Es ist eine der ersten Folgen der deutschen Fernsehserie „Babylon Berlin“: Man sieht Charlotte Ritter, gespielt von Liv Lisa Fries, in einer heruntergekommenen Wohnung im Berlin der 1920er-Jahre, in der sie unter prekären und beengten Verhältnissen mit ihrer gesundheitlich sichtlich angeschlagenen Mutter, dem senilen Großvater, ihren Schwestern, ihrem Schwager und deren Kindern lebt. Die ältere Schwester macht ihr Vorwürfe, sie nachts mit den kranken Familienmitgliedern alleine gelassen zu haben. Charlotte wiederum rügt ihre jüngere Schwester dafür, wieder die Schule geschwänzt und stattdessen für 1,50 Mark in der Spinnerei gearbeitet zu haben. Doch lange bleibt Charlotte nicht zu Hause. In der nächsten Szene sieht man sie schon auf dem Weg in den schicken Nachtclub „Moka Efti“. Sie hat sich zurechtgemacht, trägt ein Kleid, hohe Schuhe. Im Club angekommen, wirkt sie ausgelassen, greift sich ein Champagnerglas, bewegt sich wie selbstverständlich im Trubel, an Frauen in Charleston-Kleidern und Männern in Smokings vorbei, beobachtet das Treiben, ehe sie zum Tanz aufgefordert wird und ebenfalls in der tanzenden Menge verschwindet.
Wie passt das zusammen – der von Frust und Tristesse bestimmte Alltag auf der einen Seite und das glitzernde Nachtleben auf der anderen Seite? Tatsächlich bringen die beiden Szenen auf den Punkt, welche Gegensätze das Leben im Europa der 1920er-Jahre auszeichneten. In Folge des Ersten Weltkriegs herrschten Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger und Inflation. Der Krieg hatte Millionen Tote gefordert, hatte Verwundete und Heimatlose hinterlassen. Der Wiederaufbau stellte viele Länder
vor große Herausforderungen. Ab 1924 konnte sich die Wirtschaft durch den sogenannten Dawes-Plan zwar vorübergehend stabilisieren, der Börsencrash 1929 führte jedoch erneut zu ökonomischen -Erschütterungen. Gleichzeitig war die Zeit geprägt von einem erstaunlichen technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt, von einem Lebensgefühl, das wir heute überwiegend mit dem Begriff der „Goldenen Zwanziger“ verbinden und das eine anhaltende Faszination auszuüben scheint – nicht ohne Grund feierte die Serie „Babylon Berlin“ große Erfolge. Ein Lebensgefühl, das für ein neues Selbstbild der Frau ebenso wie für Diversität steht, für eine neue, selbstbewusste Mode, für ausschweifende Abende in Tanzlokalen. Kulturangebote nahmen in jener Zeit deutlich zu; Kino, Theater, Musik und Sportveranstaltungen waren nicht mehr nur einer privilegierten Schicht vorbehalten, sondern erreichten mit einem Mal ein viel breiteres Publikum.
