Möbel für Monarchen

Goethe kannte Roentgen-Möbel von Jugend an. Sein Vater hatte 1756 auf der Frankfurter Messe von der Neuwieder Manufaktur zwölf „französische Lehnen Sessel“ aus Kirschbaumholz gekauft, zudem zwei mit „Bildhauer-Arbeit“ verzierte Konsoltische. Im Haus des vermögenden Kaiserlichen Rats in Frankfurt hatte man offenbar ein Gespür für das, was zum erlesensten Geschmack der Zeit werden sollte. Noch leitete Abraham Roentgen (1711–93) die Möbelproduktion, die sich unter den Fürsten am Rhein und in Mainfranken bereits großer Beliebtheit erfreute. Zwanzig, dreißig Jahre später – mittlerweile hatte Abrahams Sohn David (1743–1807) die Leitung der Firma übernommen – war Roentgen ein Mythos, der in ganz Europa für Luxus und höchste Qualität stand. Die Möbel hatten die kleine Residenzstadt am Mittelrhein an den Höfen und Handelsplätzen zwischen Paris und St. Petersburg berühmt gemacht.
David Roentgen war eine internationale Zelebrität, und wer es sich leisten konnte in der höfischen Welt, riss sich um seine raffinierten Verwandlungstische, die Zylinderbureaus und Standuhren, die Kommoden und Fauteuils oder die Marketerie-Bilder, die aus Holzintarsien die kompliziertesten Malereien nachbildeten. Katharina II. von Russland erwarb Hunderte von Möbeln aus Neuwied und gab ein Vermögen dafür aus. Roentgen-Fans waren auch Ludwig XVI. und Marie Antoinette, die den Mann aus dem Rheinischen zum „Ebéniste mécanicien du Roi et de la Reine“ ernannten. Da hatte Prinz Carl Alexander von Lothringen, der Schwager Maria Theresias und Statthalter der österreichischen Niederlande in Brüssel, Roentgen bereits die Auszeichnung „Artiste-ébéniste et machiniste du prince“ verliehen. Und Friedrich Wilhelm II. machte den Möbelproduzenten zum „Königlich Preußischen Kommerzienrat“. Der Freiherr von Wackerbarth, ein kunstsinniger, weitgereister Sonderling aus Sachsen, staunte auf seiner Rheinfahrt von 1791, die ihn auch nach Neuwied führte: „So heißt ein Tischler: Herr geheimer Rath! – Dies ist sicher das einzige Beispiel in der ganzen Weltgeschichte, dass ein Tischler ein geheimer Rath ward.“
Schon unter Abraham Roentgen war die Manufaktur eine weithin bekannte Attraktion. Goethe kam 1774 als Sturm-und-Drang-bewegter junger Mann nach Neuwied. Gemeinsam mit dem Schweizer Physiognomiker Lavater und dem Schulreformer Basedow besah er sich „die Kunstarbeiten bey Schreiner Röntgen“. Fünf Jahre später bestellte Goethe für Frau von Stein bei einem Weimarer Schreiner einen Rollschreibtisch im Roentgen-Stil – eines jener gerade in Mode gekommenen „bureaux à cylindre“ mit gewölbter, versenkbarer Abdeckplatte – und überwachte genau seine Herstellung. Die Neuwieder Möbel übten auf Goethe offenbar zeitlebens eine Magie aus. In einigen seiner Erzählungen griff er diese Preziosen des Kunsthandwerks auf, etwa im Märchen „Die neue Melusine“, das er 1807 (dem Todesjahr des berühmten Kunstschreiners) als Teil von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ schrieb: „Wer einen künstlichen Schreibtisch von Röntgen gesehen hat, wo mit einem Zug viele Federn und Ressorts in Bewegung kommen, Pult und Schreibzeug, Brief und Geldfächer sich auf einmal oder kurz nacheinander entwickeln, der wird sich eine Vorstellung machen können, wie sich jener Palast entfaltete, in welchen mich meine süße Begleiterin nunmehr hineinzog. Alles war geräumig, köstlich und geschmackvoll.“
Bis heute ist die Faszination dieser Möbel ungebrochen. Im Jahr 2007 strömten die Besucher in Scharen in die Roentgen-Ausstellung des Berliner Kunstgewerbemuseums, vor allem dann, wenn in Sondervorführungen das Innenleben des großen Kabinettschranks für Friedrich Wilhelm II. vorgeführt wurde. Das Hauptwerk der Roentgen-Manufaktur, 1773–79 entstanden, ist ein Wunderwerk der frühmodernen Technik: Auf Knopfdruck offenbaren sich geheime Fächer, schwenken Schubladen zur Seite oder senkt sich eine Schreibplatte herab. Im Zentrum des Aufbaus öffnet sich hinter malerischen Einlegearbeiten, die schon für sich als ein eigenes Bildprogramm in Bann schlagen, die Miniatur einer klassizistischen Theaterbühne. Dazu ertönt die Musik einer verborgenen Spieluhr. Als der Kabinettschrank 1971 nach zweihundert Jahren und Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg restauriert wurde, klemmte keine Tür – die hohe Ausführungsqualität gehörte zum Markenzeichen der Manufaktur. Gegenstücke des Berliner Prunkschranks lieferte David Roentgen an die Höfe in Brüssel und Versailles. Damit erwarb er sich die Gunst der Monarchen und erlangte Aufsehen unter den vernetzten Adelshäusern in Europa.
