ursprünglichkeit verkörpert sahen.

Erich Heckel, Atelierszene, 1911, heute die Vorderseite des Bildes, 70 × 48 cm; Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut
Erich Heckel, Atelierszene, 1911, heute die Vorderseite des Bildes, 70 × 48 cm; Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut

In Heckels Gemälde sind gleich vier Akte dargestellt, zwei entkleidete Mädchen sitzen im Vordergrund auf einem selbst genähten roten Sitzsack, zwei Figuren schauen hinter einem Paravent hervor. Viel wurde über die Identität der Brücke-Modelle spekuliert, die in den Kompositionen Kirchners, Heckels oder Pechsteins die Synthese von Kunst und Leben versinnbildlichen; doch bleibt unser Wissen fragmentarisch. Vielfach beruhen Iden­titätszuschreibungen auf einer kleinen Anzahl von bildlichen Darstellungen, in denen die Individualität der Modelle zurücktritt. Gerade diese ästhetische Reduktion des menschlichen Körpers hat die Aktdarstellungen der Brücke-Künstler zu Inkunabeln des deutschen Expressionismus werden lassen.

Dass wir Heckels Atelierszene heutzutage überhaupt sehen können, hat mit dieser Wertschätzung zu tun, die den „Wilden Deutschlands“ – wie Franz Marc seine Brücke-Kollegen nannte – nach dem Zweiten Weltkrieg entgegengebracht wurde. Ohne das retrospektive Interesse an der kurzen Periode der engen künstlerischen Zusammenarbeit gäbe es das Werk nicht mehr. Denn erst 1986 wurde das Motiv „wiederentdeckt“ und sichtbar gemacht, nachdem es für fast 50 Jahre unter weißer Tünche verborgen gewesen war. Bis zu seiner Frei­legung war die Existenz des Werkes gänzlich unbekannt. Damit steht diese Atelierszene für den Prozess der Kanonisierung des deutschen Expressionismus, der nicht zuletzt durch das Ansteigen der Kunstmarktpreise ab den 1980er Jahren dazu führte, dass sich Sammler und Händler verstärkt auf die Suche nach derlei Reserven in Form von verborgenen Werken begaben.

Dabei lagen zwischen dem Höhepunkt der Künstlergemeinschaft um 1910 und ihrem postumen Revival als deutschem Beitrag zur europäischen Moderne mehrere Jahrzehnte, in denen das Interesse an solchen Szenen eher gering ausgeprägt war. Selbst die ehe­maligen Brücke-Mitglieder waren ihrer frühen Periode gegenüber zurückhaltend, fürchteten sie doch, von Kunst­kritikern, Kuratoren und Sammlern auf die vergleichsweise kurze Kooperation zwischen 1905 und 1913 reduziert zu werden. Daher stellten die einzelnen Künstler nach Auflösung der Brücke-Gruppe ihre Eigenständigkeit heraus und lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre jeweils aktuellen Werke. Dieser Prozess des permanenten künstlerischen Selbstentwurfs steht auch hinter Heckels Vorgehen bei der Umwidmung dieses Werks.

Erich Heckel, Steine, 1939, Rückseite der Atelierszene, 70 × 48 cm; Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut
Erich Heckel, Steine, 1939, Rückseite der Atelierszene, 70 × 48 cm; Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / Albertinum / Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut

Heckel wandte sich nach Auflösung der Brücke-Gruppe einer Beschäftigung mit literarischen Figuren und philosophischen Fragen zu; seine künstlerische Entwicklung in den 1920er und 30er Jahren lässt sich als Tendenz zu einem „vergeistigten Naturalismus“ zusammenfassen. Innerhalb dieses Kunstschaffens – das Heckel als Weiterentwicklung und Steigerung gegenüber seinen früheren Werken empfand – entsprach eine Komposition wie die Atelierszene offenbar nicht mehr seinem künstlerischen Selbstverständnis. Im Jahr 1939 spannte er die Leinwand um, malte auf die vor­malige Rückseite das Gemälde „Steine“, und überstrich die Atelierszene mit weißer, wasserlöslicher Farbe.

