Bürgerschaftliches Engagement: drei Bilder
Die Begriffe „Ehrenamt“ und „bürgerschaftliches Engagement“ rufen in uns ganz verschiedene, vielfach sehr persönliche Erfahrungen und Erinnerungen wach. Diese Erfahrungen und Erinnerungen mögen sich auf das eigene bürgerschaftliche Engagement beziehen, auf Situationen, in denen wir selbst vom bürgerschaftlichen Engagement Anderer profitiert haben, oder auf Erzählungen von bürgerschaftlichem Engagement, die einen bleibenden Eindruck bei uns hinterlassen haben.
Allein dieser Umstand, dass die meisten, wenn nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft spontan etwas Persönliches zum Thema „Ehrenamt“ berichten könnten – selbst wenn sie nicht diesen Begriff verwenden oder von „bürgerschaftlichem Engagement“ sprechen – zeigt eindrucksvoll, dass unsere Gesellschaft ohne das Ehrenamt nicht denkbar ist oder, anders formuliert, dass unser Zusammenleben ohne bürgerschaftliches Engagement, ohne Ihr bürgerschaftliches Engagement, niemals gelingen könnte! Dies ist keineswegs übertrieben, denn derzeit sind es etwa 30 Millionen Menschen in Deutschland – also deutlich mehr als ein Drittel unserer Bevölkerung – die sich freiwillig in Sport-, Kultur- und Musikvereinen, in Schulen und Kindertageseinrichtungen, in Umweltprojekten, im Pflege- und Gesundheitsbereich, in Bürgervereinen und Stadtteilinitiativen sowie in den im Bevölkerungsschutz tätigen Organisationen wie den Feuerwehren engagieren.
Wenn ich selbst das Wort „Ehrenamt“ höre, dann sind es vor allem drei Bilder, die mir ganz unwillkürlich in den Sinn kommen. Zunächst denke ich an meine Kindheit in einem kleinen Dorf am Fuße des Westerwaldes: Alles, was das menschliche Zusammenleben dort lebenswert und besonders machte, was Zusammenhalt förderte und gegenseitige Solidarität stärkte, basierte auf bürgerschaftlichem Engagement: Der Fußballverein, die Frauengemeinschaft, der Männergesangverein, der Gemeinderat, die Freiwillige Feuerwehr. Natürlich spielten auch die Kirchen mit ihren kulturellen und sozialen Aktivitäten eine wichtige Rolle. Doch auch diese Aktivitäten wurden maßgeblich getragen durch das ehrenamtliche Engagement von Frauen und Männern – in vielen Fällen dieselben Bürgerinnen und Bürger, die sich auch an anderer Stelle freiwillig und unentgeltlich für die Dorfgemeinschaft einsetzten. Dieses engmaschige Geflecht aus tätigem, fürsorglichem und uneigennützigem Engagement, in dem sich auch die Vielstimmigkeit der Dorfgesellschaft entfalten konnte und das sich gerade in schwierigen Zeiten als stabil und widerstandsfähig erwies, hat mein persönliches Idealbild von gesellschaftlichem Miteinander nachhaltig geprägt.
Das zweite Bild, das ich mit dem Begriff „Ehrenamt“ stets in Verbindung bringe, stammt aus meiner Studienzeit und hat meine Vorstellung davon, wie weit bürgerschaftliches Engagement gehen und wie wichtig es für die Handlungsfähigkeit von Institutionen sein kann, grundlegend verändert. Am Oriental Institute der University of Chicago, zu dem auch ein Museum sowie eine umfangreiche Sammlung von archäologischem Kulturgut aus Westasien und Nordafrika gehören, lernte ich, dass sogenannte volunteers, also Freiwillige, in vielen Abteilungen der Einrichtung mit verantwortungsvollen Tätigkeiten betraut waren, so etwa bei der Dokumentation und Registrierung von Sammlungsbeständen, in der Forschungsbibliothek, in den zahlreichen Vermittlungsprogrammen des Oriental Institute oder als Botschafterinnen und Botschafter dieser Einrichtung in der Öffentlichkeit. Bis heute hat sich daran nichts geändert, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass das weltweit renommierte Oriental Institute der University of Chicago die Vielfalt und das Niveau seiner Aktivitäten kaum würde aufrechterhalten können ohne das freiwillige Engagement zahlreicher motivierter und fachlich qualifizierter Bürgerinnen und Bürger. Anders formuliert und mit Blick auf den Titel dieses Textes zugespitzt: Am Oriental Institute war und ist die Bedeutung des Ehrenamts für den Erhalt des kulturellen Erbes grundlegend.
