Das optische Perpetuum mobile
Eigentlich sollte Mary Bauermeister Mathematikerin werden, so wünschte es der Vater. Die Abiturientin aber war sich sicher, nur als Künstlerin glücklich zu werden. Noch vor dem Abschluss lief die 1934 geborene Mary Bauermeister von zu Hause fort, nach Ulm, zur Hochschule für Gestaltung, und saß drei Tage im Büro des Rektors Max Bill, bis der sich endlich ihre Mappe ansah und sagte: „Sie können bleiben.“ Ulm empfand sie bald als zu dogmatisch, so tauchte sie nach einem Abstecher nach Saarbrücken als Schülerin Otto Steinerts Ende der 1950er Jahre tief in die Kölner Kunstszene ein – dem damaligen Mekka der Neuen Musik und Avantgarde-Kunst. Geschickt verkaufte Bauermeister ihre Bilder bei Streifzügen von Tür zu Tür, um sich und ihre Kunstaktionen zu finanzieren: 1960 mietete sie ihr Atelier in der Lintgasse 28, das bald zur Bühne einer neuartigen Künstlergruppe wurde. Experimentell ging es zu, Bauermeister holte die konkreten Künstler aus Ulm, die Zero-Gruppe aus Düsseldorf, die Architekten, Designer, Fotografen, Maler, Schriftsteller und Bildhauer. Auch die Theoretiker und Komponisten der Avantgarde zog es magisch nach Köln, denn der WDR wird mit seinem Studio für Elektronische Musik zum Wegbereiter der Neuen Musik. Mary Bauermeister, Haro Lauhus und der englische Komponist Cornelius Cardew wählen die Künstler für die Happenings im Kölner Atelier aus: John Cage, David Tudor, La Monte Young, George Brecht, Pierre Boulez und Nam June Paik geben sich ein Stelldichein bei den vielbeachteten Veranstaltungen. Sie zeigt Notenblätter von Sylvano Bussotti, Partituren von Karlheinz Stockhausen, John Cage und Mauricio Kagel, die als Sprachkompositionen interpretiert werden, auf Pfeifen und Kindertrompeten wird geblasen, man hantiert mit Radios, Holzstöcken, Staffeleien und Kerzen und experimentiert klanglich, spielt Musik von Morton Feldman, liest Texte von James Joyce, Arno Holz und Edgar Allen Poe. Groß ist die Resonanz bei Publikum und Presse, ihre Veranstaltungen gelten bald als Gegenpol zur arrivierten Arbeit des WDR. „Contre-festival“ heißen ihre Gegenkonzerte, die das zeigen, was anderenorts als zu experimentell galt. Als „Prä-Fluxus“ gehen die Kunstaktionen in die Kunstgeschichte ein.
Arsprototo: Wenn Sie rekapitulieren, in welcher gesellschaftlichen Stimmung haben Sie damals Ihre Kunstaktionen begonnen?
Mary Bauermeister: Wir lebten aus unserer Sicht in einer verkrusteten bürgerlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit, wir waren überzeugt, die Möglichkeit eines guten Neuanfangs war vertan, alle hatten nur im Sinn, sich ein Häuschen zu bauen und das Wirtschaftswunder zu genießen. Wir Künstler haben eine private Revolution angezettelt mit den Mitteln der Kunst, griffen den Kapitalismus scharf an, drastisch wollten wir Strukturen durch Schock und Provokation aufbrechen. Wir wollten den Grundbesitz abschaffen, Zins und Zinseszins und damit den Kapitalismus aushebeln. Enttäuscht von den Entwicklungen trauten wir keiner Aussage mehr, keiner Form in der Kunst nach einem Krieg, der alles zerstört hatte. Mein Atelier in den 1960er Jahren war natürlich auch künstlerisch ein Experiment. Dinge auf den Kopf stellen, Dinge in Bewegung bringen – das war Fluxus. Wir griffen dieser Bewegung, die erst 1962 durch George Maciunas ihren Namen bekam, mit unseren Aktionen vor. Ich war die Muse für alle, ich habe die Platzhirsche aus allen Künsten zusammengebracht, die sonst nicht miteinander gearbeitet hätten. Jeder wollte der Beste sein, bei mir haben sie erkannt, sie sind schon die Besten, so begann dann der Austausch untereinander: Im Zentrum stand das Intermediale, die Frage, wie klingt das, was du bildnerisch machst bei mir in der Musik. Kompositionen wurden lustvoll interpretiert, neue Zusammenhänge durch Klänge, Geräusche, Sprachfetzen erfunden. Zum Bürgerschock wurden wir schließlich, als wir in der Performance „Originale“, die ich mit Karlheinz Stockhausen initiierte, Straßensänger, Modedamen, Zeitungsverkäuferinnen neben einem Affen aus dem Zoo auftreten ließen, während Stockhausen dirigierte, ich selbst Leinwände mit phosphoreszierenden Farben bespritzte, Zitronenduft, Lavendel und Rosmarin als Beigabe versprühte und Nam June Paik sich mit Mehl und Reis überschüttete. Das waren damals Grenzüberschreitungen in jeder Hinsicht. Unsere bewusstseinserweiternde Droge war der Hunger, denn wir waren allesamt arm wie die Kirchenmäuse.
