Der Sohn des Donners

Diesem wohlgenährten Familienvater mit seiner teuren Pelzhaube und dem ebenso verbrämten taubenblauen Brokatober­gewand verdanken die Habsburger, dass ihr um 1500 noch sehr überschaubares Land im 18. Jahrhundert zum Riesenreich Österreich-Ungarn wurde. Der in Dreiviertellebensgröße und mit Familie dargestellte Johannes Cuspinian (1473–1529) fädelte in zehn Jahren diplomatischer Arbeit am ungarischen Hof 1515 die Doppelhochzeit zwischen zwei Enkeln seines Auftraggebers Kaiser Maximilian, Maria (1505–1558) und dem späteren Ferdinand I. (1503–1564) und zwei Kindern König Wladislaws II. von Ungarn, Anna (1503–1547) und dessen Nachfolger Ludwig II. (1506–1526), ein. In dem fünf Jahre später von Bernhard Strigel (1460–1528) in Wien gemalten Porträt, das sich nach seinem Ankauf in einer Londoner Auktion heute im Strigel-Museum Memmingen befindet, ist von Cuspinians Erfolg außer den allgemeinen Anzeichen von Wohlstand wie dem edlen Rückenmarderpelz und der Goldkette über den Schultern nichts zu sehen. Es ist ein Familienporträt, als solches eines der ersten und kompositionell ungewöhnlich. Links steht Cuspinian in aller Körperfülle neben einem Baum und vollführt enigmatisch eine Zeigegeste mit seinem leicht abgewinkelten Mittelfinger, der einen Zentimeter vor der glatten steingrauen Brüstung vor Vater und Sohn aus dem Bild herausweist. Zugleich bedeckt Cuspinian aber die Hand seines zweitältesten Sohnes aus erster Ehe, des zwölfjährigen Nikolaus Chrisostomus. Dieser trägt ein schwarzes Barrett mit drei knopfartigen Silberapplikationen. Der älteste Sohn, der fünfzehnjährige Sebastian Felix, legt seine Hand vor die Brust, wobei ihre Außenseite zugleich die linke Schulter des jüngeren Bruders berührt. Johannes Cuspinian umfängt ihn mit seiner Linken an der Schulter. Im Schatten dieser pyramidalen Konstruktion aus Vater und Söhnen steht – auch gestisch völlig isoliert – Cuspinians zweite Frau Agnes Stainer (gest. 1525), deren verschränkte Arme Strigel so malt, dass der Ehering an ihrer rechten Hand gerade noch sichtbar bleibt. Das Ganze lässt der Maler vor einem tiefblauen See und unter einem entlaubten Baum stattfinden, es ist demnach Herbst oder Winter. An einem der Äste hängt wie ein Damoklesschwert über den Söhnen eine Holztafel mit der an sie gerichteten lateinischen Aufforderung im Plural, sich stets um Gottesfurcht, Klugheit, Aufrichtigkeit zu bemühen: „Filii, colite Deum, discite prudentia[m], diligite honestate[m]!“ Das Mahnpapier ist auf der Tafel mit Wachs fixiert und weist per­spektivisch verkürzt wie die Tabula bei Altdorfers „Alexanderschlacht“ in München oder bei Dürers „Adam und Eva“ im Madrider Prado in die Tiefe des Bildraums. Weitere lateinische Versalinschriften mit biblischen Zweitnamen in Gold schweben jeweils über den Dargestellten. Selbst wenn man heute noch nicht wüsste, dass die Tafeln von Strigel stammen – die Modellierung der Gesichter aus nuancierten Abstufungen des Inkarnats, ohne scharfe Linien oder Schattierungen, ist charakteristisch für den Memminger Maler. Und das, obwohl die Gesichter stark berieben sind und der Erhaltungszustand nicht perfekt ist. Die Zuschreibung an Strigel aber gelang schon im Jahr 1880, in dem Wilhelm Bode, damals noch Assistent in der Skulpturensammlung der König­lichen Museen zu Berlin eine folgenreiche Entdeckung machte.