Sehr viel dramatischer und für die unmittelbar Beteiligten ungleich gefährlicher ist das dritte Szenario, das mir ebenfalls immer dann vor Augen tritt, wenn die Rede ist vom bürgerschaftlichen Engagement, insbesondere vom bürgerschaftlichen Engagement für die Kultur: Ich denke an die Kolleginnen und Kollegen der syrischen Antikenverwaltung, die, unterstützt von vielen in der Region ansässigen Freiwilligen, im Frühjahr 2015 die Sammlung des archäologischen Museums in Palmyra evakuiert und so gut versteckt hatten, dass die Plünderer des sogenannten Islamischen Staats ein nahezu leeres Museum vorfanden und über Wochen hinweg vergeblich nach den vorsorglich geborgenen Sammlungsbeständen suchten. Der Archäologe Khaled al Assad, der von 1963 bis zu seiner Pensionierung 2003 Direktor des Museums und der archäologischen Stätten von Palmyra war und selbst unter Folter nicht preisgeben wollte, wohin man die archäologischen Kulturgüter aus dem Museum von Palmyra verbracht hatte, bezahlte seine Standhaftigkeit schließlich mit dem Leben.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele aus jüngerer Zeit für die Rettung von Kulturgütern durch das beherzte Engagement von Freiwilligen in Krisen- und Kriegssituationen, so etwa die Bergung von mittelalterlichen Manuskripten aus Timbuktu, Mali, im Jahr 2012, die Unterbringung besonders wertvoller Bestände des afghanischen Nationalmuseums in Kabul – des sogenannten Baktrischen Goldes – in einem Tresor tief unter dem afghanischen Präsidentenpalast im Jahr 1989 oder aktuell die Evakuierung von Museen, Bibliotheken und Archiven in der Ukraine gerade auch durch Freiwillige, unter schwierigsten Bedingungen und großer Gefahr für Leib und Leben. Nicht zuletzt in Krisenzeiten erweisen sich also der gesellschaftliche Zusammenhalt und die erhöhte Widerstandsfähigkeit, die ein breites bürgerschaftliches Engagement bewirken kann, als besonders wertvoll.
Bürgerschaftliches Engagement: drei Begründungen
Wenn man versuchen will, die Bedeutung von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement für unsere Gesellschaft im Allgemeinen und den Erhalt des kulturellen Erbes im Besonderen zu ermessen, sollte man zunächst ganz konkret auf das schauen, was Frauen und Männer freiwillig und unentgeltlich in den Bereichen Wohlfahrtspflege, Forschung, Bildung und Erziehung, Natur- und Umweltschutz, Sport, Menschen- und Bürgerrechte, Religion und nicht zuletzt Kultur leisten. Allein in Nordrhein-Westfalen sind es rund sechs Millionen Menschen, die sich ehrenamtlich für das Gemeinwohl engagieren. Schwerpunkte des bürgerschaftlichen Engagements im Bereich Kultur bei zivilgesellschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen, Projekten sowie Initiativen sind dabei die Kulturpflege, die kulturelle Bildung, die Arbeit der soziokulturellen Zentren sowie vor allem die Pflege der sogenannten Breitenkultur in den zahlreichen Orchestern, Chören, Theater- und Tanzgruppen sowie Kulturvereinen. Wie auch sonst überall in Deutschland dürfte für Nordrhein-Westfalen gelten, dass das kulturelle Leben in seiner bunten Vielfalt ohne bürgerschaftliches Engagement zum Erliegen kommen würde. Anders formuliert: Wenn man kulturelles Erbe versteht als die Gesamtheit der materiellen und immateriellen, beweglichen und unbeweglichen Kulturgüter, denen eine Gesellschaft eine besondere Bedeutung zuschreibt, dann ist breites und qualifiziertes bürgerschaftliches Engagement nichts weniger als eine wesentliche Voraussetzung für den Erhalt unseres kulturellen Erbes, eine conditio sine qua non.