„Die Jacke Kunst weiter dehnen“
Mary Bauermeister, die 1957 Karlheinz Stockhausen getroffen hatte und mit ihm und seiner Frau in einer Ménage-à-trois lebte, zog es Ende 1962 in die USA, wo die Pop-Art erste große Erfolge feierte, die Minimal Music sich als Gegenpol zur seriellen Musik und zur europäischen Avantgarde etablierte, Jazz, Modern Dance und die experimentellen Theatergruppen wie das Living Theatre lockten. Nach einer ersten erfolgreichen Ausstellung gemeinsam mit Stockhausen im Stedelijk Museum Amsterdam, kommen in New York nun immer mehr Materialien in Bauermeisters Kunst. Sie verwendet seit kurzem die für ihre Arbeiten charakteristischen Uhrenlinsen – zufällig in einem Antiquitätengeschäft entdeckt –, die lichtbrechend und verzerrend eingesetzt werden. Hinzu kommen Farben, Kleber, Hölzer, weitere natürliche Materialien wie Sand. Von einem Aufenthalt auf Sizilien bringt sie den Dorfbewohnern abgekaufte geflickte Bettlaken, flache Steine vom Strand und Pflanzenfaserbälle aus Seegras mit nach New York. Ausgehend von ihren „Pünktchenbildern“, bei denen sie durch aufgetropfte Tempera den Bildträger bereits in den Raum hinein verlassen hatte, kommen Kasein, dann Sand und Leim hinzu: Den Reliefcharakter erweitert Mary Bauermeister nun auch durch enggestaffelte Strohhalme, die wie Waben in den Raum ragen, aufgebrachte farbige Stifte stechen aus dem Bild heraus. Der erweiterte Kunstbegriff dieser Zeit prägt auch Bauermeisters Schaffen: Ihre Assemblagen schwanken zwischen Zeichnung und Objekt, in ihren Linsenkästen schließlich verschmelzen alle Elemente und Motive ihrer Bildfindungen: Musik, Literatur, Zeichnung und Skulptur verschränken den Bildraum mit dem Realraum, oftmals greifen ihre Werke auch seitlich noch auf die Wände der Ausstellung hinaus, mit surrealistischen Verfahren mischt sie Realitätsebenen und illusionistische Elemente. Manche Glaslinsen brechen einfallendes Licht und projizieren Spektralfarben über das Kunstwerk hinaus. „Die Jacke Kunst weiter dehnen“ bemerkt Bauermeister zu ihren reichen Materialcollagen: Das Kunstwerk nicht als entrücktes, elitäres, teures Objekt, sondern als entgrenztes Werk, das in das Leben hinein wirkt. Motivische Ketten durchziehen die Werke der 1960er Jahre, Sprachspielereien und Eigenzitate bringen eine weitere semantische Ebene ein. Als „Denkkästen mit verzerrten Gedanken – veränderte und verschrobene Gedanken“ bezeichnet Bauermeister ihre vielschichtigen Boxen. In manchem meint man postdadaistische Verfahren zu erkennen – den Künstler Kurt Schwitters nennt Bauermeister deshalb gerne auch einen frühen Wegbereiter ihrer Erfindungen.
In New York lernt sie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Andy Warhol kennen. In der gerade gegründeten Galerie von Alfredo Bonino findet sie eine neue künstlerische Heimat. Ihre „ready-trouvées“ entstehen als Hommage an ihr großes Vorbild Marcel Duchamp. In der ersten, Weihnachten 1963 eröffneten Ausstellung zeigt sie ihre Arbeit „Stone Progression“, die umgehend vom Museum of Modern Art angekauft wird. Die New York Times, die sie als „six-foot-tall Lorelei“ stadtbekannt macht, schreibt: „Mary Bauermeister ist besser als gut. […] Sie hat eine brillante Einbildungskraft, die überall in Bewegung ist, die krabbelt, kritzelt, hüpft und im Sprung zupackt. […] Die Künstlerin macht wundervolle Dinge aus geglätteten Steinen, aus Bataillonen aufrecht stehender Strohhalme, aus hohlen Knochen und flachen Steinen.“ Der Durchbruch: Im New Yorker MoMA, im Guggenheim, im Whitney Museum und im Hirshhorn Museum in Washington gehören Bauermeisters singuläre Werke seit Jahrzehnten zum Kanon der Nachkriegs-Avantgarde.
