Kunstgewerbe? Arts and crafts? Kunsthandwerk? Designobjekt? Produkt des Gewerbefleißes? Arti minori? Angewandte Kunst? Kunstindustrie? Dekorative Kunst? Objet d’art? Alle diese Begriffe bezeichnen mehr oder weniger denselben Bereich künstlerischer Produktion – und setzen dabei doch sehr unterschiedliche Akzente. Auffällig ist, wie häufig sie relational gedacht sind – muss es nicht dort, wo es eine angewandte auch eine freie Kunst geben? Kunsthandwerk dort, wo es ein Handwerk (ohne Kunst?) gibt? Auch eine kleinere, niedrigere Kunst funktioniert nur dort, wo als Gegensatz eine große Kunst gedacht werden kann. Es sind diese Relationen und die ihnen impliziten Wertungen und Kontexte, die das Gespräch über Kunstgewerbe so anregend und so aktuell machen.
In seiner Unterscheidung zwischen Künstler und Handwerker schreibt Jacques Lacombe 1752 in seinem in Paris publizierten Dictionnaire portatif des beaux-arts, „dass der erste [der artiste] mehr Studium, Genie, Geschmack, Fleiß, Talente und Übung haben muss, um Werke hervorzubringen, die ihm zur Ehre gereichen; der zweite hingegen [der artisan] ist ein weniger angesehener und weniger würdiger Beruf, da es gewissermaßen nur der Gewohnheit [habitude] bedarf, um darin erfolgreich zu sein“. Im Jahr 1929 betont Ludwig Hilberseimer in der Zeitschrift bauhaus: „ … da die heutige produktion mit der industrie und der maschine verbunden ist, neben denen das handwerk aus ökonomischen gründen nicht mehr bestehen kann, so ist das handwerk heute weder ein wirtschaftlicher noch ein kultureller faktor. es befindet sich in einem umwandlungsprozeß und dient, soweit es rein überhaupt noch vorhanden ist, den luxusbedürfnissen einer dünnen kaufkräftigen schicht.“
In der Mitte des 18. Jahrhunderts also findet sich (noch?) die Vorstellung von ars als Gemeinschaft aller menschlichen Künste und Kunstfertigkeiten: Sowohl der artiste als auch der artisan bringen durch ihr Vermögen kunstvolle Dinge hervor. Der gesellschaftliche Status des in den schönen Künsten tätigen Künstlers aber ist höher als der des in den (angewandten) Künsten arbeitenden Handwerkers, der weniger Genie, Talent und Geschmack – sondern nur Fleiß, Übung, Gewohnheit – haben muss, um erfolgreich arbeiten zu können. Diese soziale Wertung hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewandelt – der Handwerker ist durch die veränderten Produktionsbedingungen zunehmend marginalisiert, die Waren des täglichen Bedarfs werden industriell gefertigt und die Werke des artisan sind zum zweckfreien „Kunst-Handwerk“ und damit zu Luxusartikeln geworden.
