Rom sehen und zeichnen

Nur zwei Jahrzehnte, und doch eine neue Zeit. Als der livländische Kaufmann, Gutsbesitzer und Kunstsammler Wilhelm von Blanckenhagen (1761–1840) mit seiner Familie 1810 nach Rom kommt, leidet die Ewige Stadt unter Napoleons Besetzung, doch die Gemeinde der deutschsprachigen Künstler Roms glaubt noch an das Ideal des Klassizismus. Als 1828–1830 der Hannoversche Staatsmann und Publizist August Wilhelm Rehberg (1757–1836) mit Frau und Töchtern Italien bereist, bestimmen zwar teilweise noch immer dieselben „Deutschrömer“ die Kunstszene der Stadt, doch der Zeitgeist hat sich gründlich gewandelt. Nicht mehr antikisch inspirierte Idealschönheit ist das Maß aller Dinge, seit die ästhetischen Normen in Bewegung geraten sind. Vorboten eines neuen, sozialen Realismus konkurrieren mit wiedererwachter Religiosität und Innerlichkeit. Das Zeitalter der Aufklärung ist endgültig vorbei, man steckt mitten in der Restauration.

Ablesen lässt sich diese Epochendrift an zwei Freundschafts- und Souveniralben, in denen die Romreisenden Blanckenhagen und Rehberg Zeichnungen zusammenstellten, die sie während ihres Italienaufenthaltes im direkten Kontakt mit meist deutschsprachigen Künstlern gesammelt haben. Beide Alben wurden in den Familien geschätzt und haben lange, das Blanckenhagen-Album sogar bis zuletzt, in Familienbesitz überdauert. Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und weiterer Förderer konnten die kunsthistorisch und kulturgeschichtlich wertvollen Konvolute nun erworben werden: Das Blanckenhagen-Album bereichert seit einigen Monaten die Graphische Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel und das Rehberg-Album ergänzt seit Herbst 2018 die reichen Bestände des Museums August Kestner in Hannover. In beiden Fällen schließen sie Sammlungslücken.

Seit der Grand Tour englischer Adeliger im 18. Jahrhundert gehörte solch ein Album Amicorum zu den Pflichtsouvenirs des großen, bleibende Eindrücke vermittelnden Italien-Erlebnisses. Nun, im neuen Jahrhundert, nach Goethes Italienreise und gewissermaßen als mentalitätsgeschichtliches Resultat der Französischen Revolution, werden auch Vertreter des deutschsprachigen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums zu Sammlern, mehr noch: zu Autoren, die aus erworbenen, oft sogar von den Künstlern für sie angefertigten und ihnen gewidmeten Zeichnungen Alben zusammenstellen. Dabei mischt sich Bedeutendes mit Amateurhaft-Liebenswürdigem. Persönliche Bindung und Bedeutung zählt. Im Sammel- und Erinnerungsalbum der Goethezeit ist das spontane und intime Medium der Zeichnung ganz bei sich selbst.

Derzeit werden beide Neuerwerbungen an ihren jeweiligen Standorten wissenschaftlich erschlossen. Die Zwischenergebnisse, die Christiane Lukatis aus Kassel und Anne Viola Siebert aus Hannover im Gespräch preisgeben, klingen vielversprechend. Im Oktober 2020 sollen, wenn sich die Planungen verwirklichen lassen, Blanckenhagen- und Rehberg-Album erstmals gemeinsam in Kassel und 2021 in der Casa di Goethe in Rom ausgestellt werden. Unabhängig davon, ob die Ausstellung im realen oder vielleicht nur im virtuellen Raum stattfindet, wird es eine Einladung zum Reisen in Gedanken sein.

Die Zusammenschau als Glücksfall, genussvoll zum vergleichenden Sehen einladend. Und zu vergleichen gibt es einiges: So waren Blanckenhagen und Rehberg nicht nur annähernd gleich alt und beide von bürgerlicher Abstammung – obgleich der baltische Kaufmann Blanckenhagen ein von adligen Zeitgenossen wie den Humboldts wenig goutiertes „von“ im Namen trug. Beide blickten auf ein berufliches Lebenswerk zurück, als sie mit ihren Frauen und – beinahe erwachsenen – Kindern ins Sehnsuchtsland Italien aufbrachen. Beide waren gut vernetzt und verfügten mit Caroline von Humboldt und Friederike Brun (Blanckenhagen) sowie August Kestner (Rehberg) über einflussreiche Ansprechpartner in Rom, die ihnen als Türöffner in die deutschsprachige Künstlerkolonie dienten. Und sie interessierten sich, obgleich ihre Aufenthalte zwei Jahrzehnte auseinander lagen, teilweise für dieselben Künstler.