Arsprototo: Warum sind Sie nach Amerika gegangen und wie hat sich Ihre Kunst in den USA entwickelt?
Mary Bauermeister: Da gab es ein Initiationserlebnis: Bei meiner Amsterdamer Ausstellung hatte ich auch den Ziegenbock von Robert Rauschenberg im Museum gesehen und war elektrisiert: Wo so etwas als Kunst galt und auch noch exportiert wurde, da wollte ich leben und arbeiten. In den ersten Jahren in Deutschland konnte ich mir ja nichts leisten, deswegen entstanden die Pünktchenbilder in Pastell, später kamen die gefundenen Steine hinzu, dann die entdeckten Linsen der Uhrmacher. In Amerika übertrug sich, auch weil ich plötzlich Geld verdiente, der Materialismus in meine Arbeit, Stifte und Kugeln, die Linsen konnte ich mir nach meinen Bedürfnissen anfertigen lassen. Ich wollte in mehreren Schichten arbeiten, Glas, dahinter Texte, Zeichnungen, Elemente integrieren. Konkave und konvexe Linsen verschieben die Wahrnehmung, das faszinierte mich. Bei meiner „Music Box“ von 1966 verkleinern und vergrößern die Linsen auch Texte und Noten auf einer Rolle, sodass bei einer musikalischen Umsetzung die Linsen die Geschwindigkeit der Interpretation beeinflussen. Die Linsen, die zunächst lose auf den Kästen lagen, hatte ich, weil sie immer gestohlen wurden, festgeklebt. So wurden die Kästen auch als Wandbilder nutzbar, und diese lösten großes Interesse bei den Museen aus. In dieser Zeit begann ich auch mit unserer kulturell bestimmten Raum-Orientierung zu experimentieren, ich brach die Horizontal- und Vertikal-Hierarchie auf, vervielfältigte die Perspektiven. Marcel Duchamp, den man als Vater der Konzeptkunst bezeichnen könnte, war der wichtigste Vordenker, den ich in der bildenden Kunst für mich akzeptierte. Ich vertiefte meine Freundschaften mit Jasper Johns und den jüngeren Pop Art-Künstlern, hatte Kontakt zur Beat-Generation um Allen Ginsberg und John Osborne und ich organisierte weiter auch Konzerte von Stockhausen.
Arsprototo: Und wie wurden Sie in der amerikanischen Kunstszene mit Ihren grenzüberschreitenden Objekten empfangen?
Mary Bauermeister: In Deutschland wurde meine Arbeit nicht als Kunst angesehen, es hieß, die arbeitet mit Stoff, das ist ja Handarbeit, Frauenbastelei. Oder: Zeichnungen mit aufgeschriebenen Texten: Sind das jetzt Gedichte? Dann noch Bilder im Relief: Sind das jetzt Skulpturen? Meine malerische Konzeption war hierzulande nicht kunstgerecht. In den USA wurde ich mit offenen Armen empfangen: Ich hatte ja die Amerikaner in Deutschland bekannt gemacht, so dass Cage, Duchamp und Rauschenberg mich sofort in ihren Künstlerkreis aufnahmen und dafür sorgten, dass ich bekannt wurde. In Amerika bringen einen die Künstler selbst in die Museen, es herrschte dort ein anderer Spirit, banaler, aber eben auch viel freier. Und in den USA wird nicht immer gleich der Vergleich mit den Meistern der Vergangenheit angestellt, dort hatte man nicht den Kanon der Kunstgeschichte parat. Im Gegensatz zu Deutschland sind dort die Museen riesig, mit gigantischen Wänden zum Ausstellen. In Deutschland dagegen spielten die Museen oftmals eher Kammermusik. Und in Amerika waren Frauen als Künstlerinnen viel eher akzeptiert als hierzulande. Mein Galerist schließlich sorgte eisern dafür, dass meine Werke nicht an ein Laufpublikum verramscht wurden, sondern eben in den Museen landeten.
Arsprototo: Warum kehrten Sie Amerika dann nach einigen Jahren wieder den Rücken und wie war der Neuanfang in Deutschland?