In der Spanne, die zwischen den beiden Aussagen liegt, hat sich unsere heutige Vorstellung von Kunstgewerbe entwickelt. Was aber ist Kunstgewerbe, ist Kunsthandwerk, sind Produkte der angewandten Kunst? Will man sich die Antwort leicht machen, so lautet sie: Alle Objekte, die in Kunstgewerbemuseen versammelt und präsentiert werden. Eine Geschichte dieses besonderen Museumstyps beginnt mit der Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations von 1851 (Abb. S. 20). Auch wenn es vorher schon Messen und Sammlungen zur Präsentation der Produkte von Industrie und Handwerk gab, bildet doch diese Weltausstellung in London einen Ausgangspunkt. In ihrer Folge entstehen Sammlungen der Works of Industry an unterschiedlichen Orten: 1852 das South Kensington Museum in London (heute Victoria & Albert Museum), 1863 das Österreichische Museum für Kunst und Industrie in Wien (heute Museum für Angewandte Kunst, MAK), 1867 das Deutsche Gewerbe-Museum zu Berlin (heute Kunstgewerbemuseum)(Abb. S. 23). Zweifaches Ziel dieser neuen Museen ist es, Sammlungen mit Vorbildcharakter für die Ausbildung von Handwerkern und Entwerfern für die industrielle Produktion aufzubauen, zugleich aber auch der Geschmacksbildung nicht nur von Künstlern, sondern auch des „Volkes“ zu dienen. Diese Museen treten – meist als bürgerliche Gründungen – mit einem deutlichen Bildungsanspruch an, sind eng an ökonomischen Interessen ausgerichtet und mit der Idee der Nation verbunden. Friedrich Pecht schreibt beispielsweise von seinem Weg zur Pariser Weltausstellung von 1867, das deutsche Volk sei nun an einem „welthistorischen Wendepunkt“ seiner Geschichte angelangt, an dem sich beweisen müsse, ob „wir wirklich das Zeug dazu haben, uns zu einer mächtigen, ruhmvollen Nation zu bilden“. Und weist den Erzeugnissen der nationalen Kunst und des Kunsthandwerks die Rolle eines Wertmessers zu: „Wenn irgendwo, so spiegelt sich die Individualität der einzelnen Nationen und die allgemeine Richtung der Cultur in ihren Erzeugnissen wie in denen der Kunstindustrie mit unbestechlicher und ungeheuchelter Schärfe und Wahrheit ab. Nirgends sehen wir die Ideale, den Geschmack, die Wünsche, Sitten und Gewohnheiten der Menschen so scharf ausgeprägt als durch diese beiden großen Factoren.“
Das Wort Kunstgewerbe wird in dieser Zeit erst entwickelt und entsteht – works of industry, art industry, Kunstindustrie – als Übernahme aus dem Englischen, wobei industria noch die ältere Bedeutung des Gewerbefleißes transportieren kann, bevor es sich zu unserem heutigen Verständnis von Industrie wandelte.
William Morris, der große Denker des arts and crafts movement in England und sozialistischer Kämpfer für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, aber nutzt einen anderen Begriff. Er spricht programmatisch von den decorative arts, kommt der Dekoration doch in seinem Denken ein besonderer Platz zu: „Den Menschen Freude an den Dingen zu geben, die sie zwangsläufig benutzen müssen, das ist die eine große Aufgabe der Dekoration; den Menschen Freude an den Dingen zu geben, die sie zwangsläufig herstellen müssen, das ist die andere Aufgabe der Dekoration.“ Dekoration ist bei Morris positiv bewertet – anders als in späteren Zeiten (man denke nur an Adolf Loos’ Diktum vom Ornament und Verbrechen von 1913), wo das Dekorative, das Ornamentale als das Unwesentliche, das Oberflächliche, das rein Schmückende, Inhaltslose, auch Weibische, gar Orientalische, diffamiert und marginalisiert wurde und weiterhin wird. Dennoch stehen die decorative arts für Morris in einem hierarchischen System, er benennt sie auch als lesser arts und trennt sie von der bekannten Trias aus Architektur, Malerei und Skulptur, die er zu den great arts oder master arts zählt. Diese rezent erfolgte Trennung sei zum Nachteil für alle Künste, würden doch die angewandten Künste dadurch „trivial, mechanisch, unintelligent“, die hohe Kunst hingegen zu sinnlosem Prunk für reiche und müßige Menschen verkommen. Diese Trennung ist für Morris wiederum ein ökonomisch-soziales Phänomen mit einer langen Vorgeschichte, „vor dem Aufkommen des Kapitalismus im sechzehnten Jahrhundert unterschied sich der Handwerker nicht vom Künstler; alle Handwerker, die etwas herstellten, waren in irgendeiner Form Künstler, sie unterschieden sich nur im Grad“.
