Von bösen Dämonen und schlimmen Studenten

Der Naumburger Dom besitzt eine bedeutende Gruppe großformatiger illuminierter Chorbücher aus dem späten Mittelalter. Die acht Handschriften wurden für das Domkapitel von Meißen für das Officium in einem nicht genau bekannten Skriptorium gefertigt und können aufgrund von Einträgen auf 1504 datiert werden. Sie sind ca. 81 × 63 cm groß, zwischen 8 und 15 cm dick und wiegen jeweils zwischen 30 und 40 kg.
In der Folge der Einführung der Reformation im Hochstift Meißen ging die Handschriftengruppe nach dem Tod Herzog Georg des Bärtigen im Jahr 1539 in den landesherrlichen Besitz über.
Im Jahr 1579 konkurrierten die beiden nicht säkularisierten Domstifte in Merseburg und Naumburg um den Erwerb der wertvollen Chorbücher. Das Naumburger Kapitel erhielt den Zuschlag und so wurden die Bücher 1580 in den Naumburger Dom überführt, wo sie auf speziell auf ihre enorme Größe und Gewicht zugeschnittenen Pulten aufgelegt wurden.
Zu den außergewöhnlichen Besonderheiten der Naumburger Chorbuch-Gruppe gehört ihre lange Nutzung im liturgischen Gebrauch. Die Einführung der Reformation im Naumburger Hochstift in der Mitte des 16. Jahrhunderts führte nicht zum Abbruch der überkommenen „römischen“ Liturgieformen im Chordienst. So wurde – obwohl sämtliche Naumburger Kanoniker seit dem frühen 17. Jahrhundert persönlich lutherischen Glaubens waren – an der Tradition der lateinischen Horen im Ostchor des Naumburger Domes bis in das späte 19. Jahrhundert festgehalten.
Entsprechend blieben auch die acht mittelalterlichen Chorbücher weiterhin im Gebrauch. Erst im Rahmen einer Neuordnung der Stiftsverhältnisse unter der Aufsicht des preußischen Staates wurden die alten Gesänge im Jahr 1874 ausgesetzt.

Restaurierung – Monitoring – Dokumentation

Die acht Chorbücher wurden am CICS, dem Cologne Institute of Conservation Sciences der Technischen Hochschule Köln, im Zuge einer Kooperation mit den Vereinigten Domstiftern Naumburg in einem von der KEK geförderten Projekt detailliert dokumentiert und untersucht. Band VIII wurde modellhaft restauriert, um eine sinnvolle Kostenkalkulation für die anderen sieben Bände zu ermöglichen. Die naturwissenschaft­lichen Untersuchungen sollten den Schadensverlauf ermitteln und zukünftige Schadenspotenziale aufzeigen. Diese sollten dann in einem Monitoring über die nächsten Jahre hinweg beobachtet werden, um weitere konservatorische Maßnahmen vorher planen zu können. Für ein sinnvolles Monitoring möglicher Schadenspotenziale muss eine ausführ­liche Foto- und Beschreibdokumentation angefertigt werden. Nur so können zukünftige Schäden vorhergesehen und rechtzeitig behoben werden. Jede Seite wurde nach verschiedenen Kriterien beschrieben und fotografisch dokumentiert.
Die Schwierigkeit bestand wiederum in der Größe und dem Gewicht der einzelnen Bände – allein, um sie zu bewegen, braucht man mindestens vier Hände und viel Kraft.

Untersuchung der Maltechnik, der Pigmente und Farbstoffe 

Die Malereien wurden zuerst mit einem Metallgriffel vorgezeichnet, der aber nur an wenigen Stellen sichtbar wird. Die Maler haben die Vorzeichnung fast immer mit den Farbschichten übermalt. Dann erfolgte der Auftrag des Polier­goldes, das auf rotem Bolus (einem Erdpigment) und weißem Assis (einer Grundierung aus Kreide oder Bleiweiß) ­aufge­tragen und poliert wurde.

