Rex Libris
Gleim war anspruchsvoll. Nachdem er sich ein gutes Dutzend Mal hatte porträtieren lassen, musste er feststellen, dass noch kein Bild von ihm gemalt worden sei, bei dem man sagen könne: „Er ist’s!“ Sein Kopf, bemerkte er lakonisch, sei wohl zu „dumm“, dabei zweifellos luzide zwischen Form und Inhalt unterscheidend. Denn selbst unter den vielen bibliophilen Gelehrten des an solchen nicht armen 18. Jahrhunderts nahm er eine Sonderstellung ein: der Halberstädter Dichter und Dichterfreund Johann Wilhelm Ludwig Gleim.
Etliche Werke hat er selbst veröffentlicht, doch mehr als 10.000 gedruckte Exemplare zählte bei seinem Tod 1803 sein von ihm selbst angelegentlich als „öffentliche Bibliothek“ bezeichnetes Archiv. Damit übertraf er an schierer Masse nicht nur seine Zeitgenossen Wieland und Lessing; damit hatte er eine der umfangreichsten Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts geschaffen und eine einmalige Sammlung vor allem zeitgenössischer deutscher Literatur. Ein Führer für die „vornehmsten europäischen Reisen“ vermerkte bereits 1775, ein Gelehrter könne zur Mehrung seines Wissens in Halberstadt neben den Barfüßer- und Dominikanerbibliotheken gerne auch den „Dom=Secretär“ Gleim besuchen gehen. Sein Alltag, schreibt Gleims Testamentsvollstrecker und Biograph Wilhelm Körte, sei einfach und gleichförmig gewesen, „Nachmittage und Abende gehörten gewöhnlich dem Lesen“. Doch mitnichten war Gleim ein menschenscheuer Bücherwurm. Sein Freundeskreis war illuster und seine Stube gut frequentiert; denn Gleim sammelte nicht nur Schriften: Seit 1745 trug er Porträts befreundeter und bekannter Geistesgrößen Deutschlands zusammen. Moses Mendelssohn, gemalt von Bernhard Rode, Johann Gottfried Herder, konterfeit von Anton Graff, ein Selbstporträt Johann Heinrich Tischbeins – eine visuelle Personalenzyklopädie der Aufklärung.
Nach wie vor wird sie im Sinne Gleims erweitert, und bereits 2008 hatte die Kulturstiftung der Länder bei dem Ankauf eines Porträts des Pascha Johann Friedrich Weitsch von seinem Sohn Friedrich Georg hilfreich zur Seite gestanden. Der ursprüngliche Freundschaftstempel aus 120 Bildern wurde bereits 1862, gemeinsam mit der Bibliothek und der Handschriftensammlung, Gegenstand des in Gleims Wohnhaus eingerichteten Museums. Waren auch 1804 einige Exemplare versteigert worden, so verblieb doch der bedeutendere Sammlungsteil in Halberstadt, wurde sukzessive erweitert, und, wie von Gleim testamentarisch verfügt, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – bis 1944 Schaden drohte und man Teile der Bibliothek in die Schachtanlage Plömnitz der Solvay-Werke bei Bernburg in Sachsen-Anhalt auslagerte. Nach Kriegsende beschlagnahmt und als „Beutebücher“ in die ehemalige Sowjetunion verbracht, führte 1997 die Bibliothek der Wissenschaften in Georgiens Hauptstadt Tiflis 700 der etwa 1.500 fehlenden Exemplare nach Halberstadt zurück – leider oftmals in bedauernswertem Zustand. Pünktlich zum 150-jährigen Bestehen des Gleimhauses 2012 unterstützte der Freundeskreis der Kulturstiftung der Länder nun die Wiedernutzbarmachung von 34 stark restaurierungsbedürftigen Büchern, darunter „Eine Nachricht von der mit dem Anfange des 1776 Jahres eröffneten Frauenzimmerschule in Halberstadt“, Mendelssohns „Abhandlung von der Unkörperlichkeit der menschlichen Seele“ oder ein „Altes und Neues Gesang=Buch Worinnen Geistreiche Neue Gesaenge Mit Fleiss und guter Ordnung zusammen getragen“ von 1699.
Gereinigt, mit reduzierten Deformierungen und teilweise neu gebunden, können sie ihren Platz in der Gleimbibliothek wieder einnehmen. In manchen Werken sind noch handschriftliche Notizen des Dichters erhalten, auf andere nimmt er in seiner Korrespondenz Bezug. Diese Bücher sind Quellen der Geistesgeschichte der Aufklärung, sie legen Zeugnis von Gleims breitgefächertem Wissensspektrum und Sammlungsinteresse ab und von seiner Leidenschaft, beides auch zu teilen. Gleim umgab sich mit Büchern und mit Freunden, und seine Bücher waren seine Freunde – er weihte eines dem anderen. „Gleimii et amicorum“, für Gleim und seine Freunde, ließ sein Exlibris wissen. Sein Zeitgenosse Jean Paul schrieb später in anderem Zusammenhang, Bücher seien nur dickere Briefe an Freunde. Ob er dabei an Gleim dachte?