Ausstellungsförderung

Feindliche Übernahme

Das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main rekonstruiert, wie zur NS-Zeit systematisch jüdische Kunstsammler beraubt wurden von Johannes Fellmann

Eine der besten Privatsammlungen Deutschlands wechselte am Telefon den Besitzer. Am Apparat im Büro des NS-Oberbürgermeisters Friedrich Krebs saß Justizrat Alexander Berg, der im Auftrag des Stadtoberhaupts seinem Gesprächspartner und langjährigen Mandanten eindringlich die brandgefährliche Lage schilderte. In diesen Novembertagen 1938 wütete das Pogrom gegen die deutschen Juden, besonders brutal in Frankfurt am Main. Am anderen Ende der Leitung, gemeinsam mit seinem Privatsekretär, der 95-jährige Freiherr Maximilian von Goldschmidt-Rothschild (1843 – 1940), einer der bekanntesten Bürger der Stadt, Ex-Bankier, bedeutender Mäzen für Kultur und Wissenschaft, der u. a. die Gründung der Universität mit einer Summe in Millionenhöhe gefördert hatte, Museen und Stiftungen seit Jahrzehnten unterstützte. Berg drängte seinen jüdischen Mandanten zur Entscheidung, seine berühmte, riesige Kunstsammlung der Stadt zu übereignen – mit dem Hinweis auf den „rasenden Pöbel“, der sonst das Stadtpalais des Multi-Mil­lionärs stürmen könnte. Dann seien die Kunstschätze womöglich für immer verloren. Nur die schnelle Kennzeichnung als städtisches Eigentum könne das verhindern. Im Eindruck des stattfindenden Terrors willigte Baron von Goldschmidt-Rothschild schließlich ein.

An diesem 10. November 1938 war spätestens auf schreckliche Weise klar geworden, dass das NS-Regime vor nichts zurückschreckte. Seit Tagen waren Tausende jüdische Männer durch Frankfurt am Main gejagt worden, zusammengetrieben in der Festhalle, fast alle deportierten die Nationalsozialisten in die Konzentrationslager Dachau oder Buchenwald. „Nach Anzündung von Synagogen bewegte sich der aufgeregte Pöbel die Zeil herunter nach dem Zentrum, schlug die Scheiben jüdischer Läden ein, zertrümmerte die Geschäfte und warf die Einrichtungen jüdischer Wohnungen, soweit er sie nicht zerstörte, auf die Straße“, beschrieb Alexander Berg diesen Tag. „Während dieser Vorgänge rief mich der Oberbürgermeister an und bat mich, wegen des Erwerbs der Sammlung des Baron v. Goldschmidt-Rothschild sofort zu ihm zu kommen“, so berichtete der Anwalt Berg nach Kriegsende vom Blitzverkauf der Sammlung. Oberbürgermeister Krebs „wies darauf hin, daß für den Erhalt der Sammlung Goldschmidt-Rothschild die größte Gefahr bestehe, denn wenn der Pöbel vom Zentrum nach der Bockenheimer Landstraße vordringe, sei mit Sicherheit anzunehmen, daß er in die Wohnung des Barons eindringen, die wertvollen Einrichtungsgegenstände und die ganze Kunstsammlung kurz und klein schlagen werde. Dann würde nicht nur die Stadt um den Erwerb einer bedeutenden Sammlung gebracht, sondern auch dem jetzigen Eigentümer ein großer Schaden zugefügt. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, sei ein sofortiger Erwerb der Sammlung durch die Stadt, die hierzu bereit sei“, war die unmissverständliche Botschaft an den Kunstsammler.

Max von Goldschmidt-Rothschild war in einer verzweifelten Lage: Alle Familienmitglieder hatten Frankfurt bereits verlassen, der Baron war allein zurückgeblieben mit seinen 1.500 Kunstwerken im großen Stadtpalais in bester Lage, umgeben von 55.000 Quadratmetern Parkgelände. Die finanzielle Situation der Familie hatte sich durch die Weltwirtschaftskrise verschlechtert, das ehemals florierende Bankhaus der Familie war bereits verkauft worden. Unter Druck stand Maximilian von Goldschmidt-Rothschild auch durch die drohende Zahlung der Judenvermögensabgabe in Höhe von 945.000,- Reichsmark, der Reichsfluchtsteuer für seine Söhne in Höhe von RM 400.000,- sowie Erbschafts- und anderen Steuern in Höhe von RM 345.000,-. Bereits im Juni 1937 hatte Oberbürgermeister Krebs sich das Grundstück des Barons an der Bockenheimer Landstraße 8 für einen viel zu geringen Betrag gesichert. Jetzt griff der kunstaffine, vom Kampfbund für deutsche Kultur kommende NS-Funktionär zu: Für 2,5 Millionen Reichsmark wurde auch die legendäre Sammlung im Handstreich zu Stadteigentum, mit Meisterwerken wie einem Mädchenbildnis von Rembrandt, Werken von Frans Hals, Peter Paul Rubens, Joshua Reynolds oder Antonis van Dyck. Als europaweit einzigartig galt die von Goldschmidt-Rothschild über Jahrzehnte mit großer Kennerschaft und unter kundiger Beratung zusammengetragene Sammlung, darunter sakrale mittelalterliche Raritäten wie ein gotisches Armreliquiar aus dem Welfenschatz, aber auch kostbare Goldschmiedearbeiten der Renaissance, Tabakdosen aus dem 18. Jahrhundert oder Möbel des französischen Barock ebenso wie Porzellane der besten Manufakturen Meißen, Höchst, Fürstenberg und Sèvres. Der Kunstsammler hatte seine Kollektion in seinem weitläufigen Palais, wenn auch nicht öffentlich, aber wie in einer musealen Umgebung präsentiert.