Wohin das Bild nach dem Tod Cuspinians 1529 geriet, ist nur zum Teil bekannt. Nachgewiesen besaß König Charles I. von England (1600–1649) in den 1640er-Jahren den Strigel nebst anderen hervorragenden deutschen Gemälden wie Lucas Cranachs Bildnissen des Johannes Cuspinian und dessen erster Frau Anna Putsch (1485–1513) aus dem Jahr 1502 (heute Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“, Winterthur). Dass die drei Cuspinian-Porträts sich ehemals in der Sammlung des englischen Königs befanden, wird kein Zufall sein, sondern ist eher Indiz für eine gezielte Sammeltätigkeit nordalpiner Maler und von Humanistenbildnissen. Bis heute prangt der Brandstempel mit den bekrönten Lettern CR für Carolus Rex auf der Rückseite, seit das Gemälde um 1639 durch den Diplomaten Robert Anstruther dem englischen König übergeben wurde. Im 19. Jahrhundert gelangte es dann in die Berliner Gemäldegalerie, wo Wilhelm Bode es unter den schon zum Verkauf bestimmten Bildern aus der Sammlung Eduard Solly aufstöberte. Bode bemerkte 1880 als erster, dass eine seiner Meinung nach „weitschweifige“ Inschrift die gesamte Rückseite des Bildes füllt, nachdem er die dicke Schmutzschicht vom Restaurator hatte abwaschen lassen. Zum Vorschein kam unter anderem der – möglicherweise von Cuspinian selbst – latinisierte Name des Künstlers, „Strigil“. Zuvor trug der Autor des Gemäldes den Notnamen „Meister der Hirscher-Tafeln“. Cuspinian hatte bereits seinen eigenen Familiennamen Spießhaymer (nach dem unweit seines Geburtsortes Schweinfurt gelegenen Spiesheim) umgewandelt: von „cuspis“, lateinisch Spieß. Die Identifizierung Strigels war wichtig, denn das „Bildnis Kaiser Maximilians und seiner Familie“ in Wien (s. Abb. S. 67), das Vorbild des Memminger Cuspinian-Porträts, wurde zu Bodes Zeit noch Grünewald zugeschrieben. Mit dem Familienporträt kehrt folglich der Grundstein der Strigel-Forschung an den Ort seiner Entstehung zurück. Bode gelangen Fund und Zuschreibung wohl auch deshalb, weil er als ausgebildeter Jurist an komplexen lateinischen Inschriften vor allem der Renaissance interessiert war. Eine wie die herausfordernde Strigelsche, die mit sieben Zeilen in römischer Antiqua beginnt, in der Mitte der Tafel mit fünf Zeilen in einer abgewandelten geschwungenen Kanzleischrift fortfährt, um unten in weiteren fünf Zeilen Antiqua zu enden, eine solche Inschrift mit Stichworten wie „Apelles“, „Alexander“, „manu sinistra per specula ferme sexagenarius Viennae pingebat“, also „mit der linken Hand und sechzigjährig mit Brille in Wien gemalt“, muss ihn ad hoc in den Bann geschlagen haben. Die lateinische Beschriftung der 71 Zentimeter hohen Tafel dürfte Strigel nicht schwergefallen sein: Gleich die erste erhaltene urkundliche Nennung des Malers aus dem Jahr 1506 gilt einem Auftrag für die Beschriftung des Chorgestühls der Schnitzer Hans Daprazhaus und Heinrich Stark in St. Martin in Memmingen, wofür Strigel ein „trinkgelt von der geschrift in dem gestiell“ erhielt. Sein Faible für ausgiebigen Schrifteinsatz hat ihn lebenslang begleitet. Es wird in seinen späteren Jahren in lutherisch wortgläubigeren Zeiten, in denen er sich im Auftrag der Stadt Memmingen wiederholt mit Predigern des neuen Glaubens beschäftigen musste, eher noch zugenommen haben.

Wo immer sich Kaiser Maximilian aufhielt, war meist auch Cuspinian; der im Auftrag seiner Heimatstadt Memmingen diplomatisch tätige Strigel – durch seine Missionen mit dem Hofstaat bekannt – wollte dem nach Konrad Celtis (1459–1508) zweitwichtigsten Humanisten des Habsburgers offenbar an gelehrten Anspielungen in nichts nachstehen. Als Hofkünstler, der als einziger den Kaiser wiederholt porträtiert hatte, vergleicht er sich stolz mit Apelles als legendärem Hofkünstler Alexanders des Großen. Strigel betont sicher auf Cuspinians ausdrücklichen Wunsch, dass dieser im fränkischen Schweinfurt geboren sei, von wo auch Konrad Celtis als dessen engster Freund stammt, und bezeichnet ihn explizit als Ostfranken („Franc[on]us“), ein Verweis auf die von Celtis propagierte uralt-mythische Abstammung der Franken von griechischen Druiden.

