Ungewissheit
Liebe Leserinnen und Leser,
einer meiner Bekannten hat ein kleines Café im Zentrum Berlins gepachtet. Heute Morgen, als ich auf einen Espresso to go wartete, sagte er unvermittelt: „Weißt Du, ich will nicht klagen. Ich mache keinen Gewinn, aber wenigstens kann ich meine Kosten decken. Bislang bin ich gesund geblieben, was will ich mehr?“ Dann, nach einer kurzen Pause: „Das Schlimmste ist die Ungewissheit: Wann hört es auf? Was wird bis dahin geschehen? Wie wird es danach sein?“
Wie alle anderen Bereiche unserer Gesellschaft ächzt auch die Kultur unter der Last der Pandemie. Theater, Kinos und Museen sind wieder geschlossen, Veranstaltungen werden abgesagt, Künstlerinnen und Künstler müssen um ihre Existenz fürchten. Aus Steuermitteln finanzierte Hilfsprogramme sollen die größte Not lindern und dem Schwund vorbeugen, der kulturelle Infrastrukturen und damit die kulturelle Vielfalt insgesamt bedroht. Auch wenn diese Hilfsprogramme nicht alle Probleme lösen können und im Einzelfall nicht immer passgenau sein mögen, sie sind und bleiben ein Glücksfall für die Kultur. Dies zeigt gerade auch der Blick in Staaten, die nicht dazu bereit oder in der Lage sind, den Kultursektor auf ähnliche Weise finanziell und ideell zu unterstützen.
Und doch bleiben die Ungewissheit und die Frage, die derzeit niemand beantworten kann: Wie wird es danach sein? Eines scheint heute schon sicher: In den öffentlichen Haushalten werden weniger Mittel für die Förderung von Kunst und Kultur zur Verfügung stehen. Stärker als bisher werden Prioritäten formuliert werden müssen, die sich an dem strategischen Ziel orientieren werden, trotz notwendiger Einsparungen einer möglichst großen Vielfalt kultureller Ausdrucksformen geschützte Räume der Entfaltung in Freiheit sowie öffentliche Orte der Interaktion mit der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Qualität, Nachhaltigkeit, Diversität, Zugänglichkeit und Transformationspotential werden vermutlich als Förderkriterien dabei eine noch größere Rolle spielen als bisher.
Zwei wichtige Projekte der Kulturstiftung der Länder – der Ankauf der Sammlung Werner Nekes mit rund 25.000 Objekten zur Geschichte der visuellen Künste und des Sehens für die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main, und das Filmmuseum Potsdam sowie der Ankauf des Schriftgutnachlasses von Rainer Werner Fassbinder für das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main – stehen im Zentrum dieser Ausgabe von Arsprototo und zeigen eindrucksvoll, wie innovative und nachhaltige Fördermodelle den Herausforderungen der langfristigen Zugänglichkeit gesamtstaatlich bedeutsamer Kulturgüter selbst in Krisenzeiten begegnen können. Indem beide Projekte die Grundlage für die Erforschung und Vermittlung der Sammlungsbestände schaffen, stellen sie außerdem sicher, dass Wissenschaft und Gesellschaft auch in Zukunft umfassend an diesen Kulturgütern partizipieren können. Dabei ist es nicht mehr als ein Zufall, dass die Flüchtigkeit des Gesehenen im Augen-Blick, die thematisch beide Förderungen gleichermaßen durchzieht, sinnbildlich stehen mag für das Gefühl der Instabilität und Ungewissheit, das uns in diesen Tagen immer wieder beschleicht.
Ihr Markus Hilgert