Meisterhafte Zeichnungen

Hinter einem unscheinbaren Einband verbirgt sich die älteste erhaltene und zu­gleich eine der wert­vollsten privaten Zeichnungssammlungen Deutschlands – sein kostbarster Inhalt: Über 40 Werke deutscher Zeichenkunst allein aus dem 15. Jahr­hundert – spät­gotische Zeichnungen der Vor-Dürer-Zeit, die mittlerweile auf dem Kunstmarkt zu Höchstpreisen gehandelt werden, da Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt die seltenen Blätter begehren. Zeichnungen des 15., 16. und 17. Jahrhunderts hatte der Statthalter der Oberpfalz, Maximilian Willibald von Waldburg-Wolfegg, in den Jahren 1650 bis gegen 1670 gesammelt – im 19. Jahr­hundert wurde daraus eine Auswahl von über 120 Zeichnungen zusammengefügt. Dieser Band mit Spitzenblättern der älteren deutschen Kunst an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frührenaissance bleibt nun glücklicherweise als untrennbares Konvolut – das als auf der nationalen Liste eingetragenes Kulturgut auch nicht ins Ausland verkauft werden durfte – in seiner Gesamtheit für die Öffent­lichkeit erhalten: Für beide Sammlungen in Berlin und Augsburg ist es eine der bedeu­tendsten Neuerwerbungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus einer der ältesten graphischen Sammlungen – dem im 17. Jahrhundert gegründeten Kupfer­stich­kabinett des Fürstenhauses Waldburg-Wolfegg, das sich heute auf Schloss Wolfegg im Allgäu befindet – konnte jetzt der Band unter Feder­führung der Kultur­stiftung der Länder durch das Berliner Kupfer­stichkabinett gemeinsam mit den Kunstsammlungen und Museen Augsburg an­gekauft werden. Dabei unterstützt wurden sie von der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststif­tung, dem Freistaat Bayern über die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern und der Rudolf-August-Oetker-Stiftung für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Denkmalpflege.

Den herausragenden Kern des Bandes bildet eine äußerst wertvolle Gruppe von Blättern – Hans Holbein dem Älteren (um 1465–1524) zugeschrieben – mit u. a. dem Spitzenstück, einem Silberstiftporträt einer Nonne von ca. 1499, sowie eine Reihe weiterer musterbuch­artiger Zeichnungen aus Holbeins Werkstatt. Höhepunkt des Bandes aber ist zweifellos das anonyme, um 1475 ent­standene „Porträt eines jungen Mannes“ – es wurde früher mit Michael Pacher und wird heute mit dem im bayerisch-tirolischen oder schwäbischen Grenzgebiet tätigen Meister des Mornauer-Bildnisses in Zusammenhang gebracht. Als „vollendetste deutsche Bildniszeichnung vor Dürer“ charakterisierte der ehemalige Direktor des Münchner Kupferstich­kabinetts Peter Halm das berückende Bildnis.

Von einem der eigenwilligsten Zeichner der Spätgotik, dem um 1490 in Franken tätigen „Meister der ‚Herpin’-Handschrift“, findet sich ein Blatt in der Sammlung, ebenso wie eine „Tierkampfszene“ von Ludwig Schongauer (1440–1494). Weiterhin aus dem 16. Jahrhundert eine um 1505 entstandene Zeichnung mit dem Mono­gramm des Schweizers Urs Graf, Landschaften und Genreszenen der Donauschule, Arbeiten von Hans Sebald Beham, Virgil Solis, eine Liebesallegorie Narziss Renners und eine der wichtigsten der lediglich 21 bekannten Zeichnungen Daniel Hopfers (1471–1536). Neben dem Schwerpunkt auf süddeutsche Zeich­nungen umfasst der Band auch böhmische Blätter sowie Arbeiten aus Italien und den nördlichen Niederlanden. Im Bereich der Blätter der Dürer-Zeit bietet die Samm­lung auch et­liche der Forschung bisher unbekannte Zeichnungen auf. Die Wissen­schaft wird nun auch einige Zuschreibungen des Bandes genauer präzisieren können. Da außergewöhnliche und erstrangige Zeichnungen, die mit den großen Namen der Dürer-Zeit verbunden sind, auf dem internationalen Kunstmarkt kaum noch erhält­lich sind, werden allein schon Einzelexemplare inzwischen mit höchsten Summen gehandelt. Dass die Altmeisterzeichnungen aus dem Band der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg nun vollständig für das Berliner Kupferstichkabinett und die Augsburger Sammlungen gesichert werden konnten, ist ein besonderer Glücksfall. Für das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin ist der Erwerb der Wolfegger Zimelie – neben dem Lebensalter-Zyklus von Caspar David Friedrich im Jahre 2006 – der bedeutendste Ankauf in neuerer Zeit und profiliert die inter­national herausragende Stellung als Referenzsammlung der deutschen Zeichenkunst des 15. und 16. Jahrhunderts. Aber auch für Augsburg ist der Erwerb von höch­stem Wert: Dokumentiert der Zeichenkomplex doch die dortige enorme städtische Kunst­produktion in der spannenden Phase zwischen spätem Mittelalter und der Renaissance. Ausstellungen in Augsburg und Berlin sind bereits geplant und sollen die Zeichnungen erstmals einem größeren Publikum bekannt machen.

Nur durch das entschlossene und konzertierte Vorgehen der beiden Sammlungen konnte die Gefahr abgewendet werden, dass die kostbaren Zeichnungen – bei­spielsweise durch Zerteilung des Bandes und Verkauf in private Sammlungen – für lange Zeit für die Öffentlichkeit verloren wären. Zwischen den erwerbenden Insti­tutionen ist vertraglich vereinbart, dass die Wolfegger Zeichnungssammlung als un­zertrennliches Konvolut erhalten bleibt und dauerhaft vom Berliner Kupferstich­ka­binett bewahrt und gepflegt wird. Das Werk wird gemeinsam mit den Kunst­sammlungen und Museen Augsburg erforscht und ausgestellt wie auch alle weiteren Re­chte und Pflichten kooperativ ausgeübt werden.

Maximilian Willibald von Waldburg-Wolfegg (1604–1667) begründete das Wolfegger Kabinett – bei seinem Tod zählte die Sammlung wohl rund 120.000 überwiegend druckgraphische Blätter, vor allem Kupfer­stiche, Radierungen und Holzschnitte des 15. bis zum 17. Jahr­hundert, aber auch eine umfangreiche Sammlung von Handzeichnungen. Im Jahr 2001 wurde aus dem Kabinett die Landkarte des Freiburger Kartographen Martin Waldseemüller mit der Erst­nennung des Namens „America“ an die Library of Congress in Washington verkauft, im Jahr 2008 ging das spektakuläre „Haus­buch der Fürsten von Waldburg-Wolfegg“ in süddeutschen Privatbesitz über.