Die Aneignung der Sammlung ist Teil eines jahrelangen, umfassenden, systematischen Raubzugs der Stadtverwaltung auf Kosten seiner jüdischen Bürger: Bei der Emigration des Sammlers Robert von Hirsch beispielsweise bereicherten sich die Frankfurter Bibliotheken an dessen wertvollen Handschriften. Der Abwanderung von Kulturgut durch Flucht vieler renommierter Frankfurter Sammler begegnete man mit der Eintragung der Objekte in die Liste national wertvoller Kulturgüter, was eine Ausfuhr unmöglich machte. So seien „wertvolle deutsche Kunstwerke, die sich bisher in jüdischem Besitz befanden, wieder in deutschen Besitz zurückgekehrt“, vermeldeten dann stolz die Zeitungen des NS-Regimes. Kulturgüter des Jüdischen Museums und Objekte aus den Synagogen wurden beschlagnahmt oder günstig aufgekauft. Aus den Zwangsabgaben der Schmuck- und Edelmetallwaren bedienten sich kulturelle Institutionen wie das Museum für Kunsthandwerk zu niedrigsten Preisen. Auch die bedeutende Sammlung von Carl von Weinberg samt seiner Villa Waldfried konnte man 1938 mit den gleichen beängstigenden Argumenten „günstigst“ ankaufen, Museen profitierten anschließend von der Kunstbeute, u. a. 200 Skulpturen kamen ins Liebieghaus. Auch bei der Aneignung der Sammlung Carl von Weinberg war wieder Notar Alexander Berg als langjähriger Vertrauter der jüdischen Familien vermittelnd am Werk: vorgeschoben dabei immer das Narrativ von der Rettung vor der Zerstörung und der gerechten Bezahlung der Eigentümer. Zynisch wirkt Bergs Wiedergabe der Argumente von Oberbürgermeister Krebs, „daß er unter keinen Umständen die Notlage, in der sich der Baron v. Goldschmidt-Rothschild zur Zeit als Jude befinde, ausnutzen werde; er wolle sich später nicht dem Vorwurf aussetzen, der ‚Leichenfledderer‘ der Juden genannt zu werden“. Dass Berg, der zudem als langjähriger Administrator des Städel – vergleichbar einem ehrenamtlichen Vorstand der Stiftung – die Begehrlichkeiten der Museen sehr gut kannte, von den Deals stark selbst profitierte, zeigen die im Jahr 1938 im Vergleich zu Vorjahren verdoppelten Umsätze seiner Kanzlei.

Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, der nach dem Verlust von Haus und Sammlung eine Dienstboten-Wohnung in seinem eigenen Palais mieten „durfte“, starb dort schließlich einsam im Jahr 1940. Über den vereinbarten Kaufpreis hatte der Baron nur sehr eingeschränkt verfügen können, da dieser, wie oftmals üblich, auf ein Sperrkonto eingezahlt worden war.

Nach dem Zusammenbruch des NS-Staats verfingen die Narrative der Rettung der Kunst und der vermeintlich fairen Behandlung der jüdischen Sammler bald nicht mehr. Ernst Holzinger, Direktor des Städel, beschwerte sich anlässlich von Rückgaben noch über den „Eingriff in die Substanz der Museen, der über das Wiedergutmachungsgesetz hinausgeht“. Stadt und Museen versuchten zunächst vehement, sich gegen die Restitutionen zu sperren, wobei sogar überlegt wurde, den Erben die Kosten für die Aufbewahrung der Kunstwerke aufzurechnen und Zinsen verlangt werden sollten. Doch machte eine neue Gesetzgebung der Militärregierung den Weg frei für Rückgaben. So kam es Ende der 1940er-Jahre zu ersten Vergleichen, auch was die Grundstücke und Liegenschaften betraf. Dass die damals erfolgten Restitutionen aber durchaus auch heute noch Fragen aufwerfen, deckte der Spiegel vor einigen Jahren bei der aufwändigen Rekonstruktion des Raubs der Sammlung Carl von Weinberg auf.