Gegen die geschlossene Pyramide, welche die Männer dieser Familie bilden, scheint die Frau keine Chance zu haben. Mit verschränkten Armen steht sie buchstäblich am Rande, während ihr der älteste Sohn Sebastian Felix offenbar die kalte Schulter zeigt. Und doch wäre Strigel nicht der anspielungsreiche Künstler, der sich mit solchen Mitteln große Popularität ermalte, hätte er nicht auch hier ein Detail eingebracht, dass die randständige Lage Agnes Stainers im Bild etwas mildert: Der gut sichtbare Ring an der rechten Hand weist sie als Ehefrau aus. Es ist kein Zufall, dass Strigel die Gestik aller Dargestellten stark betont; das noch zu Lebzeiten nach den Vorgaben Cuspinians in Renaissanceformen errichtete Epitaph von 1529 für den Wiener Stephansdom scheint sich auf Strigels Gemälde zu beziehen. Cuspinian trägt im Epitaph dasselbe Barrett und den Pelzkragen, vor allem aber sind seine Hände auffällig überkreuzt. Die Finger der rechten Hand greifen in eines von vier auf einer Brüstung liegenden Büchern; für die Gattin Agnes hingegen hat der Bildhauer die übereinandergelegten Hände des Strigelschen Familienporträts übernommen. Es handelt sich demnach anders als in Cranachs zwei Einzelporträts der Cuspinians, die dessen Forschungen zu Symbolen und Allegorien aufgreifen und spiegeln, bei Strigels Bild überwiegend um eine Sprache der Gesten. Cuspinian wird als begnadeter Poet und Orator, als Verfasser etlicher Bücher zur antiken Rhetorik und diplomatischer Einfädler der habsburgischen Doppelhochzeit gefeiert. Seit dem Jahr 1500 war Cuspinian Rektor der Wiener Universität, 1508 wurde er Nachfolger seines verstorbenen Freundes Celtis, des vom Kaiser lorbeergekrönten „poeta laureatus“, als Professor für Poetik und Rhetorik. Nicht zuletzt zeigt dies der erhobene Zeigefinger der drei lateinischen Imperative auf der Tafel über den beiden Söhnen, die dieses „Testament“ offensichtlich fortsetzen sollen.

Allerdings war die Grundkomposition vorgegeben, und Strigel blieb Spielraum nur im Detail, da Cuspinian ein Bild bestellte, das sich eng an dem zuvor entstandenen Familienbildnis Maximilians orientiert. Es zeigt ihn mit seinem früh verstorbenen Sohn Philipp I., „dem Schönen“ (1478–1506), dessen Söhnen, den späteren Kaisern Karl V. (1500–1558) und Ferdinand I. (1503–1564), dem 1515 angeheirateten Enkel Ludwig II. sowie seiner zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon verstorbenen ersten Frau, Maria von Burgund (1457–1482). Hier steht der Kaiser ebenfalls am linken Rand, Sohn und Enkel mit markantem Habsburgerkinn sind neben ihm aufgereiht. Alle Dargestellten sind über die sich jeweils berührenden Hände verbunden, nur die Verstorbenen erscheinen distanziert und wenden ihre Blicke ab. Auch auf dem kaiserlichen Familienporträt sind die Personen wie auf dem Bildnis der Cuspinians nicht mit ihren realen Namen, sondern lateinisch mit biblischen Namen der sogenannten Heiligen Sippe bezeichnet: Maximilian ist Cleophas, der „leibliche Bruder Josephs, Ehemann der göttlichen Maria“, wie die Inschrift besagt. Philipp wird als „Jacobus Minor“, Jakobus der Jüngere benannt und Maria als „Maria Cleophas Soror Vir[gine]“, die Schwester oder Schwägerin Mariens. Sie gilt als Mutter von „Jakobus dem Kleinen“, der häufig mit dem gleichnamigen Apostel gleichgesetzt wurde. Strigel war also gehalten, den Kaiser als Schwager der Muttergottes zu einem wichtigen Teil der erweiterten Heiligen Familie Jesu zu machen, nicht aber zu übertreiben. Zwar ist Maria Cleophas eine der drei Marien unterm Kreuz, Maximilian maßt sich