Rom, Blicke

Das weite Rom (breitet sich) in der reichen Ebene nach und nach auf seinen sieben Hügeln mit seinen unzähligen Schätzen unter dem Staunenden aus“, schrieb der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel 1803. „Mein Fenster beherrscht von der Höhe des Monte Pincio den westlichen Theil der Stadt. Viell tausend Palläste, von Kuppeln und Thürmen überstigen [sic], breiten sich unter mir aus, die Ferne schließt St. Peter und der Vatican, in flacher Linie zieht sich hinter ihm der Mons janiculus, vom Pinienhain der Villa Pamphili gekrönt.“

Diese Beschreibung und Schinkels Zeichnung, die den Blick aus dem Fenster seiner Wohnung oberhalb der Spanischen Treppe neben der Kirche Santa Trinità dei Monti auf Rom wiedergibt, trifft auch auf ein bislang unbekanntes Rom-Panorama des englischen Zeichners Samuel Bellin (1799–1893) von 1832 zu, das die Casa di Goethe in Rom – das einzige deutsche Museum im Ausland – kürzlich zusammen mit weiteren Rom-Ansichten ankaufen konnte. Bellin zeichnete ein weit umfassenderes Panorama der Stadt, das rechts bei der Kirche Santa Trinità dei Monti beginnt und bis zur Villa Malta und den ersten Häusern der Via Sistina am linken Blattrand reicht und damit wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Es handelt sich also um eine Rundumschau, die eventuell für ein großes Panorama gedacht war und offenbar auch als Stich erschienen ist, der aber kaum bekannt ist.

Samuel Bellin, Rompanorama, 1832, 35×230 cm; Rom, Casa di Goethe (Abb. 1)
Samuel Bellin, Rompanorama, 1832, 35×230 cm; Rom, Casa di Goethe

Die Vorzeichnung in Graphit ist von größter Präzision im Detail und entspricht exakt der damaligen Bausituation. Bellins Standpunkt ist eindeutig zu identifizieren: Er hat seine aus fünf Blättern zusammengeklebte Ansicht vom an der Piazza Trinità dei Monti zwischen der Via Gregoriana und der Via Sistina liegenden Palazzo Zuccari aus aufgenommen, wie ein Abgleich mit der heutigen Situation belegt. Die Fassade dieses Palastes mit seinem eleganten Portikus und dem darüberliegenden Balkon ist auf Schinkels Zeichnung am linken Bildrand zu sehen. Bellin hat seine Blätter aus wechselnden Blickwinkeln von einer kleinen Dachterrasse des Palastes und den Fenstern des obersten Stockwerks gezeichnet; angesichts der Kleinteiligkeit der römischen Dachlandschaft, die sich unter ihm ausbreitete, eine wochenlange Arbeit. Wahrscheinlich hat er sich dabei einer „camera obscura“ als Hilfsmittel bedient.

Bereits 1810 hatte der französische Künstler Noël-François Bertrand (1784–1852) von einem der Kirchtürme von Trinità dei Monti den Blick nach Süden gezeichnet, die Via Sistina hinunter bis zur Basilika Santa Maria und zum Quirinalspalast, der damaligen päpstlichen Residenz. Eine ungewöhnliche Darstellung, die vor allem die dominierende Masse des Palastes mit den zu beiden Seiten sich anschließenden langen Flügeln für die Unterbringung der Beamten und Bediensteten des päpstlichen Hofes deutlich macht. Der langgestreckte Bau, der sich hinter den Gärten des Palastes auf der linken Seite in Richtung des Palazzo Barberini erstreckt, wurde und wird noch heute die „manica lunga“, der lange Ärmel, genannt. Diese Momentaufnahme hält einen baulichen Zustand fest, der sich nach 1870 rasant verändert hat, und stellt daher ein unschätzbares Dokument dar.