Probleme der Analytik

Die enorme Größe und das Gewicht der Bände schränkte die Verwendung der Analysegeräte stark ein. So war die Röntgendiffraktionsanalyse nur an einem durch Beschädigung frei im Buch liegenden Blatt möglich. Die anderen Spezialuntersuchungen (wie z. B. die Röntgenfluoreszenzanalyse mit einem Handmessgerät) konnten in der gebundenen Handschrift erfolgen. Auch die mikroskopischen Aufnahmen mit der digitalen Mikroskopie waren stark eingeschränkt, da unter der Verwendung der vorhandenen Stative nicht jeder Ort innerhalb der Handschrift erreicht werden konnte.
Die Ergebnisse zeigen eine reichhaltige Farbpalette: Das Posjnakit (basisches Kupfersulfat) ist ein typisches sekundäres Mineral, das in den Kupferbergwerken als Verwitterungsprodukt der Kupfererze anfällt und das gerade in der Zeit der Herstellung der Chorbücher auch in Quellen (unter dem Namen „Schiffer grün“) auftaucht. Typisch für ein sekundäres Vorkommen ist die Verunreinigung mit anderen Kupferverbindungen, hier Malachit. Unter den weiteren Farbmitteln sind vor allem die organischen Farbmittel Brasilholz und Schildlausfarbe (Kermes) zu erwähnen. Vor allem der Schildlaus-„Purpur“ wurde wohl aus Scherwollabfällen gewonnen  – eine Technik, die Anfang des 16. Jahrhunderts sehr gebräuchlich war.
Die zerstörungsfreien Techniken können allerdings nicht zwischen den verschiedenen Kermesarten (Mittelmeerkermes, Araratkermes) unterscheiden. Als Blau kam nur Azurit zur Verwendung – allerdings vermischt mit Weißpigmenten für helleres Blau und mit Rotfarbmitteln für die violetten Töne. Sehr auffällig sind die Farbkombinationen beispielsweise von Orange mit Grün und Silber.

Fantasiereiche Dekorationen 

Die Chorbücher sind mit detailfreudigen Illustrationen aus der Pflanzen- und Tierwelt verziert. In die farbenprächtigen Voluten sind Blumen und Tierdarstellungen eingestreut, manchmal auch kleine Szenen zur Jagd und verspielte Putten. Die Malereien sind von verschiedenen Malern gefertigt und von großer Qualität. Leider ist die Werkstatt unbekannt.

Händescheidung der Malereien 

Zwei der Maler unterscheiden sich sehr eindeutig in ihrem Malstil. Während der Eine sehr voluminös und kleinteilig modelliert, malt der Andere flach und zurückhaltend. In einigen Malereien könnte noch ein dritter Maler mit einem zwar voluminösen, aber schlichten und einfachen Stil zu unterscheiden sein.

Spuren der Nutzung

Aufgrund ihrer langen Nutzung bis weit in das 19. Jahrhundert hinein weisen die Chorbücher starke Gebrauchsspuren auf. Gelegentlich verewigten sich sogar Choralisten mit ihren Namen oder Monogrammen in den kostbaren Handschriften. Unter den zwölf Choralisten, die als Sänger an der Ausgestaltung der Liturgie im Chor beteiligt waren, befanden sich jeweils sechs geeignete Schüler der Domschule.
Wie in jedem Unterricht dürfte auch im Naumburger Dom die Aufmerksamkeit der Schüler beim Üben gelegentlich abgenommen haben: Manch einer scheint eine Pause oder die Unachtsamkeit des Kantors dazu genutzt zu haben, sich in den imposanten und nicht durchweg beliebten Riesenbüchern zu verewigen. Über ein ganzes Jahrhundert hinweg, von 1616 bis 1711, haben Einzelne die Handschriften ihrerseits handschriftlich verändert: Mit Tinte oder Rötelstift haben sie sich in der Art von datierten Monogrammen in den überlieferten Bücherschatz eingeschrieben – ganz so, wie wir es von Bauwerken her kennen. Subtileren Einträgen stehen dick aufgetragene Signaturen oder gar Einritzungen in Blattvergoldungen gegenüber.

Dämonen 

Auch einer der spätmittelalterlichen Buchmaler schrieb sich als Individuum in die Chorbücher ein. Noch ganz der Bildtradition des Mittelalters verhaftet, fügte er in Initialen und Ranken Fabelwesen, Dämonen und Monstren ein. Man wird vermuten dürfen, dass er sich dabei vielleicht an ältere Bestiarien erinnert hat, die über vielfältige Ungeheuer berichteten. Im Mittelalter wurde ihrer bildlichen Darstellung eine apotropäische, das heißt abwehrende Wirkung zugesprochen: Was gezeigt wird, schien durch die malerische Fixierung gleichsam gebannt.

Die acht Chorbücher aus dem Naumburger Dom konnten durch das von der KEK geförderte Projekt detailliert dokumentiert und untersucht werden. Die modellhafte Restaurierung des Bandes VIII am CICS erleichtert die sinnvolle Kostenkalkulation für die anderen sieben Bände und macht es möglich, die Mittel dafür einzuwerben.