Jenseits dieser sehr konkreten Argumentation mit ihrem Blick auf die tatsächlichen Beiträge des bürgerschaftlichen Engagements zu unserem gesellschaftlichen Zusammenleben insgesamt und dem Erhalt des kulturellen Erbes sind es drei eher grundsätzliche Erwägungen, die meine persönliche Wertschätzung gegenüber dem Ehrenamt maßgeblich prägen.
An erster Stelle steht dabei meine Überzeugung, dass bürgerschaftliches Engagement im zivilgesellschaftlichen Raum Voraussetzung wie Kennzeichen einer liberalen und pluralistischen Demokratie ist. Rupert Graf Strachwitz spricht mit Blick auf die Zivilgesellschaft als „Arena des bürgerschaftlichen Engagements“ von einer „Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie“. Die Zivilgesellschaft sei insoweit „systemrelevant und demokratiekonform“. „Beides“ – eine aktive, selbstständige Zivilgesellschaft und die Demokratie – „gründet auf Rechten, die jeder Bürgerin und jedem Bürger von Natur aus innewohnen“, so Strachwitz. „Die Rechte sind im Grundgesetz verbrieft, gehen jeder Verfassung aber voraus; zu ihrer Achtung hat sich Deutschland in zahlreichen völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen und Verträgen verpflichtet. […] Deutschlands Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist zwingend daran gebunden, dass Menschen- und Bürgerrechte, die Herrschaft des Rechts und Demokratie die handlungsleitenden Prinzipien jeder gesetzgebenden, richterlichen und exekutiven Gewalt bilden. Das Gewaltmonopol, das die Bürgerinnen und Bürger dem Staat eingeräumt haben, ja überhaupt das Mandat, das sie ihm als Herrinnen und Herren des Verfahrens erteilt haben, findet hier seine Grenze. Die Tätigkeit selbst ermächtigter, selbstorganisierter, unabhängiger kollektiver Akteure im öffentlichen Raum unterliegt insofern nicht der Disposition staatlicher Organe, ist schon gar nicht und in keiner Weise eine Konzession mit Genehmigungsvorbehalt, sondern ein originäres, nicht anzutastendes Recht aller Bürgerinnen und Bürger.“
Ein zweites gewichtiges Argument grundsätzlicher Natur für das bürgerschaftliche Engagement insbesondere in der Kultur und für den Erhalt des kulturellen Erbes ist, dass allein die Vielfalt der Kompetenzen, Handlungsweisen, Bewertungen und Erfahrungen, die eine breite Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an gesamtgesellschaftlich relevanten Aufgaben mit sich bringt, die Grundlage für einen angemessenen Umgang mit der inhärenten Komplexität dieser Aufgaben schaffen kann. Auf die Kultur fokussiert, bedeutet dies: Große Herausforderungen wie etwa die nachhaltige Kulturpflege unter Bedingungen des Klimawandels, kulturelle Bildung in einer vielfältigen Gesellschaft, der digitale Wandel, die zeitgemäße Organisationsentwicklung oder der Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sind ohne die Vielstimmigkeit, ohne die Multiperspektivität und ohne die disruptive Energie, die bürgerschaftliches Engagement in einer aktiven Zivilgesellschaft erzeugen kann, nicht zu bewältigen. Wir brauchen den Einsatz, das Wissen und die Leidenschaft möglichst vieler Menschen! In dem Maße, in dem wir Kultur als Produkt von Vielfalt und kreativem Reichtum begreifen, müssen wir auch dafür sorgen, dass im Kulturbereich Vielfalt und kreativer Reichtum nicht nur erhalten bleiben, sondern stetig weiter wachsen. Wir müssen also die Voraussetzungen dafür schaffen, dass bürgerschaftliches Engagement in der Kultur ausgebaut werden kann und das Ehrenamt gestärkt wird.