aber nicht die Position des Joseph als Zieh­vater Jesu an. Auf dem 1520 gewissermaßen „nachbestellten“ Familienbildnis der Cuspinians lässt sich dieser von Strigel auf dem Bild inschriftlich als „Zebedeus“ bezeichnen. Der Name Johannes Zebedäus, in Anlehnung an Lukas 9,54 wegen seines Furors oft „Sohn des Donners“ genannt und heutzutage als Beiname kaum mehr vertraut, ist aber nicht weniger als der Familienname des Apostels Johannes, des Lieblingsjüngers Jesu, als der er sich nicht ohne Dünkel im nach ihm benannten Evangelium selbst bezeichnet. Um 1500 jedoch ist Johannes neben Petrus der unbestritten wichtigste unter den Zwölfen: als Dritter berufen, mit vierundzwanzig Jahren jüngster der Apostel, nach Christi Kreuzigungstod für dessen Mutter Maria Sorgender. Er ist als mutmaßlich Gelehrtester unter den Jüngern zugleich Verfasser eines der vier kanonischen Evangelien; in Cuspinians Zeit – vor der biblischen Textkritik – wird ihm zudem die apokalyptische Johannes­offenbarung zugeschrieben, was zu seinem Namen „Donnersohn“ zu passen schien. Dieser bedeutende Mann soll als Bischof von Ephesos im gesegneten Alter von hundertundeinem Jahr sanft entschlafen sein. Warum aber lässt sich Cuspinian als Vater dieses nicht uneitlen Lieblingsjüngers Jesu bezeichnen, seine Söhne als Johannes und Jakobus? Es handelt sich um eine sogenannte Verähnlichung. Das ikonographische Vorbild sind die um 1520 äußerst beliebten und auf einer Tafel zusammengestellten Bilder der Heiligen Sippe, der vielköpfigen Familie Jesu. Nicht nur hatte Jesus der Bibel zufolge fünf Geschwister; vielmehr sind auch deren Frauen wie Salome und ihre Kinder auf diesen volkreichen Gemälden anwesend. Johannes ist ebenfalls der jüngere Bruder Jakobus des Älteren, weshalb in Abgrenzung zu diesem der fast gleichgroße Sohn Cuspinians von Strigel im Gemälde als „Iacobus Minor“ benannt wird. Strigel selbst hatte auf die Rückseite des Wiener Familienbildes die „echte“, vielköpfige Heilige Sippe gemalt. Wie aber war der Kaiser – denn dieser muss seinen Segen für diese Verähnlichung mit der Heiligen Familie auf dem Ursprungsporträt gegeben haben – von einer derart gewagten Genealogie zu überzeugen? Maximilian war nicht nur der letzte Ritter mit seiner Innsbrucker Grabanlage von Bronzefiguren in Rüstungen als genealogischem Großprojekt; er befasste sich auch zeitlebens fast manisch mit Stammbäumen, Wappenkunde und Historie. Strigels Gruppenbild mit seiner demonstrativen Genealogie männlicher Nachkommenschaft ist dafür ebenso ein Beispiel wie seine anderen monumentalen Auftragswerke, wie das vor Wappen überbordende, für ihn von den renommiertesten Künstlern seiner Zeit illuminierte Gebetbuch, der Versroman „Theuerdank“ (1517), der (unvollendete) „Weißkunig“ oder die jüngst in der Gruft seines Vaters, Friedrich III., im Wiener Stephansdom lokalisierten Inschriften. Während sich der italienische Adel eher bis zu den römischen Geschlechtern zurückverfolgte, war es für die eigentümliche Mischung des Humanismus von Celtis und Cuspinian am Wiener Hof charakteristisch, sich in eine christliche Genealogie einzureihen. Maximilian wird somit ehrerbietig über seinen Vertrauten Cuspinian vom Hofmaler Strigel in engster Nachfolge Christi verewigt. Diese künstlerische Einbettung in die weit verzweigte christliche „Urfamilie“ in den beiden Familienporträts konnte so für immer an die von Cuspinian arrangierte österreichisch-ungarische Doppelhochzeit von 1515 erinnern – den Höhepunkt eines ungewöhnlich bewegten Lebens, das Strigel in ebenso ungewöhnlicher Form festhielt.