Von Schwertschluckern und Schnürleibern

Die Spitze des Schwertes reicht bis in den Magen und taucht leicht in die Reste der letzten Mahlzeit ein. Der Schwertschlucker selbst ist ein ansehnlicher blonder junger Mann mit Schnurrbart, jede Bartstoppel in seinem wachsbraunen Gesicht ist haarklein wiedergegeben. Das Kunststück gelingt, weil der Artist den Kopf weit zurücklegt und das Schwert vom Rachen in die Speiseröhre gleitet – unter dem Kehlkopf wird es dabei kurz sichtbar, verschwindet dann hinter der Lunge und kommt im Magen wieder zum Vorschein. Allerdings schluckt der „Schwertschlucker“ das Schwert nicht – dies hätte sofort Ver-letzungen zur Folge – vielmehr unterdrückt er den Brechreiz und kann so die Klinge im Mund verschwinden lassen. Wie macht ein Schwertschlucker das? Heute gibt im Internet Wikipedia samt Röntgenfilm Auskunft. Aber auch das 19. Jahrhundert hatte seine Möglichkeiten, einem Jahrmarktkünstler in den Rachen und unter die geöffnete Bauchdecke zu schauen: Neben Artisten, Gauklern oder Völkerschauen boten die Jahrmärkte in Wachskabinetten den Blick in geöffnete Körper. Abformungen von Geschlechtskrankheiten mahnten drastisch zu Prävention und Hygiene. Die Schauen boten moralisierende Aufklärung, Gesundheitsvorsorge, aber auch Monstrositäten, Schauder, Erotik und den Blick auf Verbotenes oder Schreckliches.

Werkstatt Rudolph Pohl, Schwertschlucker, Dresden, um 1900
Werkstatt Rudolph Pohl, Schwertschlucker, Dresden, um 1900

Der Schwertschlucker ist eine von etwa 200 Wachsfiguren und -modellen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts auf Jahrmärkten in Mitteleuropa, Skandinavien und dem Baltikum gezeigt wurden. „Der Mensch in gesunden und kranken Tagen“ und „Das Wunder des Lebens“ versprach die Ausstellung dem Publikum. „Bei guter körperlicher Gesundheit zu sein, ist gerade für die arbeitende Klasse von großer Bedeutung, um beständig ihren Unterhalt verdienen zu können; daher ist es notwendig, daß sie alles Erdenkliche über diesen Gegenstand erfährt. Die schlimmen Auswirkungen von engem Einschnüren, exzessivem Rauchen und unmäßigem Trinken werden hier dargestellt“, heißt es in einer Werbebroschüre. Doch wie noch heute manch dubiose „Körperwelten“-Schau setzten auch die damaligen Schausteller auf den besonderen Kitzel. So war denn auch der Eyecatcher am Eingang der Jahrmarktsbude „das vom Blitzschlag getroffene Mädchen“ mit Brandmalen an der bloßen Brust. Zuletzt hatte die Sammlung noch 1994/95 einen Auftritt in der Ausstellung „Wunderkammer des Abendlandes“ in der Bonner Bundeskunsthalle. Dann verschwanden die Objekte in einer Lagerhalle in Finnland. Mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder gelang nun dem Deutschen Hygienemuseum Dresden der Ankauf der wichtigsten Stücke.

Zur Sammlung gehören – ästhetisch fein und wissenschaftlich genau modelliert – ganzfigurige Übersichtsmodelle wie die „Zerlegbare Venus“, eine schöne Schwangere oder der „Herkules“, eine Muskelfigur. Daneben eine Fülle von Detailmodellen etwa aus dem Bereich der Embryologie, zu Geschlechtskrankheiten in verschiedenen Stadien, Kriegsverletzungen, Arbeitsunfällen oder zu illegalen Abtreibungen und den Lebern von Alkoholikern. Und immer verbindet sich der Anspruch auf Vermittlung medizinischer Fortschritte mit der Sensationslust des Betrachters.

Wachs – eine Art „Fleischimitation“ (Salvador Dalí) – fand schon in der Antike bei Ahnenporträts Verwendung oder diente später zur Fertigung von sogenannten Effigies, Abbildern im höfischen Totenzeremoniell. Barockbildhauer schufen in Wachs ihre Modelle; ebenso arbeiteten Edgar Degas und Auguste Rodin mit dem subtil formbaren Material. Anatomische Wachskabinette stehen also in einer langen Handwerkstradition. Seit Ende des 17. Jahrhunderts bemühten sich die Wachsbildner, den Bau des menschlichen Körpers möglichst naturgetreu darzustellen. Die Modelleure anatomischer Figuren bewegten sich immer zwischen Wissenschaft und Kunst und arbeiteten mit äußerster Präzision und hohem Aufwand. Sorgfältige Bemalung und Färbung, Echthaar, Glasaugen, Kleidungsstücke und aus der Kunst entlehnte Posen sorgten für die lebensechte und berührende Wirkung der Wachsbildnisse. Ihre Abnehmer waren die akademische Lehre und der Adel mit seinen Kunst- und Wunderkammern. Im 19. Jahrhundert kam es dann nach dem berühmten Vorbild des Anatomiemuseums „La Specola“ in Florenz oder dem Wiener Josephinum zur Einrichtung anatomischer Schauen für ein breites Publikum. Zahlreiche dieser Kabinette reisten im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch Europa. Zur ersten Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 und später im Hygienemuseum Dresden griff man auf einen Teil des Formen- und Themenrepertoires jener Künstler und Manufakturen zurück, die bislang nicht nur für Schausteller, sondern auch für anatomische Sammlungen tätig waren.

Wachs ist ein konservatorisch hochsensibles Material, und im Schaustellergewerbe waren die Erhaltungsbedingungen für derartige Sammlungen denkbar problematisch. Im Hygiene-Museum erhalten die Objekte nun die adäquate Betreuung. Die fragilen Wachsmoulagen des Museums werden bereits in einem Projekt im Rahmen von KUR (der Initiative der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut) untersucht und gesichert. Mit dem Erwerb der bedeutenden kulturhistorischen Sammlung wird die Geschichte des anatomischen Panoptikums ebenso bewahrt wie das Kunsthandwerk der anatomischen Wachsmodellierung. Für das Deutsche Hygiene-Museum ist der Ankauf darüber hinaus ein Glücksfall, denn die anatomischen Wachskabinette des 19. Jahrhunderts markieren den Umschlagpunkt von der medizinischen Lehrschau als Nervenkitzel zur Volksbildungseinrichtung mit professionellen Visualisierungstechniken und Popularisierungsstrategien. Und in dieser Tradition steht das Haus noch heute.