Jahrzehnte dauerte es, bis sich die Museen ihrer Mitverantwortung der unter Zwang und Repression verkauften Kunstsammlungen stellten. Vor einigen Jahren dokumentierte das Städel exemplarisch anhand einzelner Objekte seine hochproblematische Rolle beim Kunstraub. Auch das heutige Museum Angewandte Kunst, das ehemals als Museum für Kunsthandwerk Haupt-Nutznießer der übernommenen Sammlung Goldschmidt-Rothschild war, erforschte mit Unterstützung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste systematisch seine eigene Rolle in der NS-Zeit. Gefördert u. a. von der Kulturstiftung der Länder, versucht nun eine Ausstellung zum Thema, kuratiert von Provenienzforscherin und Kuratorin Katharina Weiler, eine Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Aneignung und damit erstmals eine kritische Betrachtung der eigenen Institutions­geschichte.

Denn auch wenn das Museum zunächst nicht an der fragwürdigen Sammlungsübernahme beteiligt war, begann schon am Tag nach dem überstürzten Ankauf die emsige Arbeit der Museumsleute: Auf Wunsch des Oberbürgermeisters arbeiteten die Museumsdirektoren Ernst Holzinger vom Städel, Alfred Wolters von der Städtische Galerie und Walter Mannowsky vom Museum für Kunsthandwerk wie sie berichteten „Tag und Nacht“, um die Objekte der angeeigneten Sammlung zu prüfen und gleichzeitig mit einem Aufkleber und einer Nummer als Eigentum der Stadt zu markieren. Das Palais selbst wurde kurzerhand zur Außenstelle des Museums für Kunsthandwerk deklariert, da in den Häusern der Platz für die 1.400 Stücke fehlte. Drei Wochen später eröffnete man bereits mit einem neuen Arrangement der Objekte das Palais für die Öffentlichkeit. Auch Werke aus der Sammlung Carl von Weinberg und aus den Übernahmen aus dem sogenannten Judensilber wurden nun dort präsentiert. Illustrierend zur Rekonstruktion dieser Vorgänge wird in der Frankfurter Ausstellung die eigens entwickelte Museums-App – neben ihrer Funktion als Multimedia-Guide der Ausstellung – auch das im Krieg zerstörte Palais als Augmented Reality für die Besucher wieder erlebbar machen.

Welche Akteure organisierten von langer Hand die Übernahme? Auf welch unselige Weise kooperierten dabei NS-Verwaltung und die Berater der Sammler? Wie organisierte die Kulturverwaltung über Jahre den systematischen Raub von Kulturgut? Wie beteiligte sich das Museum an der Aneignung? Wie steinig war der Weg nach Kriegsende zu Restitutionen und Entschädigung? Welchen Weg nahmen die Objekte der Sammlung schließlich auf dem internationalen Kunstmarkt? Denn die Sammlung, die als einmaliges Ensemble galt, wurde nach der Rückgabe in alle Einzelteile aufgelöst und verauktioniert. Aus namhaften internationalen Sammlungen kehren verstreute Stücke für kurze Zeit nach Frankfurt zurück und geben einen Eindruck vom Reichtum der privaten Kollektion des Barons von Goldschmidt-Rothschild: Seltene mittelalterliche Reliquien, wertvolles frühneuzeitliches Kunsthandwerk wie Silberpokale, Bestecke, Skulpturen, Majoliken, Email-Gläser, Porzellan, Miniaturen und Schnupftabakdosen, aber auch erlesene altmeister­liche Gemälde sowie Louis XV.-Möbel werden gezeigt.

Ein Verdacht bestätigte sich, als Katharina Weiler nun umfassend die Listen der Zuweisungen, Verluste und Restitutionen abgleichen konnte: Länger schon waren Unstimmigkeiten bemerkt worden, nun wurden rund 50 Objekte in der Sammlung identifiziert, die bei der Restitution nicht den Weg zurück an die Erben von Maximilian Goldschmidt-Rothschild fanden oder legitim angekauft worden waren. Das Museum machte seine Ergebnisse transparent und begab sich in Verhandlung mit den Nachfahren zur Klärung der Vorgänge. Auch die Rolle des seit 1938 vom NS-Regime eingesetzten Direktors Walter Mannowsky, einem fördernden Mitglied der SS, beleuchtet Katharina Weiler näher. Unlängst publizierte die Provenienzforscherin beispielsweise ihre erschreckenden Ergebnisse darüber, wie sich Frankfurter Museumsdirektoren gemeinsam mit der Stadt organisierten, um sich nach der Besetzung Frankreichs mit zusätzlichen Ankaufsetats in Paris an der Raubkunst zu bereichern, die dort zu Schleuderpreisen im Kunsthandel kursierte.

Johannes Fellmann ist Redakteur von Arsprototo.

Die Sammlung Maximilian von Goldschmidt-Rothschild
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
28. Januar – 4. Juni 2023
www.museumangewandtekunst.de

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