Heute würde man David ein Marketing-Genie nennen. Mit Lotterien fachte er die Nachfrage an, unablässig reiste er über den Kontinent, machte den Fürstenhäusern Angebote, bot langfristige Zahlungsfristen an, entwarf Prospekte für die Auftritte auf der Frankfurter Messe und richtete in der Geschmacksmetropole Paris eine Dependance ein – eine Strategie, die heute noch Designer mit ihren Showrooms in aller Welt verfolgen. Für Wörlitz, das erste klassizistische Schloss auf dem Kontinent, lieferte David Roentgen 1771 die ersten Möbel im antikischen Stil. Die Pariser Gesellschaft wollte bald nichts anderes als diesen „style à la grecque“, und David konkurrierte erfolgreich mit den großen Ebenisten der französischen Hauptstadt.
Nicht nur in der Kunstgeschichte haben die Roentgen-Möbel ihren überragenden Platz, auch am Kunstmarkt sind sie eine feste Größe. Während etwa Rokoko-Möbel ihre große Zeit als begehrte Antiquitäten hinter sich haben und zu oft erstaunlich niedrigen Preisen den Besitzer wechseln, erzielen Roentgen-Möbel immer noch, ja in wachsendem Maße Höchstpreise. Die Prunkstücke aus der klassizistischen Zeit Davids sind ohnehin längst Millionenobjekte. Kleine Häuser wie das Roentgen-Museum in Neuwied, hervorgegangen aus dem 1928 gegründeten Kreismuseum, können da nicht mehr mithalten. „Wir legen deshalb unseren Schwerpunkt auf die frühe Zeit unter Abraham Roentgen“, erklärt Museumsleiter Bernd Willscheid. Und verweist doch zugleich auf den Stolz der Sammlung, die rund 25 Stücke aus der Neuwieder Manufaktur umfasst: die prachtvoll mit Skulpturen und Reliefs aus vergoldeter Bronze dekorierte „Apollo-Uhr“, die David Roentgen 1789 für die russische Zarin Katharina II. herstellte. 1928 ließ die Sowjetunion das Prachtmöbel zur Beschaffung von Devisen in Berlin versteigern – eine Gelegenheit, die sich damals der Neuwieder Landrat und der Bürgermeister des Städtchens für ihr neues Museum nicht entgehen ließen. Heute sind solche Stücke für das Roentgen-Museum kaum noch erreichbar. Um so freudiger ergriff Willscheid die Gelegenheit, als ihm ein hessisches Sammler-Ehepaar zwei Neuwieder Kommoden aus der Zeit unter Abraham Roentgen anbot, und konnte die beiden Möbel jetzt für das Roentgen-Museum ankaufen.
Die zwei Kommoden entstanden um 1755/60 und stehen für die Phase der Manufaktur, als es Abraham Roentgen gelang, die rheinischen Fürsten auf sich aufmerksam zu machen, etwa den Trierer Erzbischof, der einer der ersten Großkunden wurde und ähnliche Stücke wie die jetzt angekauften Kommoden besaß. Wie bauchige Skulpturen schwingen die beiden Möbel aus, die Beine strecken sich kokett zur Seite, während eine illusionistische Intarsien-Marketerie im Rautenmuster aus Rosen- und Veilchenholz die Front überzieht: eine kostbare Epidermis, die das Gebrauchsmöbel zum Kunstwerk erhebt. Die Bronzebeschläge bestellte Abraham per Katalog in London. Dort hatte der Tischler-Geselle aus Köln-Mülheim in den 1730er Jahren die wesentlichen Impulse für seinen künftigen Erfolg erhalten. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Zunftordnungen nur kleine Werkstätten erlaubten, gab es unter den „cabinet-makern“ in der britischen Weltstadt die Großbetriebe, die mit Hilfe von serieller Produktion und Zulieferern von vorgefertigten Teilen Möbel in einer Stückzahl herstellten, wie man es auf dem Kontinent noch nicht kannte. Stilistisch hinterließ die Londoner Zeit in Abrahams Schaffen ebenso tiefe Spuren. Die Art der Einlegearbeiten, das raffinierte Innenleben der Schreibtische, die typischen „Lippenränder“ von Schubladen (wie sie auch die Neuerwerbungen des Roentgen-Museums aufweisen), exzentrische Füße in Kugelklauen- oder Polsterform sowie die Vorliebe für verwandelbare Möbel – mit all diesen englischen Elementen machte Abraham Roentgen in Deutschland Furore.
