Diskurs der Abwesenheit
Kolumba, auf einer Kirchenruine von Peter Zumthor errichtet und als Museum des Jahres 2013 ausgezeichnet, ist ein Ort der Nachdenklichkeit und Langsamkeit. Ein Wort wie „spektakulär“, und das auf der Internetseite des Museums selbst, lässt aufhorchen. Es gilt der im Jahre 2012 erworbenen Arbeit „Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit“ von Michael Buthe (1944–1994), der in Köln und Marrakesch lebte, im Alter von 25 Jahren bereits an Harald Szeemanns legendärer Ausstellung „When Attitudes Become Form“ teilnahm und mit seiner ersten Marokkoreise im Jahre 1970 in der Versöhnung von Orient und Okzident das Thema seiner Kunst fand. Und ja, sie ist spektakulär, die Neuerwerbung, eine Rauminstallation mit vierzehn Kupferplatten, 2,60 m auf 1,20 m, und einem eisernen Leuchter von beeindruckender Größe. Man möchte eine Kerze anzünden, wie in der Kirche, heißt es in einem Beitrag des WDR-Fernsehens über Buthes Arbeit in Kolumba. Tatsächlich war das Ritual Bestandteil der ersten Präsentation dieser komplexen Installation 1992 auf der documenta IX. Wie zwei große Flammen trägt der Leuchter vergoldete, eiförmige Skulpturen auf der Spitze, eine Hommage an den Bildhauer Constantin Brancusi und seine Darstellung des Ovoids als „Weltenanfang“ in den 1920er Jahren, und gleichzeitig Auftakt zu „Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit“ als ein, so Buthe, „schwebender Gedanke einer Kosmologie der Utopia Generale“. Die Arbeit umfasse, schreibt Buthe in seiner poetischen Sprache, „das Spektrum vom Voraugenblick des Gezeugtwerdens bis zum Nachaugenblick des Ersterbens des Lebens“.

Kunst bezieht sich immer auf den Körper, war das Credo des künstlerischen Leiters der documenta IX Jan Hoet. Er konfrontierte den Betrachter mit der Unüberschaubarkeit der Tafelfolge in der Rotunde des Fridericianums und zwang ihn, sich auf das Unbekannte einzulassen. Im Abschreiten der raumgreifenden Installation, ihrem Spannungsbogen und ihrer Narration im weiten Halbrund der Architektur folgend, entfaltete die Reihung der geschwärzten und partiell frei gekratzten Kupferplatten eine Eigendynamik. Wie bei der Wahrnehmung eines vorbeifahrenden Zuges aus einem stehenden verwischten sich Bewegung und Stillstand. Der Betrachter ist in einen Prozess von Werden und Vergehen gesetzt, wird Teil einer Kosmologie aus Licht und Dunkelheit.
Ruhiger und statischer ist die Hängung nun heute in Kolumba – intuitiv, nicht der Chronologie der Tafeln auf der documenta verpflichtet. Ein Durchbruch gibt dem an Tageslicht gewöhnten Auge den Blick auf einen fensterlosen Raum im Dämmerlicht frei. In der Wahrnehmung eines Bildformats, einer Rahmung geht man auf die Arbeit zu, tritt über eine Schwelle von glattem Terrazzo auf stumpfen Mörtel und ist in einer riesigen, wie ein Leporello aufgefalteten Installation, die der Kerzenleuchter optisch mit seinen schwarzen Kurvaturen überlagert und verwebt. Licht gewinnen die Kupferplatten indirekt durch die Beleuchtung der den Arbeiten gegenüberliegenden freien Wand. Das verleiht ihnen einen warmen, fast goldenen Glanz von innen heraus. Aus dem Spiel von Kupferrot und tiefem Schwarz treten langsam die Konturen von Figuren hervor. In der vielfachen Wiederholung erzeugt vor allem die unterschiedliche Neigung der erhobenen Arme und Hände ein bewegtes Ornament in der Abfolge der Tafeln. Obwohl die aufrechte, meist breitbeinige Haltung Standfestigkeit vermitteln müsste, befinden sich die Figuren, kaum merklich aus dem Lot verschoben, in einem befremdlichen Schwebezustand. Es gibt keinen konkreten Raum, der sie umgibt. Sie sind in ein Nirgendwo, eine Unendlichkeit, die hinter den vielfachen Überzeichnungen durchscheint, zwischen Himmel und Erde gesetzt. Von Sternenschlangen durchwirkt, in Wirbeln kreisender Linien, einem kosmischen Nebel, im Sternschnuppenregen, als Schattengestalt wie überirdisch von einem Hintergrundlicht beleuchtet, treten sie hervor, sind mit krakeligem Strich entstellt und doch magisch beseelt durch ein leuchtendes, übergroßes Herz.