Die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, die traumatischen Erfahrungen durch den Ersten Weltkrieg, das soziale Spannungsfeld von Aussichtslosigkeit, Eskapismus und progressiver Aufbruchsstimmung: All das prägte den Blick der Künstlerinnen und Künstler der 1920er und äußerte sich bis in die 1930er-Jahre hinein in der Hinwendung zu einer sozialkritischen, wirklichkeits- und gegenstandsbetonten Kunst. In der sachlichen Darstellung der sie umgebenden Welt versuchten sie, die epochalen Veränderungen ihrer Zeit zu verstehen, zu reflektieren und in eine Bildsprache zu fassen – ohne Schnörkel, ohne zu verklären. In Deutschland war es der Direktor der Kunsthalle Mannheim, Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963), der mit seiner 1925 eröffneten – und anschließend unter anderem nach Chemnitz gewanderten – Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ das Zeitgefühl jener Künstlergeneration erstmals mit dem Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ einfing und damit schließlich eine ganze Epoche prägte – von der Malerei und der Grafik über die Architektur bis hin zur Literatur. 100 Jahre später greift das Museum Gunzenhauser in Chemnitz dieses Zeitgefühl wieder auf und widmet den Realismusbewegungen der 1920er- und 1930er-Jahre eine umfassende Ausstellung. Mit einem Fokus auf Malerei richtet die Ausstellung, die im Kontext der Stadt Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025 stattfindet, erstmals den Blick über Positionen aus Deutschland, Frankreich und Italien hinaus. Sie schließt Künstlerinnen und Künstler aus nord-, mittel-, südost-, süd- und westeuropäischen Ländern ein und zeigt, dass die Realismusbewegungen nahezu überall in Europa zu beobachten waren und welche länderübergreifenden künstlerischen Netzwerke sich dabei bildeten. Über sechs Jahre wurde die Ausstellung intensiv von der Kustodin Anja Richter vorbereitet. Begleitet wurden die Vorbereitungen von zahlreichen Gesprächen mit Expertinnen und Experten in Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie einem international besetzten Symposium, zu dem das Museum Gunzenhauser 2023 eingeladen hatte. Zudem knüpft die Ausstellung in Chemnitz an die Arbeit der Kunsthalle Mannheim an, die der Neuen Sachlichkeit und Hartlaubs Ausstellung von 1925 jüngst eine ebenfalls von der Kulturstiftung der Länder geförderte Jubiläumsausstellung gewidmet hat (siehe Arsprototo 2/2024).
Über vier Etagen präsentieren sich in Chemnitz rund 300 Werke aus insgesamt 20 Ländern, die zum einen aus der umfangreichen Sammlung Gunzenhauser stammen, zum anderen als Leihgaben aus ganz Europa wie Tschechien, Polen, Italien, der Schweiz, aus Kroatien, Dänemark, Finnland oder Schweden zur Verfügung gestellt wurden. In der Zusammenschau der vielfältigen internationalen Positionen wird deutlich, welche Themen die Kunst der 1920er-Jahre nationenübergreifend prägten: Arbeit, Großstadt, die neue Gesellschaft, die neue Frau, die Selbstdarstellung der Künstlerin bzw. des Künstlers, Sport und Körperkultur, Technik, der Krieg und seine Folgen sind Motive, die immer wiederkehren. Der Realismus der 1920er und 1930er begegnet einem dabei nicht nur unter vielen verschiedenen Namen wie Nuovo Realismo, Realismo mágico oder Neorealisme, sondern weist mindestens genauso viele verschiedene Facetten und Nuancen auf.
Beispielsweise gab es den linken Flügel der sogenannten Veristinnen und Veristen, die mit schonungsloser Nüchternheit die sozialen Missstände anprangern. Zu diesem Flügel zählten Künstler wie Otto Dix, Karl Hubbuch oder George Grosz. Auf der anderen Seite bewegte sich der rechte Flügel der Klassizistinnen und Klassizisten wie Alexander Kanoldt oder Georg Schrimpf, deren Darstellungen sich durch ein skeptisches und distanziertes Verhältnis zur modernen Welt auszeichnen. Die Vertreterinnen und Vertreter des Magischen Realismus wie Ubaldo Oppi oder Pierre Roy hingegen zeigen die Wirklichkeit aus melancholischer, geheimnisvoller Perspektive, die dargestellte Realität verschmilzt mit traumhaften Elementen. So vielfältig die Tendenzen auch sein mögen, so eint sie doch das tiefe Bedürfnis nach einer Kunst, die in Abgrenzung zum Expressionismus, Futurismus und Kubismus die Welt in ihrer Wirklichkeit abbildet und die dahinterliegenden existenziellen Verunsicherungen des 20. Jahrhunderts transportiert
Eine der großen Stärken der Ausstellung ist es, bislang nicht gewürdigte und vergessene Positionen, insbesondere von Frauen, sichtbar zu machen. Da wären die beiden tschechoslowakischen Künstlerinnen Milada Marešová (1901–1987) und Vlasta Vostřebalová (1898–1963), die als erste Frauen an der Akademie für bildende Künste in Prag zum Studium zugelassen wurden. Im Rahmen einer Exkursion nach Dresden und Berlin im Jahre 1922 bot sich ihnen die Gelegenheit, die Kunst der Neuen Sachlichkeit kennenzulernen und die Bilder ihrer deutschen Künstlerkolleginnen und -kollegen zu studieren. Das 1927 entstandene Gemälde „Wohltätigkeitsbasar“ von Marešová, das in Chemnitz zu sehen ist, steht somit nicht nur für die motivische, detailgenaue Auseinandersetzung mit der Emanzipation einer neuen Gesellschaftsschicht, mit ihrer Mode und dem Lebensgefühl, sondern ist – beeinflusst durch die Seherfahrungen, die Marešová in Deutschland machen konnte – auch eines von vielen Beispielen in der Ausstellung, das veranschaulicht, welche nationenübergreifenden Verbreitungswege die realistischen Strömungen im Europa der 1920er- und 1930er-Jahre nahmen. Aber auch zahlreiche andere Künstlerinnen werden in der Ausstellung gewürdigt, wie Lotte Laserstein, Alice Bailly, Grete Passer-Schmied-Mikeska, Lydia Mei oder Stina Forssell, um nur einige zu nennen.