Die in der frühen Neuzeit erfolgte Trennung aber hat nicht allein wirtschaftliche Gründe, sondern auch wirkmächtige kunsttheoretische Begründungen, die deutlich auf die Hierarchien im europäischen Sprechen über Kunst verweisen, die bis heute nachwirken: Im Jahr 1563 reichte Benvenuto Cellini in Florenz einen Vorschlag ein, wie das zukünftige Siegel der Accademia dell’arte del Disegno aussehen sollte, der frühen Kunstakademie, die in Florenz im Umfeld des Hofes der Medici, von Giorgio Vasari, Vincenzo Borghini und Michelangelo entstand. In seinem Entwurf wird ein Bild der Göttin Natura von einem auf der Spitze stehenden Viereck gerahmt; in seiner mitgelieferten Erklärung definiert er, dass „l’arte del disegnio si è la vera madre di tutte le azioni del’huomo“. Er erhebt damit die Kunst des Disegno zur wahren Mutter aller menschlichen Tätigkeiten und setzt sie mit Natura als göttlichem Geschöpf und als Ursprung aller Dinge (natura naturata und naturans) gleich. Die vier Ecken des Rahmens aber enthalten den Sprengstoff – stemmt sich Cellini damit doch gegen die Kanonisierung der hohen Künste und gegen den Ausschluss seines Metiers, der Goldschmiedekunst, aus der Trias von Malerei, Skulptur und Architektur, wie sie beispielsweise Vasari in seinen Viten von 1550/1568 anlegt (Abb. S. 23).
Ist also Kunstgewerbe eine defizitäre Angelegenheit – alles, nur nicht richtige Kunst? Sind Kunsthandwerker:innen alles, nur nicht richtige Künstler:innen? Ist zu viel Können, zu viel Virtuosität, zu viel Material und Materialbeherrschung etwas, das dem geistigen Schaffen, dem intellektuellen Konzept des wahren künstlerischen Genies im Wege steht? Ist das Format entscheidend, ob ein Werk ins Kunstgewerbe- oder ins Kunstmuseum verwiesen wird? Ist Nutzbarkeit ein sofortiges Ausschlusskriterium aus den Bereichen wahrer Kunst? Sind Kulturen, die keine Historiengemälde erschaffen, keine Statuen in Marmor meißeln alles, nur keine richtigen Kulturen oder Kulturnationen …? Solche polemischen Fragen helfen wenig, aber sie helfen, den Kanon und seine impliziten Ausschlussmechanismen sichtbar zu machen. Und sie zeigen im Umkehrschluss, welche positive Kraft in den heutigen Sammlungen von Kunsthandwerk, in den Museen der angewandten Kunst und des Kunstgewerbes steckt. Als sich Ende des 18. Jahrhunderts ein ästhetischer Bildungsanspruch von den „hohen Künsten“ abkoppelte, Kunst nicht mehr die Aufgabe zukam, den Menschen erziehend zu höheren Werten führen zu müssen, die Kunst „autonom“ wurde – transferierte sich dieser Erziehungsgedanke in Teilen auf das Kunstgewerbe. Das immer wahrnehmbarere Volk, die sich konstituierende Nation sollte Geschmack erlernen – anhand von vorbildlichen Werken der angewandten Kunst. Dies ist ein schweres Erbe. Aber wenn die Kunstgewerbemuseen noch konsequenter als bisher ihre ererbten Reihungen und Klassifizierungssysteme, ihre Schulen und Epochen kritisch hinterfragen würden, könnten sie Raum für aktuelle Diskurse schaffen. Ringen doch viele der heutigen Museen darum, die ihnen inhärenten, eurozentristischen, auf den männlichen Künstler-Typus fixierten Narrative offenzulegen und neue Formen der Präsentation und damit auch der Erzählung von Kunst zu finden. Die Kunstgewerbemuseen sind – per se? – schon anders geordnet: Vielfach gehören europäische und außereuropäische Artefakte zu ihren Beständen, dem Ornamentalen wird ein eigener Wert zu gestanden, es gibt Objekte sowohl von männlichen als auch von weiblichen Künstlern. Leicht ließen sich aktuelle Fragen nach den Wertigkeiten von Materialien, nach der Genese globaler Handelswege, nach den Werkprozessen und Produktionsbedingungen, nach dem sozialen Wert und der Bewertung von Arbeit über die Produkte des „Kunstgewerbes“ erzählen. Die an vielen Orten vorgenommenen Neuordnungen und Erprobungen aktueller Formate in der Präsentation lassen schon das Potential erahnen, das sich hoffentlich in Zukunft noch breiter entfalten wird.
Henrike Haug ist Kunsthistorikerin mit Schwerpunkten in der mittelalterlichen und (früh)neuzeitlichen Kunst und Kultur.