Pionierinnenarbeit
Beim 85. Geburtstag des Cartoonisten Hans Traxler, den er im Mai 2014 im Kreis zahlreicher Kollegen mit einer Schifffahrt auf dem Main feierte, durfte nur einer der Gäste für sich in Anspruch nehmen, noch länger zeichnerisch aktiv zu sein als der Jubilar: die am 25. August 1922 geborene Marie Marcks, die Doyenne der deutschen Karikatur. Mit Publikationsforen wie der „Süddeutschen Zeitung“, dem „Stern“, der „Zeit“, dem „Vorwärts“, dem „Spiegel“ sowie den beiden wichtigsten bundesdeutschen Satirezeitschriften, „Pardon“ und „Titanic“, hat sie eine publizistische Breite erreicht wie kaum ein anderer deutscher Karikaturist. Marcks’ Komische Kunst reicht zurück bis ins Jahr 1963, als die damals bereits Einundvierzigjährige ihre kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Karriere als Zeichnerin in neue Bahnen lenkte. Somit umfasst allein das karikatureske Schaffen von Marie Marcks heute bereits ein halbes Jahrhundert. Es begleitet aber nicht nur kommentierend die deutsche Zeitgeschichte, sondern hat zudem eine Wirkung auf andere Künstler ausgeübt, die auf dem Feld des Cartoons ihresgleichen sucht. Über die Bedeutung von Marie Marcks für die Frauenbewegung besteht kein Zweifel, und bedeutende Karikaturistinnen wie Franziska Becker (seit Beginn von „Emma“ deren Hauszeichnerin) oder Katharina Greve (die in jüngster Zeit eine neue Verbindung von Comic und Cartoon begründet hat) berufen sich ausdrücklich auf die Pionierrolle ihrer älteren Kollegin. Doch gleichermaßen wichtig war der Austausch von Marie Marcks mit den Zeichnern der Neuen Frankfurter Schule wie eben Hans Traxler, F. K. Waechter oder Chlodwig Poth, mit denen sie nicht nur redaktionell über „Pardon“ oder später „Titanic“ verbunden war, sondern auch künstlerisch-freundschaftlich. Dieser Kreis hat ein ganz neues Verständnis von Komischer Kunst und Nonsens-Art hervorbracht, das prägend auch für prominente Künstler wie Sigmar Polke, Martin Kippenberger oder Erwin Wurm geworden ist. Die Arbeiten von Marie Marcks haben der deutschen Kunst somit zur Emanzipation in einem Maße verholfen, das weit über die Gleichstellung von Frauen und Männern hinausgeht – auch wenn gerade sie für Marcks ein zentrales Thema ist.
Die Möglichkeit, das zu großen Teilen im Besitz der Künstlerin verbliebene Werk mit insgesamt mehr als zweitausend Arbeiten zu erwerben und im Hannoveraner Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst zugänglich zu machen, stellte eine einmalige Möglichkeit dar, weil es kein zweites so umfassendes und zugleich konsequent zusammengehaltenes Zeichnungskonvolut eines bedeutenden deutschen Cartoonisten gibt. Und auch kaum ein zeitgeschichtlich-biographisch vergleichbar interessantes. Als Tochter einer Kunstlehrerin und eines Architekten hatte die in Berlin geborene Marie Marcks in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ein Architekturstudium begonnen, nach Kriegsende und dem Umzug nach Heidelberg in die amerikanische Besatzungszone dann aber ihr Auskommen als freie Künstlerin gesucht. Für die US-Army entstanden von 1948 an zahlreiche Plakatillustrationen; in ihnen artikulierte sich der neue Einfluss von Picasso und den Surrealisten, die angesichts der vorherigen Unterdrückung der ästhetischen Moderne durch die nationalsozialistische Kulturpolitik nun in Deutschland auf große Neugier stießen.