Mary Bauermeister: Ich hatte mittlerweile Kinder bekommen mit Stockhausen und wollte, dass meine Kinder in der deutschen Sprache aufwachsen. Zurück in Deutschland bekam ich oft zu hören: Du kommst hier mit horrenden amerikanischen Preisen an und außerdem konnte kein Galerist hier deine Jugendwerke horten, um sie später gewinnbringend auf den Markt zu bringen. Und als Frauenbastelei galten meine Werke noch für Jahrzehnte. Erst als Michael Buthe auch mit fragilen Stoffen arbeitete, nannte man sie die „neue Sensibilität“ und auch ich war rehabilitiert. „Needless needles“ beispielsweise, mein Lichtkastenwerk aus sizilianischem Laken mit Tusche, Bleistift, Grundierung und schwarzem Faden, kam erst 2004 ins Museum Ludwig in Köln. Ein Galerist riet mir bei meiner Rückkehr, mich selbst zu vermarkten. So machte ich viel Kunst am Bau, nahm erfolgreich an Wettbewerben teil, entwarf künstlerische Gartengestaltungen und verkaufte weiter meine Werke in die USA. Ich richtete mir mein Atelierhaus in Forsbach ein, dass der Architekt Erich Schneider-Wessling für mich gebaut hatte. Und ich entwarf Bühnenbilder und Kostüme für Stockhausens Stücke und korrigierte, obwohl wir schon getrennt waren, auch weiter seine Partituren.
„No more pain-ting“
Erst in den letzten Jahren konnte die emphatische Künstlerin große Retrospektiven in Köln, Bonn, Berlin und Ludwigshafen feiern. Im LVR-Landesmuseum Bonn hegte man lange schon den Wunsch, Bauermeisters Werk – neben den vorhandenen graphischen Arbeiten – auch mit einem Hauptwerk zeigen zu können, um im Kreis der Künstler um Wolf Vostell und der Rheinschiene sowie der Zero-Gruppe Bauermeisters Schaffen eindrucksvoll zu präsentieren: Mit dem Ankauf ihres Linsenkastens „All Things Involved in All Other Things“, entstanden 1967/68, kam im Juli nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und des Landes Nordrhein-Westfalen ein paradigmatisches Werk der amerikanischen Episode in das Bonner Haus. Für Gabriele Uelsberg, Direktorin des Museums, eine „perspektivische, prophetische Arbeit, weil es schon neue Werkgruppen ankündigt. Ich nenne es auch gerne ein optisches Perpetuum mobile“. Klassische, surreale, konkrete und optische Elemente verbinden sich in einer komplexen Anordnung mit Elementen des Comics in Zeichnung, Malerei, Skulptur und Musik zu einer Figur, die zu ihrer Zeit kein vergleichbar vielschichtiges Pendant kannte.
Arsprototo: Ihr vom Bonner LVR-Landesmuseum jetzt angekauftes Werk – zeigt das den Kosmos Bauermeister?
Mary Bauermeister: Es sind die Strohhalmbilder eingeflossen, die Arbeiten mit den Stiften, den Linsen, Steinarbeiten sind integriert, Zitate meines ganzen Schaffens, eben auch aus der Musik und der experimentellen Herangehensweise. Ich feiere das optisch Schöne einer Partitur, schöne Handschrift, ich habe halbfertige Dinge dazugetan wie ein Stück ungehobeltes Holz, aber auch Ideen für spätere Bilder integriert. Es ist eigentlich ein „Lesekasten“, es ist Literatur und es ist bildnerisch. Es ist die Arbeit, die mir am meisten Spaß gemacht hat. Ich war eingeladen vom Whitney Museum zu einer Skulpturenausstellung.Weil der Kasten aber nur von drei Seiten zu betrachten war und das nicht als Skulptur durchging, habe ich kurzerhand auch noch die Rückseite bemalt. Die Drehorgel zeigt auch die Handabdrücke aller Mitwirkenden, die die Kiste gebaut haben. „No more pain-ting“ schrieb ich auf die Rolle. Das heißt für mich auch: Kein Schmerz mehr, sondern Freude.
Mary Bauermeister, die im September ihren 80. Geburtstag feiert, öffnet seit langem ihr Atelierhaus am ersten Sonntag jedes Monats für die Öffentlichkeit, Aktionen zahlreicher Künstler finden dann dort statt. Ihr großer Wunsch ist, dass das Haus voller Kunstwerke aus allen Schaffensperioden und mit einem großen gestalteten Garten auch zukünftig in öffentlicher Trägerschaft für das Publikum zugänglich bleibt.