Bevor ich darauf eingehe, mit welchen Instrumenten und Maßnahmen ein solcher Ausbau des bürgerschaftlichen Engagements in der Kultur aus meiner Sicht erfolgen könnte, möchte ich kurz den dritten, grundsätzlichen Aspekt benennen, der die Bedeutung dieses Engagements für die Gesellschaft im Allgemeinen und unser kulturelles Erbe im Besonderen verdeutlicht. Es ist der Aspekt der Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft, ihrer Resilienz, insbesondere in Zeiten der Krise. Wichtige Impulse gibt in diesem Zusammenhang die inter- und transdisziplinäre Resilienzforschung. Sie nimmt zunehmend auch komplexe sozio-ökologische Systeme in den Blick, deren Funktionalität von einer Kombination aus ökologischen und sozialen Faktoren bestimmt wird. Dabei geht es um die übergeordnete Frage, wie solche komplexen adaptiven Systeme auf die Herausforderungen, Chancen und Risiken reagieren, die sich aus Veränderungen in Gesellschaft, Technologie oder Umwelt ergeben. Jüngere sozialwissenschaftliche Untersuchungen deuten in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Vielfalt und die damit einhergehende Vielfalt von Reaktionsoptionen die Resilienz von Gesellschaften bei Veränderungsprozessen maßgeblich beeinflusst.
Wenn es zutrifft, dass in komplexen Systemen eine Korrelation zwischen Diversität und Resilienz besteht und dass sich Vielfalt und Redundanz in den verschiedenen Komponenten eines Systems positiv auf dessen Kapazität auswirken, disruptiven Veränderungen oder massiven Erschütterungen adaptiv zu begegnen, so muss dies auch Konsequenzen für die Stärkung bürgerschaftlichen Engagements in unserer Gesellschaft insgesamt sowie in der Kultur im Besonderen haben. Es kommt darauf an, bei der Bewältigung großer, transsektoraler Herausforderungen wie dem Schutz von Kulturgut die Vielfalt der Perspektiven und des Wissens sowie die Diversität der Gegenstandsbereiche, Konzepte und Methoden zu erhalten und nach Möglichkeit auszubauen. Wir müssen dies tun, um die Leistungsfähigkeit und Resilienz unserer Gesellschaft insgesamt, aber auch des Kultursektors sowie des Bildungs- und Wissenschaftssystems im Besonderen zu gewährleisten, gerade auch angesichts der enormen globalen Veränderungsprozesse, auf die wir als Gesellschaft adaptiv reagieren wollen. Dies gilt für Deutschland in ganz besonderem Maße, ein Land im Herzen eines vom Krieg in der Ukraine erschütterten Europa, ein Land, das arm an natürlichen Ressourcen ist, das dem Zivilschutz in den letzten Jahrzehnten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, das vor enormen demographischen und infrastrukturellen Herausforderungen steht, das Antworten auf illiberale und antidemokratische Tendenzen in der Gesellschaft finden muss, das komplexe Bildungs- und Integrationsaufgaben zu bewältigen hat und das seinen zukünftigen Platz in der geopolitischen Neuordnung der Welt noch sucht. Die Widerstandsfähigkeit dieses unseres Landes wird nicht vom Staat und der Wirtschaft allein gewährleistet werden können. Sie ist vielmehr maßgeblich abhängig vom Verantwortungsbewusstsein und der Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft sowie von möglichst vielfältigem bürgerschaftlichem Engagement!
Bürgerschaftliches Engagement: drei Aufgaben
Wer die Stärkung des Ehrenamts und den Ausbau bürgerschaftlichen Engagements anmahnt, um die Vitalität des Kultursektors zu steigern und die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt zu erhöhen, der sollte auch Antworten auf die Frage geben können, durch welche konkreten Maßnahmen bzw. Förderinstrumente dies erreicht werden kann und welche Aufgaben oder Herausforderungen es auf dem Weg dorthin zu bewältigen gilt. Denn selbstredend ist auch das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt nicht immer spannungsfrei und die Harmonisierung der Motivationen und Ziele bürgerschaftlichen Engagements einerseits mit den aus Sicht von staatlichen oder wirtschaftlichen Akteuren bestehenden Anforderungen an dieses Engagement andererseits nicht immer einfach. Dies kann auf beiden Seiten zu Verstimmung, Frustration und, im schlimmsten Fall, Resignation führen.
Nach meinem Dafürhalten sind es in diesem Zusammenhang drei große Aufgaben, denen sich alle gesellschaftlichen Akteure, die bürgerschaftliches Engagement stärken wollen, gemeinsam widmen sollten. Erstens gilt: Es kann nie genug gegenseitige Wertschätzung geben. Diese Aussage bezieht sich sowohl auf die Wertschätzung, die bürgerschaftlichem Engagement als freiwilliger und unentgeltlicher Leistung für das Gemeinwesen gebührt, als auch auf die Wertschätzung, die der ebenso leidenschaftliche Einsatz professioneller Akteure für ihre Mitmenschen verdient.