Der Arbeitsprozess beginnt mit einer Ritzzeichnung auf der spiegelglatten Fläche, in der sich auf dem Atelierfoto vom Sommer 1990 die auf der Leinwand dargestellte Landschaft spiegelt. Die Technik des Sgraffito, die aus dem schwarzen Ätzgrund die frei gekratzten Motive kupfergolden zum Leuchten bringt, erinnert an Paul Klees berühmte Gemälde „Schwarzer Fürst“ oder „Goldfisch“ aus den 1920er Jahren. In diesem frühen Stadium der Platte sieht man eine noch in klarer Konturierung dargestellte Sternenfigur inmitten von Blumen, Fischen und Seesternen. Auf dem Original in Kolumba kann man die weiteren Schritte der Bearbeitung verfolgen. Buthe nimmt Abstand von der geführten Linie und zeichnet in schnellem Tempo mit freien Schwüngen aus dem Körper heraus, greift zur Flex. Die Sternengestalt, überlagert von zahlreichen, nahezu gewaltsam und wütend aufgebrachten Kratzspuren, wirkt jetzt wie eine Rückenfigur, die sich hinter dem Tosen der Elemente vom Betrachter entfernt. Starke Kontraste bestimmen die gesamte Arbeit: Es gibt die Zartheit und Sorgfalt der Zeichnung mit der Radiernadel und den heftigen, gezackten Duktus des von elektrischen Werkzeugen eingeritzten Lineaments, den in malerischen Verwischungen mit Lösungsmittel freigelegten Kupfergrund und den groben, fast brutalen Auftrag des stumpfen Asphalt-Wachs-Mastix-Gemischs in borkigen Flecken, Fließspuren und körnigen Strukturen über der Zeichnung und über dem Zaponlack. Das Bild wird zum Palimpsest, einem wieder und wieder überschriebenen archivalischen Dokument. Ziel einer Radierung ist eigentlich der Druck. Nur gilt das nicht für Buthes Kupferplatten: Die Maquetten sind die Originale.
Das Umreißen eines Menschen mit einer durchgehenden geschlossenen Linie ist ein Zeichenvorgang, der uns aus der Kinderzeit, aber auch von der Spurensicherung eines Tatorts her bekannt ist. Die hohle Silhouette des abwesenden Menschen fasziniert und verstört. Buthe arbeitet mit der Umrisszeichnung des menschlichen Körpers schon seit den 1970er Jahren, wie überhaupt die Konstanz von Themen und Motiven ein wesentliches Merkmal seines künstlerischen Schaffens ist. Den Arbeitsprozess legt der Künstler in seinen Bildern selbst offen, klebt mitunter den Papierschnitt, der ihm zur Übertragung der Zeichnung auf den Bildträger dient, direkt auf den Bildträger, um eine Figur zu verdoppeln. In „Due Ragazzi“ aus dem florentinischen Zyklus von 1976 begegnen sich zwei (identische) Jünglingsgestalten wie Schwimmer, die sich im Wasser treiben lassen. Das Selbstporträt „Der Engel und sein Schatten“, bereits 1974 entstanden, zeigt eine weiße Figur im Kampf mit ihrem spiegelverkehrten Schatten. Es ist ein Schlüsselbild im Œuvre Buthes. Physikalisch ist der Schatten die Projektion eines Körpers, der dem Licht im Weg steht. In der Gegenüberstellung des Engels mit seinem Schatten als Archetypus geht es um die Kräfte, die den Menschen in Schuld verstricken und dem Heil seiner Seele im Weg stehen. In seinem Bericht über ein Freisemester, das ihm als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf zur Vorbereitung der documenta-Arbeit im Winter 1991/92 gewährt wurde, schreibt Buthe, ihr Ausgangspunkt sei „der Mensch, der fliegende Mensch in seiner Realität der Wünsche und auch Verwünschungen, seiner Göttlichkeit und seines Ausgesetztseins diabolischer Triebe“. Geht man die einzelnen Tafeln der Installation in Kolumba ab, sind Schattenmenschen, Doppelfiguren allgegenwärtig – als versetzte Wiederholung des Konturs, als schwarze, fleckige Übermalung oder als Schattengrund hinter diffusen Lichtgestalten. Unwirklich, Traumbildern gleich erscheinen die Figuren auf Buthes Kupfertafeln, die von Schlangen und Stricken umwunden wie unberührt bleiben.