Die Frage nach Heckels Motivation kann auch sein Nachlass-Verwalter, Hans Geissler, nicht beantworten: „Warum gerade die Atelierszene das Schicksal ereilt hat, vom Künstler quasi ausgelöscht zu werden, darüber kann man leider nur spekulieren. Aussagen Heckels dazu gibt es nicht. Vielleicht war es einfach das Format der Leinwand, das sich für das Motiv der Steine anbot, und die Atelierszene schien ihm dann ästhetisch zu inkompatibel mit dem neuentstandenen Bild.“ Das Wenden und das weiß Übermalen von Leinwänden praktizierte Heckel schon zu Brücke-Zeiten; vielleicht, um das Interesse des Betrachters auf die „richtige“ Bildseite zu lenken, und um eine neutrale Fläche zu schaffen, auf der er den Bildtitel der neuen Komposition vermerken konnte. Trotz des Entstehungsjahres, 1939, ist der Vorgang also vermutlich nicht als Reaktion auf die kunstpolitischen Entwicklungen zu verstehen. Hans Geissler weist darauf hin, dass Heckel zu dieser Zeit in seinem Berliner Atelier noch von zahlreichen frühen Werken umgeben war. Erst nachdem Atelier und Wohnung am 30. Januar 1944 ausgebombt wurden, erfolgte der Umzug nach Wangen bei Konstanz und damit der endgültige Abschied aus dem politischen Zentrum Deutschlands. Heckels „innere Emigration“ an den Bodensee, von der in der Literatur des öfteren die Rede ist, war eine Konsequenz aus der Zerstörung seiner Berliner Arbeitsstätte. Unterstützung erfuhr er bei seiner Umsiedlung von der „Reichskammer der bildenden Künste“ in Berlin: Der Landesleiter für bildende Kunst stellte Heckel im Juni 1944 eine Bescheinigung aus, dass es für den Künstler derzeit nicht möglich sei, „sein Atelier wieder aufzubauen bzw. ihm eine geeignete Unterkunft in Berlin nachzuweisen“, und sollte Heckel bei seiner Suche unterstützen: „Ich bitte alle in Betracht kommenden Stellen, ihm bei seinen Bemühungen zur Schaffung eines geeigneten Arbeitsraumes behilflich zu sein.“

In Anbetracht solcher Dokumente lohnt es sich, Heckels Lebenssituation innerhalb der Jahre des Nationalsozialismus differenziert zu betrachten: Die Zeit bis 1937 war für Heckel – wie für viele seiner Kollegen – geprägt von der Hoffnung, als Maler der deutschen Landschaft vom neuen Regime anerkannt zu werden; zahlreiche Stimmen in der Öffentlichkeit versuchten, sich in diesem Sinne für ihn einzusetzen. Nach der Eröffnung der Propagandaschau „Entartete Kunst“ und der Beschlagnahme von 728 Werken aus öffentlichen Sammlungen war jedoch klar, in welche Stoßrichtung die nationalsozialistische Kunstpolitik sich bewegte. Allerdings unterlag Heckel keinem „Berufsverbot“ und konnte als Mitglied der „Reichskammer der bildenden Künste“ in den Jahren 1942 und 1943 Bezugsscheine für kontingentierte Malmaterialien beziehen. Dies ist wichtig, um zu verstehen, inwieweit es dem Maler gelang, selbst während des Krieges und trotz vieler Einschränkungen seine künstlerische Praxis fortzu­setzen. Sein künstlerischer Stil der 1930er und 1940er Jahre dokumentiert daher auch nicht in erster Linie den Versuch, keinen Anstoß zu erregen. Vielmehr fügt er sich nahtlos in eine zurückhaltende Ausdruckssprache ein, die kaum noch etwas mit dem Expressionismus der Frühzeit teilte und ihm den Ruf als „Lyriker“ einbrachte.

Diese stilistische Entwicklung wird in der doppelseitigen Leinwand anschaulich: In der Atelierszene die Verkürzung auf Konturen und Farben, in den „Steinen“ eine fast meditative Nahansicht der Natur, die den für Heckels Spätwerk typischen Hang zum Or­namentalen illustriert. Doch die eindrückliche Wirkung, die das Drehen der Leinwand heute beim Betrachter erzielt, war vom Künstler nicht beabsichtigt. Was bewegte spätere Generationen dazu, die frühe Komposition freizulegen und sich damit über den Eliminierungs-Akt des Künstlers hinwegzusetzen? Schon ab Mitte der 1950er Jahre begann die Suche nach Heckels unsichtbar gemachten Kompositionen mit Lothar-Günther Buchheims Entdeckung einer weiß überstrichenen Darstellung des schlafenden Pechstein im Liegestuhl aus dem Jahr 1910. Bei den „Steinen“ war es der 2012 verstorbene ehemalige Leiter des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums Schloss Gottorf, Gerhard Wietek, der 1986 die Freilegung und Restaurierung der Atelierszene veranlasste. Seitdem wurde das Frühwerk vielfach publiziert, die Steine dagegen nicht mehr. Mit der „Wieder­erweckung“ war Heckels Œuvre um ein Werk reicher geworden.

Dass die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden die beidseitig bemalte Leinwand nun ihrem Bestand hinzufügen dürfen, ist gleich in doppelter Hinsicht erfreulich: Mit dem Werk gelingt es zum einen, allmählich die Lücken in der Sammlung zu schließen, die aufgrund der Beschlagnahmungen im Jahr 1937 und von Kriegsverlusten noch immer bestehen. Zum anderen lässt sich anhand der Leinwand die sehr unterschiedliche Bewertung von Früh- und Spätwerk aufzeigen – durch den Künstler, durch Kunsthistoriker und durch den Markt.

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Ostdeutsche Sparkassenstiftung, Ostsächsische Sparkasse Dresden