Das Illustrationswerk von Marie Marcks aus dieser Zeit ist insofern repräsentativ für die bestimmende künstlerische Rezeptionshaltung im Westdeutschland jener Jahre; gleichzeitig zeichnet es sich aber durch große Eigenständigkeit aus, indem es im Austausch mit der kreativen Szene der Universitätsstadt Heidelberg entstand, die auf den Feldern der bildenden Kunst und der Musik in den späten vierziger Jahren nationale Bedeutung gewonnen hatte. Die Arbeiten von Marie Marcks aus jener Zeit dokumentieren die Tätigkeit der Künstlerin für Jazz- und Filmclubs, für Künstlervereinigungen, Ausstellungen und Festivitäten. Sie sind somit nicht nur Beispiele des Marcks’schen Frühwerks, sondern auch Zeitzeugnisse von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung für die Geschichte der jungen Bundesrepublik. Später war Marie Marcks dann unter anderem als Gestalterin des deutschen Auftritts auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 tätig. Ihr Wechsel zur Karikatur erfolgte unter dem Eindruck eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins. Anfang der sechziger Jahre lernte die Künstlerin mit Claus Koch den Herausgeber der politischen Monatsschrift „atomzeitalter“ kennen, deren Schwerpunkt die kritische Begleitung deutscher Wissenschaftspolitik war, insbesondere bei der friedlichen Nutzung von Atomenergie. Marie Marcks arbeitete von 1963 bis 1966 als feste Karikaturistin für Kochs Zeitschrift und hat damals Zeichnungen angefertigt, die heute, in der Diskussion um den deutschen Ausstieg aus der Atomenergie nach der Katastrophe von Fukushima, wieder von bestürzender Aktualität sind.
Durch ihre Arbeit für „atomzeitalter“ wurde die Künstlerin als Karikaturistin bekannt. Noch sah man ihren Arbeiten das Vorbild vor allem französischer Zeichner wie Bosc oder Chaval an, deren Cartoon-Stil die europäische Karikatur der späten fünfziger Jahre prägte. Doch als Marie Marcks von 1965 an für fast ein Vierteljahrhundert zum namhaften Karikaturistenteam der „Süddeutschen Zeitung“ stieß, wo ihre Arbeiten sich mit denen von Berühmtheiten wie Ironimus (Gustav Peichl), Pepsch (Josef Gottscheber) oder Luis Murschetz abwechselten, bildete sich ihr unverkennbarer Stil heraus. Wie der gleichzeitig in Deutschland reüssierende Chlodwig Poth war Marcks durch das französische Satiremagazin „Hara-Kiri“ und dabei speziell das Werk von Jean-Marc Reiser beeinflusst – ohne dass ihr Strich epigonal gewesen wäre.
Sie entwickelte eine inhaltliche Unverwechselbarkeit, die sie lange vor dem Entstehen der feministischen Bewegung zur satirischen Vorkämpferin für Frauenrechte werden ließ. Als alleinerziehende Mutter von fünf Kindern kannte Marie Marcks die Benachteiligung von Frauen in der bundesdeutschen Gesellschaft aus eigener Erfahrung und machte sie zum Gegenstand ihres Bilderspotts. Es sollte dieser Aspekt ihres Werks sein, der sie als Karikaturistin berühmt machte. Bis heute stellt die Beschäftigung mit fehlender Gleichberechtigung und Emanzipationsproblemen einen zentralen Aspekt des Werks von Marie Marcks dar. Angesichts dessen Entstehungszeitraums von fünf Jahrzehnten sind ihre Zeichnungen eine Chronik der entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Die Qualität der satirischen Zeichnerin Marie Marcks steht außer Frage. Ihr Schaffen bewegt sich zwischen tagesaktuellen, politisch dominierten Karikaturen und den eher kulturkritischen Bildergeschichten im Stil der Neuen Frankfurter Schule. Reiner Nonsens ist nicht die Sache von Marie Marcks; sie begreift sich als Erzählerin. Deshalb darf ihre insgesamt mehr als dreihundertseitige gezeichnete Autobiographie – bestehend aus den beiden Bänden „Marie, es brennt!“ von 1984 und „Schwarz-weiß und bunt“ von 1989 – als Hauptwerk gelten. Für diese beiden Bücher wählte die Künstlerin eine Collagetechnik, die ältere Zeichnungen in die neue Bildergeschichte einbezog. Es gibt auf diesem Feld kaum ein ungewöhnlicheres Manuskript in Deutschland, und gerade im unmittelbaren Vergleich mit den gleichfalls in Hannover aufbewahrten Original-Bilderhandschriften von Wilhelm Busch wird der hohe Rang der autobiographischen Arbeiten von Marie Marcks deutlich.
Die Erschließung und Kommentierung des nun unter maßgeblicher Beteiligung der Kulturstiftung der Länder für das Wilhelm-Busch-Museum gesicherten Vorlasses ist ein dringendes Desiderat für die bundesdeutsche Gesellschafts- wie Kunstgeschichte gleichermaßen. Der Marcks’sche Bestand berührt nämlich nicht nur kunsthistorische Interessen, sondern auch ästhetische, soziologische, zeithistorische und medientheoretische. Sein vollständiger Erwerb hat die Bewahrung einer ein halbes Jahrhundert umfassenden Beobachtung des deutschen Selbstbildes gesichert – geliefert von einer der namhaftesten Karikaturistinnen unseres Landes.