Wertschätzung und Anerkennung sind Schlüssel für den Ausbau und die nachhaltige Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Entscheidend ist jedoch, wie diese Wertschätzung zum Ausdruck gebracht wird, was sie beinhaltet und wo ihr gegebenenfalls Grenzen gesetzt werden. Hierin liegt für mich eine der zentralen Herausforderungen in der Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Denn einerseits gibt es bereits zahlreiche Instrumente, mit denen insbesondere der Staat seine Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements sichtbar macht. Allein das Land Nordrhein-Westfalen hat eine ganze Reihe dieser wichtigen staatlichen Anerkennungsinstrumente geschaffen, von der Ehrenamtskarte, über den Engagementpreis NRW bis hin zum Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Andererseits stellt sich die Frage, ob Wertschätzung in Form von finanziellen Vergünstigungen, Preisen und Auszeichnungen den tatsächlichen Leistungen bürgerschaftlich engagierter Menschen gerecht wird und ob ihre möglichen Erwartungen an Teilhabe und Mitbestimmung in den Einrichtungen, Projekten und Initiativen, in denen sie sich engagieren, durch solche Anerkennungsinstrumente wirklich adäquat abgegolten sind. Mit anderen Worten: Erfahren die Menschen, die sich freiwillig und unentgeltlich für das Gemeinwesen engagieren, Wertschätzung nicht nur in richtigem Maß, sondern auch in angemessener Form?
Die zweite Aufgabe und Herausforderung im Zusammenhang mit dem Ausbau bürgerschaftlichen Engagements besteht demnach aus meiner Sicht darin, jenseits herkömmlicher Formen der Anerkennung vermehrt innovative Formate der Zusammenarbeit etwa zwischen staatlichen oder öffentlichen Institutionen einerseits und den in diesen Einrichtungen ehrenamtlich engagierten Menschen andererseits einzuführen. Diese innovativen Kooperationsformate sollten den Rahmen dafür schaffen, dass bürgerschaftlich Engagierten eine stärkere Einbindung in Konzeptions-, Planungs- und Entscheidungsprozesse und damit eine insgesamt erhöhte Teilhabe an der strategischen Ausrichtung und Leitung der Einrichtungen eingeräumt wird. Die schönste Form der Wertschätzung ist Vertrauen. Das Vertrauen, das bürgerschaftlich engagierten Menschen entgegengebracht wird, sollte es ihnen also auch ermöglichen, Verantwortung für die Einrichtung übernehmen zu dürfen, für die sie ihre Lebenszeit und ihre Ressourcen einsetzen.
Mir ist durchaus bewusst, dass diese Forderung aus organisatorischen, juristischen und bisweilen auch aus zwischenmenschlichen Gründen nicht immer leicht umzusetzen ist. Gleichzeitig bin ich fest überzeugt davon, dass in öffentlichen Einrichtungen ein umsichtiges Teilen der Verantwortung – eine stärkere operative Verschränkung von Haupt- und Ehrenamt – ein wichtiger Katalysator für die Weiterentwicklung sowohl der Einrichtungen selbst als auch des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland sein kann. Im Bereich der Kultur gibt es zahlreiche vielversprechende Ansätze für eine gestärkte zivilgesellschaftliche Teilhabe in öffentlichen Einrichtungen. So unterstützt etwa ein Bürgerbeirat das LWL-Museum für Archäologie, das LWL-Römermuseum und das Deutsche Bergbau-Museum dabei, neue Formate des digitalen Wissenstransfers zu erproben und mithilfe interaktiver Medien archäologische Arbeitsweisen erlebbar zu machen. Im Bremer Focke-Museum sollen die Mitglieder eines Bürgerbeirats künftig Einblick in die Planungen der Institution bekommen und in aktuelle Fragen zur Ausstellungsentwicklung einbezogen werden. Darüber hinaus sollen sie eigene Ideen für die Neugestaltung des Museums einbringen.