So gibt es in beiden Alben Zeichnungen von Bertel Thorvaldsen, dem klassizistischen dänischen Großbildhauer (und zunehmend auch Großverdiener), der über vier Jahrzehnte lang der deutsch-skandinavischen Künstlergemeinde Roms als primus inter pares vorstand. In beiden Alben vertreten sind auch die Brüder Johannes und Franz Riepenhausen aus Göttingen, die als bekennende Raffael-Jünger den Nazarenern nahestanden, in gemeinsam signierten Werken als frühes Künstlerkollektiv auftraten und ebenfalls als deutsch-römische Institution galten.

Das Blanckenhagen-Album enthält – sehr seltene – einzeln signierte Werke der Riepenhausen-Brüder: Franz Riepenhausen steuert die Allegorie einer Caritas, sein Bruder Johannes eine virtuose Federzeichnung des von Johann Heinrich Tischbein in die gerade entstehende vaterländische Historienmalerei eingeführten Themas „Konradin von Schwaben und Friedrich I. von Baden vernehmen beim Schachspiel ihr Todesurteil“ bei. Für August Wilhelm Rehberg zeichnet einer der beiden Brüder, vermutlich Johannes, dann 20 Jahre später die Bleistiftskizze einer „Madonna mit Kind und Johannesknaben“, noch immer voller Schwung und Linienschönheit am großen Vorbild Raffael Maß nehmend, ohne dessen theologischer Präzision nachzueifern.

Für den 1821 wegen seiner reformfreundlichen Haltung zwangspensionierten Königlich Hannoverschen Geheimen Kabinettsrat Rehberg (heute entspräche das einem Ministerrang) waren die Riepenhausen-Brüder zudem Landsleute – damals ein nicht unwesentlicher Orientierungspunkt für Reisende in der Fremde, der Spuren in beiden Alben hinterließ. Das Wechselspiel von landsmannschaftlicher Sympathie und internationaler Perspektive wird bereits in Wilhelm von Blanckenhagens Künstlerauswahl sichtbar. Als nobilitierter Gutsbesitzer gehörte der Deutschbalte zur proeuropäisch sozialisierten Oberschicht des von Riga aus verwalteten kaiserlich-russischen Gouvernements Livland. Und so tritt Blanckenhagen sowohl in Kontakt zum zeichnenden englischen Griechenland-Kenner Edward Dodwell wie zu Bertel Thorvaldsen, mit dem er über ein Denkmal anlässlich des 100. Jahrestags der „Befreiung“ Rigas von schwedischer Herrschaft durch Zar Peter den Großen verhandelt. Eine zauberhafte Ideenskizze zum Relief

„Bacchus gibt Amor zu trinken“ von 1810 dokumentiert die ­persönliche Wertschätzung beider Männer. Neben solchen ­internationalen Berühmtheiten aber bittet Blanckenhagen ­seinen livländischen Landsmann Carl Gotthard Grass sowie den Russen Fjodor Michailowitsch Matwejeff um Beiträge zum Album. Gerade die am römischen Kunstmarkt weniger etablierten Künstler erhofften sich durch die – meist nicht honorierte – Aufforderung, einen Beitrag zum Sammelalbum eines wohlhabenden Reisenden zu leisten, lukrative Folgeaufträge. Sowohl von Grass, der 1804 gemeinsam mit Karl Friedrich Schinkel das noch wenig erschlossene Sizilien erkundet hatte, wie von Matwejeff erwarb Blanckenhagen je zwei Landschaftsgemälde. Teile von Blanckenhagens in Rom begründeter Kunstsammlung, die dieser 1820 an die Universität Dorpat (heute Tartu) verkaufen musste, haben sich im Kunstmuseum von Woronesch erhalten, so auch die beiden Gemälde Matwejeffs. Beide Künstler lieferten für das Blanckenhagen-Album je eine sizilianische Landschaft ab.