Aber London wirkte für ihn auch in anderer Weise lebenslang nach. Hier hörte er 1738 den Grafen Zinzendorf predigen, der in der Oberlausitz die streng pietistische Herrnhuter Brüdergemeine gegründet hatte. Glauben und wirtschaftlicher Eifer waren in der bald weltweit agierenden Glaubensgemeinschaft kein Gegensatz. Profit zur Ehre Gottes, Qualität und angemessene Preise ohne Wucher, Handel mit Luxusgütern, auch wenn man für sich selbst den üppigen Lebenswandel ablehnte – diese Maximen wurden prägend für die Roentgens, seitdem sich Abraham in London der Brüdergemeine angeschlossen und sich in einer ihrer Kolonien im oberhessischen Herrnhaag angesiedelt hatte. Als dort der landesherrliche Schutz endete, zogen die Glaubensbrüder im Jahr 1750 nach Neuwied, wo ein aufgeklärter Graf für Religionsfreiheit sorgte und das wirtschaftliche Potenzial der tüchtigen Herrnhuter erkannte. Für Abraham Roentgen bedeutete Neuwied die Möglichkeit, seinen zunächst noch traditionellen Kleinbetrieb zu einer Manufaktur Londoner Prägung auszubauen. Hier war er vom städtischen Zunftzwang befreit und konnte mehr als nur zwei Gesellen beschäftigen. Dafür durfte er in Neuwied außer dem Herrscher niemandem etwas verkaufen. So war das Unternehmen von Beginn auf den Fernhandel angewiesen. Abraham beschränkte sich noch weitgehend auf die Großregion um Rhein und Main, während David, der 1772 die Firmenleitung übernahm, die Manufaktur konsequent zu einer Firma von europäischem Rang ausbaute.
Schon die jetzt vom Roentgen-Museum erworbenen Kommoden aus der frühen Zeit zeugen von der Betriebsorganisation zwischen altem Handwerk und frühindustrieller Produktion. Obwohl sie sich auf den ersten Blick täuschend ähnlich sehen, gibt es deutliche Unterschiede in technischen Details, wie die genaue Untersuchung vor dem Ankauf ergab. Sie sind kein Paar, entstanden aber im Zuge eines arbeitsteiligen Prozesses, in dem die Möbelkörper, Schubladen, Beine, Marketerie oder Beschläge gleich in Serie, möglichst zeit- und kostensparend vorbereitet und zusammenmontiert werden konnten. David Roentgen gab in den besten Zeiten rund 50 Männern Arbeit, mit den Zulieferbetrieben waren es wohl weit mehr. Er war der erste deutsche Handwerker, der nach industrialisierten Methoden arbeitete. Zu seinem größten Leidwesen billigte die Brüdergemeine seine Geschäftsmethoden nicht, fand seinen Lebenswandel zu luxuriös und schloss ihn vom Abendmahl aus. Natürlich legte David nicht mehr selbst Hand an, sondern organisierte den Werkprozess und reiste wie ein heutiger Manager durch die Welt.
Es war keine bürgerliche Welt, sondern das Ancien Régime, die alte ständische Ordnung der Fürstenstaaten – das ist der Kontrast zu der betriebswirtschaftlichen Modernität, in der die Roentgen-Möbel entstanden. Die Neuwieder Manufaktur schuf Luxusprodukte für eine höfische Sphäre, die ein letztes Mal aufblühte, bevor 1789 ihr Untergang begann. Nach dem Ausbruch der Französischen Revolution war David Roentgen als Günstling des Königspaars nicht mehr in Paris erwünscht und musste seine Filiale schließen. Auch die Großkundin Katharina II. verlor die Lust an dem teuren Spaß. Seit 1792 entstanden keine Möbel mehr in Neuwied. Im Sommer 1795 besetzten die Franzosen das rechte Rheinufer und Roentgen flüchtete – nachdem ihn die Brüdergemeine wieder in ihren Kreis aufgenommen hatte. In mühseliger Herumreiserei durch die deutschen Länder verkaufte Roentgen nach und nach die Bestände aus seinem Lager und trieb alte Schulden ein. Er blieb ein reicher Mann. Erst 1801 kehrte er nach Neuwied zurück. Hier im Kreis der Herrnhuter Brüder fand er die geistliche Geborgenheit, die ihm zeitlebens genauso wichtig war wie der geschäftliche Erfolg. Als Statussymbole der höfischen Welt waren die Möbel der Roentgens nun nicht mehr gefragt. Überlebt haben sie als faszinierende Kunstwerke.