Damit bürgerschaftliches Engagement in diesem Sinne weiterentwickelt und quantitativ wie qualitativ ausgebaut werden kann, ist schließlich eine dritte Aufgabe in den Blick zu nehmen: die Ermächtigung der ehrenamtlich Engagierten. Diese Ermächtigung soll dazu führen, dass der bürgerschaftliche Einsatz den größtmöglichen Gewinn für die Engagierten selbst sowie für die Organisationen, Projekte oder die Initiativen erbringt, in die sie sich einbringen. Eine solche Form der Ermächtigung muss zweifelsohne mehr sein als eine bloße Zuweisung von Aufgaben. Vielmehr muss es, allgemein gesprochen, darum gehen, das jeweils spezifische Potenzial einer Person in einem bestimmten Engagementkontext zu identifizieren und individuell die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich dieses spezifische Potenzial auch optimal entfalten kann, sowohl im Sinne der oder des Engagierten als auch derjenigen Menschen und Anliegen, die von diesem Engagement profitieren sollen und wollen. Diese tiefgehende Ermächtigung bürgerschaftlich Engagierter ist eine sehr anspruchsvolle, vielfach unterschätzte Aufgabe, die Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und materielle Ressourcen erfordert. Sie ist jedoch überaus lohnenswert, denn sie stellt eine weitere wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung bürgerschaftlichen Engagements dar und ist zugleich ein zusätzlicher Ausdruck der Wertschätzung gegenüber denjenigen Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen wollen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe müssen alle Akteure gleichermaßen beitragen: der Staat, die öffentlichen Einrichtungen, denen bürgerschaftliches Engagement zu Gute kommt, sowie die Organisationen, die die Interessen bürgerschaftlich Engagierter in Deutschland vertreten.
Bürgerschaftliches Engagement: drei Förderschwerpunkte
Der Beitrag des Staates bzw. öffentlicher Fördereinrichtungen zu den drei genannten Herausforderungen – Wertschätzung, Verantwortungsteilhabe und Ermächtigung – kann ganz unterschiedliche Formen annehmen und in verschiedenen Themenbereichen angesiedelt sein. Es würde zu weit führen, auf die entsprechenden Programme, Initiativen und Projekte auf diesem Gebiet einzugehen, die heute bereits existieren. Stattdessen möchte ich abschließend drei thematische Förderschwerpunkte benennen, von denen ich glaube, dass sie das Potenzial haben, vor dem Hintergrund der aktuell in unserer Gesellschaft insgesamt bestehenden Herausforderungen eine deutliche Stärkung bürgerschaftlichen Engagements im Bereich des Erhalts von kulturellem Erbe zu bewirken. Die entsprechenden Förderinstrumente müssen dabei nicht unbedingt nur auf den Ausbau und die Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement zugeschnitten sein. Entscheidend ist vielmehr, dass die Konzeption von Fördermaßnahmen zum Erhalt des kulturellen Erbes immer auch die Bedarfe und Anforderungen bürgerschaftlich engagierter Menschen und ehrenamtlich geführter Einrichtungen berücksichtigt.
Erläutern will ich diesen strategischen Förderansatz sowie die drei genannten thematischen Förderschwerpunkte anhand von drei Programmen, die die Kulturstiftung der Länder derzeit gemeinsam mit Partnerinstitutionen umsetzt und die explizit auch auf die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements beim Erhalt des kulturellen Erbes zielen.
Das erste Thema, dem ich ein besonderes Potenzial für die nachhaltige Stärkung bürgerschaftlichen Engagements in der Kultur beimesse, ist der digitale Wandel oder die digitale Transformation. Diese digitale Transformation zielt auf die konsequente Einbeziehung von digitalen Technologien und Anwendungen in alle Prozesse der Produktion, der Dokumentation und der Vermittlung von Kultur und kultureller Praxis. Dabei geht es immer auch um die Frage, wie insbesondere kleine und kleinste Kultureinrichtungen, die meist nur über geringe materielle und personelle Ressourcen verfügen, Attraktivität und Sichtbarkeit für ihre Angebote im digitalen Raum schaffen und damit auch neue Publika ansprechen können. Da eine Vielzahl nicht nur dieser kleineren Kulturinstitutionen auf bürgerschaftliches Engagement angewiesen ist, sollten Förderinstrumente für den digitalen Wandel im Kulturbereich immer gerade auch diese Zielgruppe in den Blick nehmen.