Bis nach Sizilien wagt sich die Familie Blanckenhagen im Frühjahr 1810 nicht vor, wohl aber nach Neapel, neben Rom klassischer Anlauf- und oftmals auch südlicher Endpunkt damaliger Italienreisen. In Neapel wird neben der deutsch-dänischen Schriftstellerin Friederike Brun und ihrer durch freizügige Tanzdarbietungen berühmten Tochter Ida Quartier bezogen. Hier trifft man auf Christoph Heinrich Kniep, den Freund Goethes und Tischbeins, damals schon eine lebende Legende. Der alternde Künstler steuert zwei herrlich sparsam akzentuierte südliche Landschaften zum Album bei.

Künstlerisches Neuland betritt Blanckenhagen hingegen mit seinem Interesse für die gerade aus Wien nach Rom übergesiedelten Lukasbrüder Johann Friedrich Overbeck und Franz Pforr. Neben der stupenden Federzeichnung „Rebekka und Eliezer am Brunnen“ des deutsch-römischen Altmeisters Joseph Anton Koch gehören ihre beiden Blätter, so verschieden sie sind, zu den künstlerischen Höhepunkten des Albums. Thematisch schlagen Overbecks Familienallegorie „Rückkehr von der Reise und Bekränzung der Penaten“ und Pforrs Illustration zu Herders „Cid“-Übersetzung souverän den Bogen zwischen Mittelalter und Antike, formal blättern sie das gesamte Spek­trum nazarenischer Zeichenkunst zwischen räumlicher Disziplin und Linienzauber auf. Ob allerdings der persönliche Kontakt zwischen Künstler und Auftraggeber alle Erwartungen erfüllte, darf bezweifelt werden. In einem Brief an seinen Vater beklagte sich Overbeck, er habe von Blanckenhagen lediglich „einen ergebensten Bückling zum Dank“ erhalten und schloss mit dem Stoßseufzer: „O warum muß die Kunst nach Brod gehen!“

Noch weniger der Rolle eines klassischen Mäzens entsprach August Wilhelm Rehberg, der, einigermaßen mittellos, mit seiner Familie auf Einladung von August Kestner Rom und Italien bereiste. Kestner, Jurist, Archäologe und Kunstkenner, war Hannoverscher Gesandter beim Heiligen Stuhl und wie nur wenige Deutsche seiner Generation in Rom vernetzt. Für kunstbegeisterte Landsleute war er der ideale Cicerone. Der 20 Jahre ältere Rehberg profitierte von Kestners Kontakten zu Künstlern wie Bertel Thorvaldsen, den Riepenhausen-Brüdern, Wilhelm Ahlborn, Eduard Magnus, Carl Wilhelm Götzloff, Friedrich Nerly und Johann Baese. Ihre Zeichnungen, dazu solche des sehr ­respektabel dilettierenden Kestner, versammelt das Rehberg-Album.

Kunsthistorisch gründlich erforscht wurde das noch immer im Originaleinband erhaltene Album bereits durch Johannes Myssok (Deutsche Künstler in Rom um August Kestner und Bertel Thorvaldsen. Das Rehberg-Album, Rhema-Verlag, Münster 2012). Doch die Untersuchung sozialer und biographischer Netzwerke zwischen den Reisenden, ihren römischen Vermittlern und den Künstlern, wie sie Christiane Lukatis und Anne Viola Siebert weiter vorantreiben, dürfte etliche Neubewertungen bereit halten. Und Fragen stellen sich viele. Etwa mit welchem Italienbild im Kopf deutsche Bildungsbürger der Goethezeit nach Italien reisten? Wie die Künstler darauf reagierten? Oder wie man mit den Klischees und nationalen Stereotypen spielte, nachdem der internationale Klassizismus, dem noch Goethe gehuldigt hatte, nicht mehr à la mode war? Johann Baeses großspurig „L’Italia“ betitelter Oleanderzweig vor quietschblauem Grund, Carl Wilhelm Götzloffs einer Operette entsprungenes Brigantenpaar oder Eduard Magnus‘ Assimilationsphantasie „Thorvaldsen spielt Gitarre zum Saltarello der Damen Rehberg“ geben deut­liche Hinweise. Nicht immer hat das Reisen in Gedanken mit der Realität zu tun. Bereichernd ist es gerade deshalb.