Perspektive für Papier
Mars stürzt mit blankem Schwert aus dem geöffneten römischen Janustempel, die Personifikation des leidenden Europas reckt entsetzt die Arme in den Himmel, wo sich bereits dunkle Kriegswolken zusammenbrauen. Die nackte Venus versucht den Kriegsgott aufzuhalten und schmiegt sich an seine harte Eisenrüstung – vergebens: Nur der rote Mantel des Kriegers bleibt etwas zurück und verdeckt ihre Blöße. Die braun-grünliche Furie Alekto mit der Brandfackel des Krieges in der Hand hingegen zieht Mars voran, über die Menschen hinweg, welche die „Kollateralschäden“ erleiden werden, und er zertrampelt die Attribute von Handel, Harmonie, Liebe, Kunst und Wissenschaft. Peter Paul Rubens – nicht nur Maler, sondern auch spanisch-habsburgischer Diplomat – kannte die dargestellten „Folgen des Krieges“: Geboren 1577 in Siegen, gestorben 1640 in Antwerpen, waren seine letzten Lebensjahrzehnte vom Grauen des Dreißigjährigen Krieges (1618 –1648) überschattet. Rubens wusste, wie Menschen und Kunst unter den Kriegen leiden. Vorwärtsstürmend zertritt Mars eine Zeichnung der drei Grazien und einen kostbaren Codex. In seiner Allegorie hat Rubens die Bedrohung des fragilsten Kulturträgers überhaupt geschildert: Papier.
Schriftliches Kulturgut wird aber nicht nur mutwillig zerstört, insbesondere Papier ist wegen seiner Säureanteile auch durch einen schleichenden Zerfall gefährdet. Und die Überlieferung unserer Hochkultur löst sich gegenwärtig geradezu auf. Neben den Bedrohungen durch Kriege – noch heute warten kriegsbeschädigte Bestände in Deutschland auf ihre Restaurierung – und Katastrophen – das Elbhochwasser, der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek oder der Einsturz des Kölner Historischen Archivs – ist die „schleichende Bedrohung“ durch Papierzerfall und Tintenfraß vor allem ein Mengenproblem: Allein in den deutschen Bibliotheken dürften 80 Millionen Bände von Säurefraß betroffen sein.
Auf Initiative von Kulturstaatsminister Bernd Neumann reagiert seit 2011 die „Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts“ (KEK) auf diese stetig wachsende Bedrohung unseres schriftlichen Kulturerbes. Finanziert wird sie durch den Bund und die Kulturstiftung der Länder. Sie soll Erkenntnisse zur Sicherung von schriftlichem Kulturgut sammeln und auswerten, Netzwerke der bewahrenden Institutionen initiieren, die Öffentlichkeit für die Gefährdung des schriftlichen Kulturerbes sensibilisieren und schließlich präventiv ausgerichtete „bundesweite Empfehlungen“ erarbeiten. Die KEK soll Abstimmungsprozesse zwischen Bibliotheken und Archiven organisieren und ein arbeitsteiliges Vorgehen bei den Erhaltungsmaßnahmen koordinieren sowie Prioritäten der Restaurierungen ermitteln.
Doch den in Deutschland angelaufenen Restaurierungsstau und die dringend nötigen Erhaltungsmaßnahmen kann die Koordinierungsstelle nicht stemmen: Grobe Schätzungen errechnen Gesamtkosten in Milliardenhöhe. Eine wahrhaft nationale Herkulesaufgabe! Insgesamt stehen der KEK derzeit jährlich 600.000 Euro zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung. Aus diesen Mitteln fördert die KEK auch einzelne Modellprojekte mit Vorbildcharakter. Archive, Bibliotheken und Museen haben diese Chance genutzt und unter unterschiedlichen Themenschwerpunkten Projekte eingereicht: „Feuer und Wasser“ und „Schutz im Verbund“ führten zur Restaurierung unterschiedlichster Schadensbilder, zur Vernetzung von Einrichtungen und zu einer vermehrten Information der Öffentlichkeit über das gefährdete schriftliche Kulturerbe. Das geheimnisvolle Zauberbuch aus der Faustsammlung des Frankfurter Goethe-Hauses wurde ebenso restauriert wie zahlreiche gefährdete Aufzeichnungen des ehrenamtlich geführten Tagebucharchivs Emmendingen. Die KEK ermöglichte eine Massenentsäuerung dieser persönlichen Quellen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert. Spätmittelalterliche Handschriften des Frauenstifts Gandersheim, Architekturzeichnungen Balthasar Neumanns, Musikhandschriften des Gothaer Hoftheaters, Pläne des Einsteinhauses in Caputh, die Sektionsprotokolle Rudolf Virchows oder das Adressbuch der Dadaistin Hannah Höch konnten gesichert werden. Die Restaurierung von Großformaten soll in diesem Jahr in Angriff genommen werden. Der Öffentlichkeit werden so die fragilen Schätze teilweise erstmals bewusst und sie nimmt Anteil an deren Bewahrung.