Bei der Konzeption des Förderprogramms KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, das gemeinsam von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aus Mitteln des Rettungs- und Zukunftspakets „Neustart Kultur“ und der Kulturstiftung der Länder finanziert wird, stand dieser Aspekt sogar im Vordergrund. Das Förderprogramm KULTUR.GEMEINSCHAFTEN hat, allgemein gesprochen, das Ziel, durch die Förderung von digitaler Content-Produktion und den dazu erforderlichen Kompetenzen und Kooperationen insbesondere kleinere Kultureinrichtungen und Projektträger im Bereich Kultur bei der Umsetzung von Prozessen der digitalen Transformation zu unterstützen und ihnen damit eine langfristige und nachhaltig wirksame Perspektive für ihren digital gestützten, inklusiven Austausch mit einer vielfältigen Gesellschaft zu ermöglichen. Gerade auch das umfangreiche Fortbildungsprogramm, das wir im Rahmen von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN für die insgesamt ca. 450 geförderten Einrichtungen und Projektträger anbieten, wird sehr gern in Anspruch genommen, da es insbesondere Grundlagenwissen im Bereich der digitalen Content-Produktion und der digital gestützten Kulturvermittlung bereitstellt.
Das zweite, förderpolitisch wichtige Thema, das ich hier mit Blick auf die Stärkung bürgerschaftlichen Engagements für unser kulturelles Erbe ansprechen möchte, ist die Notfallvorsorge. Über Jahrzehnte hinweg war dieses unliebsame Thema in den Hintergrund staatlichen Handelns gerückt. Dies trifft auch für das Risikomanagement und die Gefahrenabwehr bei Kultureinrichtungen und Kulturdenkmälern zu. Gleichzeitig tritt uns die Verwundbarkeit gerade auch des kulturellen Erbes angesichts von Naturkatastrophen, Extremwetterereignissen, Unfällen oder bewaffneten Konflikten immer wieder besonders eindringlich vor Augen. Diese Verwundbarkeit dürfte sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gerade auch durch die Folgen des Klimawandels und geopolitischer Umbrüche noch erhöhen. Wenn die Annahme stimmt, dass die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft in Krisensituationen ganz maßgeblich von der Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft und möglichst breitem bürgerschaftlichem Engagement abhängt, dann gilt dies selbstredend auch für den Schutz kulturellen Erbes. Zugespitzt formuliert: Wir werden das überaus reiche und vielfältige Kulturerbe in Deutschland ohne den Ausbau und die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, des freiwilligen und unentgeltlichen Einsatzes für die Kultur, in Zukunft nicht nachhaltig sichern können. Der Staat alleine kann und wird dieser enormen Aufgabe gerade auch angesichts der bestehenden Herausforderungen in anderen Politikfeldern nicht gerecht werden.
Vor diesem Hintergrund und aus Anlass der Hochwasserkatastrophen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 hat die Kulturstiftung der Länder im vergangenen Jahr die Initiative ergriffen und zusammen mit zahlreichen Partnerinstitutionen die „Notfallallianz Kultur“ ins Leben gerufen.
Die „Notfallallianz Kultur“ ist ein gesamtgesellschaftliches Bündnis für Kultur in akuten Krisen- und Notfallsituationen. Organisatorisch und strukturell schlank angelegt, ist die „Notfallallianz Kultur“ eine bundesweite Plattform für Institutionen und Organisationen, die in Krisen- und Notfallsituationen jeweils eigenständig und im Rahmen ihrer spezifischen Fähigkeiten und Möglichkeiten (bedingt z. B. durch Zuständigkeit, Mandat, Satzung) einen Beitrag zur Notfallhilfe im Bereich Kultur leisten und dies – ggf. zusätzlich zu der jeweils eigenständigen Kommunikation der entsprechenden Aktivitäten – als sichtbares Zeichen für gemeinsames und möglichst abgestimmtes Handeln auch gemeinsam als „Notfallallianz Kultur“ kommunizieren. Ideelles Engagement ist dabei ebenso willkommen wie materielles. Im Vordergrund stehen dabei immer das gemeinsame Tun der Partner und die damit verbundene politische und gesellschaftliche Signalwirkung.