In der Ausstellung „European Realities“ treffen nicht nur viele Nationen, sondern auch ebenso viele bewegende, widersprüchliche wie tragische und für das 20. Jahrhundert doch so exemplarische Biografien aufeinander. Das politische Klima des aufkommenden Nationalismus und schließlich die Machtergreifung Hitlers 1933 änderten das private wie auch das berufliche Leben zahlreicher Künstlerinnen und Künstler schlagartig. Die Künstlerin Kate Diehn-Bitt (1900-1978) beispielsweise erhielt – wie so viele ihrer Kolleginnen und Kollegen – 1935 ein Arbeits- und Ausstellungsverbot, ihre Kunst wurde als „entartet“ verfemt. Diehn-Bitt zog sich zurück und arbeitete im Verborgenen weiter. Viele flohen ins Exil, so wie der estnische Maler Eduard Ole (1898–1995), zunächst nach Finnland, dann nach Schweden, wo er zumindest später künstlerisch wieder Fuß fassen konnte. Es gibt aber auch kritisch zu beleuchtende Biografien wie die des österreichischen Künstlers Ernst Nepo (1895–1971), der 1933 der NSDAP beitrat und ab 1938 als „Landesleiter der Reichskammer der bildenden Künste im Gau Tirol-Vorarlberg“, gefördert vom Gauleiter Franz Hofer, weiterhin Karriere machen konnte. Die in der Ausstellung in Chemnitz ebenfalls vertretene ungarische Malerin Ilona Singer-Weinberger hingegen hatte sich bereits eine erfolgreiche künstlerische Karriere in Berlin und Prag aufgebaut, ehe sie 1944 als Jüdin in Auschwitz ermordet wurde.
Am 18. Januar 2025 wurde das Kulturhauptstadtjahr Chemnitz 2025 nach einer langen Bewerbungsphase und Jahren der Vorbereitung feierlich eröffnet. Die Kulturstiftung der Länder hat 2019/2020 im Auftrag der Kultusministerkonferenz die praktische Organisation des nationalen Auswahlverfahrens für die deutsche Kulturhauptstadt Europas 2025 durchgeführt. Der jährlich von der Europäischen Union vergebene Titel der Kulturhauptstadt wurde 1985 von der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri ins Leben gerufen, um Europäerinnen und Europäer zusammenzubringen, indem der kulturelle Reichtum und die Vielfalt in Europa hervorgehoben werden. Mit der Ausstellung „European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“, die noch bis zum 10. August 2025 in Chemnitz zu sehen sein wird, zeigt sich einmal mehr, welche kulturelle Vielfalt über Ländergrenzen hinweg entstehen kann und welche integrative, verbindende und gemeinschaftsstiftende Kraft Kultur damals wie heute hervorbringt.
Im Podcast spricht Anja Richter, Leiterin des Museums Gunzenhauser in Chemnitz, über die Ausstellung „European Realities“. Hören Sie weitere Episoden des Podcasts „Ausstellungstipps der Kulturstiftung der Länder“.
European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa
Kunstsammlungen Chemnitz,
Museum Gunzenhauser
Falkeplatz, 09112 Chemnitz
bis 10.8.2025