Weniger stark gewandelt hat sich die Situation, die der französische Zeichner Eugène-Louis Lequesne 1846 in einer graphisch sehr qualitätvollen Vedute festgehalten hat: der Blick von der Villa Medici auf die Gärten von Kloster und Kirche Trinità dei Monti mit dem Turm der Villa Malta links samt einem Panorama Roms auf der rechten Seite. Diese Zeichnung ergibt mit den beiden anderen Blättern ein in sich stimmiges und sich ergänzendes Ensemble von Darstellungen des frühen 19. Jahrhunderts, das seinesgleichen sucht. Auch hier wirkt die Stadt wie ein wogendes Häusermeer, aus dem sich Kirchenschiffe und Kuppeln, Türme und Palastkomplexe erheben; dahinter öffnet sich die weite Ebene zwischen Meer und Bergen, in der Rom, von seinen Hügeln umkränzt, liegt. Keine europäische Stadt der Zeit konnte innerhalb ihrer Stadtmauern so großräumige Gartenbezirke aufweisen. Aber die Stadtmauern stammten aus der Antike und waren für eine wesentlich größere Stadt bestimmt gewesen.

Rom ist die am besten dokumentierte Stadt Europas: Zeichnungen, Stiche, Gemälde und Stadtpläne der Ewigen Stadt von der antiken Forma Urbis bis in die Neuzeit haben eine Dichte der Überlieferung ihrer Stadtgestalt geschaffen, die einmalig ist. Panorama-Darstellungen sind allerdings seltener zu finden; sie wurden generell vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa Mode, verlangten aber einen hohen Arbeits­einsatz. Der von Ludwig I. von Bayern 1829 mit ­teinem römischen Panorama beauftragte Maler Johann Christian Reinhart beklagte sich bitter über die Aufgabe, die ihn fast sechs Jahre beschäftigen sollte. Eine der bekanntesten Ansichten dürfte das 1765 in zwölf Tafeln publizierte große Rom-Panorama von Giuseppe Vasi sein: ein Kupferstich, der die Stadt vom Gianicolo aus darstellt. Da dieser Hügel auf der anderen Tiberseite liegt, sind nur die unmittelbar diesseits und jenseits der Ufer liegenden Gebäude detailliert zu erkennen.

Das bereits erwähnte Rom-Panorama von Johann Christian Reinhart, das den Blick vom Turm der Villa Malta in alle Himmelsrichtungen in vier Gemälden festhält, kann das Stadtgefüge viel schärfer im Detail erfassen, da die Villa Malta unmittelbar am Rande der Innenstadt lag. Reinharts Ansicht nach Westen zeigt übrigens in der Mitte den Palazzo Zuccari. Die Dachterrasse und die rückwärtigen Fenster, die Bellins Arbeitsplatz waren, sind gut zu erkennen. Bellins Panorama ist das bisher einzige, das die Stadt aus so unmittelbarer Nähe zeigt, wie der Vergleich mit nur wenig später entstandenen Fotografien belegt.

Der Pincio, einer der sieben Hügel Roms, eignete sich besonders für Panoramablicke auf Rom. Direkt an der Porta del Popolo steil aufragend, fällt er ab Trinità dei Monti zur Piazza Barberini hin ab. Der Hügel diente schon in der Antike auf Grund seiner Stadtnähe und luftigen Lage als privilegierter Ort für die Villen reicher Römer. Daher erbaute sich hier um 60 v. Chr. der Feldherr und Feinschmecker Lukull, der von seinen siegreichen Feldzügen in Kleinasien reiche Mittel mitbrachte, eine prachtvolle Villa mit weiträumigen Terrassenanlagen und einer viel gerühmten Bibliothek. Der Bau der Aurelianischen Stadtmauer (ab 271 n. Chr.) umfasste auch diese Gärten, die in den folgenden Jahrhunderten aber verfielen und weit außerhalb des bewohnten Stadtzentrums lagen. Erst als die Päpste im Laufe des 15. Jahrhunderts ihre Herrschaft in Rom festigen konnten, wurden auch der Pincio und der in der Nähe liegende Quirinalshügel wieder bebaut und zum beliebten Aufenthaltsort während des Sommers.