Der Mehrwert einer solchen Allianz besteht darin, dass im akuten Notfall die erforderlichen Hilfsmaßnahmen für Kultureinrichtungen und das kulturelle Erbe an ein bereits bestehendes, bundesweites Netzwerk aus kompetenten staatlichen, zivilgesellschaftlichen und ggf. privatwirtschaftlichen Partnern anknüpfen können, die ihrerseits entsprechend zügig prüfen, ob sie in der aktuellen Situation einen Beitrag zur Notfallhilfe leisten wollen und worin dieser Beitrag konkret besteht. Die „Notfallallianz Kultur“ versteht sich damit als zivilgesellschaftlich geprägte Ergänzung bzw. Erweiterung der rein staatlichen Gefahrenabwehr und Katastrophenhilfe. Bei allen Maßnahmen hat jedoch der Katastrophenschutz von Ländern und Kommunen Vorrang. Er wird durch die „Notfallallianz Kultur“ unterstützt.
Gerade mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und seine derzeit kaum absehbaren kurz-, mittel- und langfristigen Folgen für den gesamten europäischen Kontinent ist eine deutlich intensivierte Notfallvorsorge in Deutschland gerade auch im Kulturbereich das Gebot der Stunde, das zu ignorieren grob fahrlässig wäre.
Der dritte und vielleicht wichtigste Förderschwerpunkt zur Stärkung bürgerschaftlichen Engagements beim Erhalt kulturellen Erbes ist für mich die stärkere Vernetzung der entsprechenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, Initiativen und Projekten über lokale und regionale Grenzen hinweg. Denn Herausforderungen wie die digitale Transformation oder die Notfallvorsorge sind derart komplex und weitreichend, dass Wissensaustausch und Zusammenarbeit auf transregionaler Ebene wesentliche Voraussetzungen für ihre erfolgreiche Bewältigung sind. Unter den zahlreichen und vielfältigen Bemühungen, die auf eine Vernetzung bürgerschaftlicher Engagementstrukturen untereinander und mit anderen relevanten Akteuren abzielen, möchte ich eine aktuelle Initiative des „DAKU Dachverband der Kulturfördervereine in Deutschland“ herausgreifen, die von der Kulturstiftung der Länder gefördert und inhaltlich begleitet wird.
So hat der DAKU gemeinsam mit der Kulturstiftung der Länder die Initiative „Länder-Netzwerke“ angestoßen. Dazu schreibt der DAKU: Die Initiative „Länder-Netzwerke“ „initiiert – gemeinsam mit regionalen Partnern – Netzwerke in den Ländern und fördert deren länderübergreifende Zusammenarbeit. Basis der Initiative sind Netzwerke aus Kulturfördervereinen in den einzelnen Ländern, die durch regionale Veranstaltungen entstehen. Sie sichern den Erfahrungsaustausch der Vereine untereinander, formulieren deren landesspezifische Bedarfe und ermöglichen die gegenseitige Unterstützung bei Vereinsaktivitäten. Ebenso arbeiten die Netzwerke daran, den Kulturfördervereinen im jeweiligen Land mehr öffentliche Aufmerksamkeit und eine starke Stimme zu verleihen. Um auch den Austausch der „Länder-Netzwerke“ untereinander zu fördern und landesspezifische Bedarfe und Erfahrungen gegenüber bundesweit wirkenden Akteuren sichtbar zu machen, soll aus den Netzwerken heraus mittelfristig eine Versammlung entstehen, die auf Bundesebene agiert.“
Digitaler Wandel, Notfallvorsorge, Vernetzung – mit förderpolitischen Impulsen, die diese Themen aufgreifen und gleichzeitig zum bürgerschaftlichen Engagement einladen, stärken wir nicht nur das Ehrenamt, sondern auch den Erhalt unseres gemeinsamen kulturellen Erbes.
Vor dem afghanischen Nationalmuseum in Kabul befand sich lange Zeit eine Steintafel mit einer Inschrift. Diese Inschrift lautete: A nation stays alive when its culture stays alive („Eine Nation lebt, solange ihre Kultur lebt“). Ich würde diese Aussage gern ergänzen: Kultur lebt, solange das bürgerschaftliche Engagement dafür lebt.
Dieser Text ist die Überarbeitung des Festvortrags „Die Bedeutung des Ehrenamts für den Kulturerbeerhalt und die Gesellschaft der Zukunft“, gehalten beim 88. Tag für Denkmalpflege zum Thema „Engagiert für die Zukunft: Ehrenamt in der Denkmalpflege“ am 15. Mai 2022 im Erbdrostenhof in Münster, organisiert von der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen in Kooperation mit dem Westfälischen Heimatbund und der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (VDL).