Adel am laufenden Band

Alles begann mit dem eigenen Familienarchiv: Nikolaus Freiherr von Gayling-Westphal entdeckte in den Nachlässen seines Großvaters und Vaters Briefe von naturwissenschaftlichen Größen wie der österreichischen Kernphysikerin Lise Meitner und schriftliche Belege des deutschen Arztes und Begründers der Chemotherapie Paul Ehrlich. Sowohl von Gayling-Westphals Großvater Wilhelm Westphal (1882–1978), Physikprofessor an der Technischen Universität Berlin, als auch sein Vater Otto Westphal (1913–2004), Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie in Freiburg, hatten den wissenschaftlichen Austausch mit bedeutenden Forschern ihrer Zeit gepflegt. Ihre hinterlassenen Korrespondenzen bilden die eine Hälfte des Familienarchivs, um welches der 1942 geborene von Gayling-Westphal seine umfangreiche Archivaliensammlung aufbaute. Die andere Hälfte – Archivbestände vonseiten seiner Mutter Olga (1912–1987), Sprössling des badisch-hessischen Adelsgeschlechts Gayling von Altheim – gab die weitere Ausrichtung vor: Von Gayling-Westphal trug über Jahrzehnte hinweg Dokumente rund um den Adel des Oberrheins zusammen und brachte sie auf Schloss Ebnet in Freiburg unter. Mehrere Tausend Urkunden, darüber hinaus Handschriften, Rechnungen, Verwaltungsverzeichnisse, Stammtafeln, Tagebücher, Protokolle, Porträtgemälde, Fotografien und viele weitere Dokumente aus rund 700 Jahren belegen die Einflüsse nobler Familien in den links- und rechtsrheinischen Regionen Baden, Hessen, Pfalz, Elsass und der Schweiz.

Wann immer Archive regionaler Adelsfamilien Gefahr liefen, verloren zu gehen oder auseinandergerissen zu werden, bemühte sich der in Freiburg ansässige von Gayling-Westphal um deren Erhalt. Neben dem 81 laufende Meter umfassenden Familienarchiv der Freiherren Gayling von Altheim gehören zu den herausragenden Beständen auch 16,5 laufende Meter des alemannischen Adelsgeschlechts Roggenbach mit ca. 115 Urkunden von 1497 bis 1835 und vier laufende Meter des badischen Zweigs der Douglas-Familie. Wesentliche Teile dieser Archive sind bereits in den 1970er-Jahren in die Länderliste Baden-Württem-berg des Verzeichnisses national wertvoller Archive eingetragen worden (Nr. 00139). In einer Region, in der Adelsarchive durch Ereignisse wie Bauernkrieg, Französische Revolution, Deutsch-Französischer Krieg und Zweiter Weltkrieg immense Verluste erlitten, verkörpern die erhaltenen Dokumente eine entscheidende Quelle – nicht nur für die privaten und diplomatischen Verwicklungen der einzelnen Familien, sondern gerade auch für die politischen Geschehnisse jener Region vom Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit des 20. Jahrhunderts.

Als eine Art „Zentralarchiv“ des oberrheinischen Adels gelangt die Sammlung nun in das Staatsarchiv Freiburg, das damit auch um eine besondere Sensation reicher wird: So überdauerte in den Archivalien des Landenberg-Archivs – ein mittelalterliches Adelsgeschlecht aus dem Kanton Zürich in der Schweiz – ein frühkarolingisches Handschriftenfragment aus dem 9. Jahrhundert, das nun als ältestes Dokument des gesamten Staatsarchivs Freiburg glänzt. Herrscherurkunden von Rudolf von Habsburg, Ludwig dem Bayern, Ruprecht, Sigismund und Friedrich III. sowie Bischofs- und Abturkunden aus Fulda, Selz und Weißenburg, zudem frühe Schriftrollen in Pergament und sogenannte Kerbzettel – im Mittelalter gebräuchliche geteilte Urkunden, die unter den Vertragspartnern aufgeteilt wurden – sind ebenfalls in den insgesamt 180 laufenden Archivmetern bewahrt.

War das in Umfang und Geschlossenheit einmalige dokumentarische Gedächtnis der Region in Schloss Ebnet bisher nur bedingt zugänglich, findet die durch von Gayling-Westphal zusammengetragene Sammlung nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Stiftung Kulturgut des Landes Baden-Württemberg und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst eine neue, ihrem Wert angemessene Unterbringung: Im Lesesaal des Staatsarchivs in Freiburg wird das „Oberrheinische Adelsarchiv“ von nun an weiter erforscht, gesichert und öffentlich nutzbar gemacht. Das Landesarchiv Baden-Württemberg erweitert dabei mit dem historischen Quellenfundus sein Gesamtportfolio um wichtige Facetten der regionalen Adelswelten.