Die urbanistische Erschließung des Quartiers begann unter Papst Gregor XIII. (1572–1585) mit der Anlage der Via Gregoriana, die in Richtung des Stadtzentrums führte. Sein Nachfolger Sixtus V. (1585–1590) ließ die Via Sistina als Verbindung zwischen dem Pincio und der Basilika Santa Maria Maggiore ausführen und versprach denjenigen, die in diesem Stadtrandgebiet Neubauten errichten wollten, große Steuernachlässe. Der damals in ganz Europa bekannte Maler Federico Zuccari (1542–1609) nutzte im April 1590 diese Chance, um sich an der Piazza Trinità dei Monti zwischen den beiden neuen Straßenzügen ein herrschaftliches Palais zu erbauen. Zuccari hatte große Aufträge in Venedig und Florenz und am englischen und spanischen Hof ausgeführt; 1588 war er als spanischer Hofmaler nach Rom zurückgekehrt. Die Stadt Rom verlieh ihm 1591 den Rang eines Patriziers. Diesen gesellschaftlichen Aufstieg wollte Zuccari nun auch in einem angemessenen Wohnsitz ausdrücken, einem dreistöckigen Bau mit vorgestelltem zweistöckigen Ateliertrakt und weitem Blick über das römische Stadtpanorama. Der Palast war bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das größte und höchste Bauwerk auf der Höhe der Trinità dei Monti, und es bot sich damals von seinen Fenstern ein umfassender und gesuchter Blick auf Rom, der heute leider nicht mehr ganz so umfassend ist. Bellin dokumentierte Rom in der letzten Phase der päpstlichen Herrschaft, bevor die urbanistischen Eingriffe in das Stadtgefüge nach dem Ende des Kirchenstaates ab 1870 begannen. Es ist immer noch Goethes Rom, das wir auf allen Blättern sehen. Die Zone am und zu Füßen des Pincio war sehr international geprägt. In der Nähe des wichtigsten Stadttores, der Porta del Popolo gelegen, befanden sich viele Hotels, und das Quartier um die Spanische Treppe war von zahllosen ausländischen Künstlern bevölkert. 1803 hatte Napoleon die Villa Medici als Sitz der französischen Akademie in Rom gekauft; auch das Kloster Trinità dei Monti unterstand der französischen Krone. Noël-François Bertrand und Eugène-Louis Lequesne haben sozusagen von „heimischem Territorium“ aus ihre Veduten gezeichnet. Unterhalb des Hügels lag die Spanische Botschaft, die der berühmten Treppe ihren Namen gegeben hatte. Im von Piranesi dekorierten Caffè degli Inglesi an der Piazza di Spagna trafen sich die englischen Künstler, im Cafè Greco an der Via Condotti ihre deutschen und spanischen Kollegen.

Überhaupt weist der Pincio eine Reihe von Bezügen zur deutschen Kolonie in Rom auf. Die Villa Malta, römischer Wohnsitz König Ludwigs von Bayern, der sie auch Künstlern zur Verfügung stellte, ist bestens bekannt. In der Via Sistina – das Haus ist am linken Bildrand auf Bellins Zeichnung zu sehen – wohnte die berühmte Malerin Angelika Kauffmann. Die Casa Buti in derselben Straße war als deutsche Künstlerherberge bekannt, ebenso der Palazzo Tomati in der Via Gregoriana. Auch im Palazzo Zuccari fand im Laufe der Zeit eine internationale Schar von Diplomaten, Gelehrten und vor allem Künstlern Quartier. Am Anfang des 18. Jahrhunderts residierte hier die Witwe König Johann Sobieskis von Polen, Maria Casimira, der wir den eleganten Portikus verdanken. Der epochemachende Begründer der modernen Archäologie, Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), hat ebenfalls nach seiner Ankunft in Rom 1755 einige Zeit im Palazzo Zuccari gewohnt und dort seine berühmte Beschreibung des „Apoll von Belvedere“ verfasst. 1767 mietete der kaiserlich russische und herzoglich gothaische Kunstagent Johann Friedrich Reiffenstein (1719–1793) das Erdgeschoss des Palastes. Als erfolgreicher Antiquar war er vor allem für die Kunstankäufe der Zarin Katharina II. von Russland tätig und diente prominenten deutschen Reisenden wie der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar als Kunstführer durch die Ewige Stadt. Goethe ging während seines Romaufenthaltes bei ihm ein und aus, ebenso Lessing und Herder. Dabei konnte ­Goethe erleben, wie die Fundamente für die Errichtung des Obelisken vor der Kirche Trinità dei Monti ausgehoben wurden. Die Hofdame der Herzogin, Luise von Göchhausen, hat 1788 das Leben dieser Kolonie amüsant beschrieben: „Gewöhnlich kommt er (Reiffenstein) Vormittags und bleibt bis Abends beinahe 10 Uhr, da geht’s dann überall in ganz Rom herum, bis Mittags wo die Minestra sehr gut schmeckt, und Abends versammeln wir uns um einen großen runden Tisch, wobei gezeichnet und geschwätzt wird.“