Über zwanzig Jahre hat der Künstler in Köln und Marrakesch gelebt, die Kulturen hat er mühelos zu vermischen gewusst. In seiner Atelierwohnung in einem Industriedenkmal in Köln-Ostheim dominierten Rot und Gold, lagen goldene Kissen auf roten Polstern, leuchteten goldene Bilderrahmen und mit Gold üppig verzierte Bilder auf roten Wänden, rahmten golddurchwirkte Vorhänge die Fenster, an denen vorbei Straßenbahnen im fahrplanmäßigen Takt langsam, lautlos und doch zum Greifen nah ihre Wendeschleife zogen – fast eine Metapher für die Welt Buthes, die sich weder hermetisch von der Wirklichkeit abschottet noch sich ihr ausliefert. Alle Relikte des Lebens, getrocknete Blumen ebenso wie Schrott, ist sie gleichwertig aufzunehmen bereit. Buthes künstlerisches Schaffen ist in einem „Zwischenreich“ angesiedelt, und so verwundert es nicht, wenn viele Spuren im Werk des Kölner Künstlers auf Paul Klee verweisen, der – primär Zeichner – wie Buthe über eine Reise nach Nordafrika zur Farbe fand.
Mit der Teilnahme an Szeemanns documenta V im Jahr 1972 ist das griffige Etikett der individuellen Mythologie, verbunden mit der intensiven Farbigkeit und Opulenz seiner Arbeiten, zum Markenzeichen Buthes geworden. Dabei hat er als Zeichner begonnen, der kaum, dass er eine Linie gesetzt hatte, sie auch schon wieder in Kritzel- und Spiralbewegungen überarbeitete. Es ist mehr als erstaunlich, dass Buthe auf der documenta 1992 zu seinem zeichnerischen Ursprung als Künstler zurückkehrte. Und noch erstaunlicher ist, dass es ihm mit der Wahl des Materials – Ätzgrund, Kupfer und Zaponlack – und im Umgang mit diesem Material gelingt, den Duft, den Glanz, das Geheimnis seiner farbigen Malerei heraufzubeschwören. Bleibt die eindrückliche Körperhaltung, die Geste der mit gespreizten Fingern weit erhobenen Arme jeder einzelnen Figur auf den vierzehn Tafeln, die den Betrachter auch nach dem Verlassen des Museums beschäftigt. Das ist kein Zufall. Sie ist ein archaisches Muster, von den Anfängen der Menschheit bis in die zeitgenössische Kunst hinein zu verfolgen. Das älteste überlieferte figürliche Kunstwerk überhaupt ist eine Figur mit erhobenen Armen, ein kleines Halbrelief in Mammutelfenbein geschnitzt. Man hat den altsteinzeitlichen Fund Adorant genannt, die erhobenen Arme als Zeichen der Anbetung gedeutet. Doch der Gestus ist so eindeutig nicht, weder hier noch in Buthes Bildern. Er kann auch ein Zeichen der Ergebung sein, der Segnung, der Macht oder der Lebensfreude. In einer Neonzeichnung von Jorinde Voigt (geb. 1977) aus dem Jahre 2012 ist das Motiv auf eine blau leuchtende Umrisslinie der erhobenen Arme reduziert. Kopf und Körper sind ausgespart, es entsteht eine in sich geschlossene, irritierende Form. Der rätselhafte Titel dieser Zeichnung könnte auch Buthes Installation in Kolumba überschreiben: „Zum Himmel erhobene Arme der Begierde / Abwesenheit“, ein Zitat aus dem Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ des französischen Philosophen Roland Barthes. Es geht um die Abwesenheit des Anderen, der in seinem Entzug immer zugleich ein Anwesender für den Begehrenden ist. Die zum Himmel erhobenen Arme der Begierde werden zum bildlichen Ausdruck der intensiven, aber nicht greifbaren Gegenwärtigkeit des Abwesenden. Ist das die Spannung, die Buthes Arbeit ausmacht, der Schwebezustand, in den er die Figuren setzt? „Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit“, Buthes letzte große Arbeit, wäre damit auch ein Bekenntnis des Künstlers zum Hier und Jetzt: „Ich liebe das Leben.“