Auch die deutschen Landschaftsmaler Christian Reinhardt (1774–1803) und Joseph Anton Koch (1768–1839) sowie der Kunstkritiker Carl Ludwig Fernow (1763–1808) logierten im Palazzo Zuccari. 1815 mietete der preußische Generalkonsul für Italien, Jakob Salomon Bartholdy (1779–1825), der Onkel des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, sich im Palazzo Zuccari ein. Im dritten Stock übertrug er die Freskierung eines Raumes mit der Josephslegende in Rom ansässigen deutschen Malern, den sogenannten Nazarenern: Friedrich Overbeck, Peter Cornelius, Wilhelm von Schadow, Philipp Veit und Franz Ludwig Catel. 1888 wurden diese Fresken abgenommen und an die Nationalgalerie in Berlin verkauft, wo sie heute in einem eigenen Raum ausgestellt sind. Bellin dürfte auch am Fenster dieses Raumes gestanden haben, um zu zeichnen. Auch die kleine, um 1820 entstandene Skizze von Philipp Gerhard Stöhr (1793–1856), die das an der Ecke Via Gregoriana – Piazza Trinità dei Monti liegende niedrige Eckhaus mit einem deutlich sichtbaren Rest antiken Mauerwerks in der Fassade darstellt, ist aus einem Fenster im ersten Stock des Palazzo Zuccari aufgenommen worden. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass im Palazzo Zuccari zeitweise auch italienische Künstler logierten, darunter der bekannte römische Bildhauer Pietro Bracci (1700–1776) sowie eine große Zahl englischer und französischer Maler wie Joshua Reynolds (1723–1792) oder Jacques-Louis David (1748–1825), der hier wohnte, während er sein revolutionäres Gemälde „Schwur der Horatier“ (1784) malte. Vielleicht lebte auch Bellin eine Zeitlang im Palazzo Zuccari.

„Anderer Orten muß man das Bedeutende aufsuchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt. Wie man geht und steht zeigt sich ein landschaftliches Bild aller Art und Weise, Paläste und Ruinen, Gärten und Wildnis, Fernen und Engen, Häuschen, Ställe, Triumphbögen und Säulen, oft alles zusammen so nah, daß es auf ein Blatt gebracht werden könnte“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe am 7. November 1786, wenige Tage nach seiner Ankunft. Das Panorama Roms überwältigt noch immer. Die Kuppeln der Kirchen erheben sich unverändert über den Häusern; fast alle Paläste stehen noch. Die Silhouette der Kuppel von St. Peter dominiert weiter die Stadt. Nur die Häuser sind größer geworden oder in die Höhe gewachsen, und selbst von der Dachterrasse des Palazzo ­Zuccari, heute Sitz der Bibliotheca Hertziana (Max Planck ­Institut für Kunstgeschichte), ist der Blick, den Bellin und seine Kollegen uns überliefert haben, nicht mehr vollständig rekonstruierbar. Die Engelsburg wird heute durch den riesigen Justizpalast verdeckt. Das Mausoleum des Augustus, das auf Bellins Zeichnung rechts als Amphitheater sichtbar wird und damals als Arena diente, liegt nach der Freilegung der antiken Reste zu niedrig, um wahrgenommen zu werden. Die Hügel in der Ferne sind heute zum Teil bebaut, aber der Blick ist immer noch bezwingend.

In der Casa di Goethe haben die vier Blicke auf Rom vom Anfang des 19. Jahrhunderts nun einen ihnen entsprechenden Platz gefunden und laden zum Spazierengehen ein. „Ich tue nur die Augen auf“, schrieb Goethe aus seinem Sehnsuchtsort, „und seh‘ und geh‘ und komme wieder.“