#kulturgemeinsam

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Bild hat sich mir in den letzten Wochen ganz besonders eingeprägt: der Pianist Igor Levit am Flügel in einem abgedunkelten Raum, umgeben nur von Kameras, neben ihm ein gewaltiger Papierstapel, bedruckt mit den 840 Wiederholungen von Eric Saties „Vexations“. Die Aufführung der „Quälereien“ sollte mehr als 15 Stunden dauern und war als Livestream im Internet zu verfolgen. Wer wollte, konnte sich also vom frühen Samstagnachmittag bis zum frühen Sonntagmorgen dem hypnotischen Bann der scheinbar unendlich wiederkehrenden Akkorde hingeben und zwar unabhängig davon, wo man sich gerade befand: im Wohnzimmer, im Park, in der S-Bahn. Natürlich war ich mitunter abgelenkt oder hörte nicht hin, und irgendwann nach Mitternacht muss ich eingeschlafen sein. Und doch hatte ich das Gefühl, etwas ganz Eigenes, Unvergessliches miterlebt zu haben, ‚gemeinsam‘ mit Tausenden anderer Menschen auf der ganzen Welt.

Igor Levit selbst verglich Saties „Vexations“ mit einem „stummen Schrei“, ein Schrei, mit dem Levit auf die existentielle und emotionale Not von Künstlerinnen und Künstlern während der Covid-19-Pandemie aufmerksam machen wollte. Doch es war wohl auch seine eigene Qual, die den Pianisten in den letzten Monaten den Kontakt mit seinem Publikum über Twitter und Instagram suchen ließ: Gestreamte Hauskonzerte und die Vorstellung, dass es viele Menschen gebe, die ihm zuhören und mit denen er seine Musik online teilen kann, das habe ihn „mental und emotional gerettet“, so Levit. Was die für Livestreams erforderliche Technik und ihre Handhabung angeht, so musste Levit die Voraussetzungen für seine digitalen Hauskonzerte selbst schaffen – noch zu Beginn der Pandemie schrieb er an eine Freundin: „Vom Streamen verstehe ich gar nichts!“

Schon lange vor der Covid-19-Pandemie und den dadurch bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens hatten wir uns vorgenommen, diese Ausgabe von Arsprototo dem Thema Kulturelle Bildung zu widmen. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten engagiert sich die Kulturstiftung der Länder auf diesem Gebiet mit dem Ziel, die gesellschaftliche Teilhabe an Kultur zu verbessern. Die Krisenerfahrung der vergangenen drei Monate hat uns die Bedeutung einer breiten Teilhabe an Kultur als der Verständigungs- und Handlungsgrundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens einmal mehr vor Augen geführt: Es ist das Wissen um gemeinsame, nicht verhandelbare Wertsetzungen wie Menschenwürde, Mitgefühl und Solidarität, die uns als Gesellschaft stärker machen, die uns geistig ‚zusammenrücken‘ lassen, selbst wenn dies körperlich nicht möglich ist.

Gleichzeitig haben wir gelernt, wie wichtig es ist, dass Kultur auch digital vermittelt werden kann. Natürlich ist der Twitter-Stream aus dem Wohnzimmer kein Ersatz für das Spiel im vollbesetzten Konzertsaal. Das leibhaftige Dabei-Sein hat für den Menschen immer eine eigene Qualität. Entscheidend ist aber vielmehr, dass digitale Technologien uns zusätzliche Formen der Teilhabe an Kultur anbieten und damit die Vielfalt der Teilhabechancen insgesamt erhöhen. Kultureinrichtungen tun also gut daran, ihre Kompetenzen und Kapazitäten in diesem Bereich auszubauen. Wenn sie über digitale Kanäle auch solche Menschen ansprechen können, die bislang keinen Zugang zu Kultur hatten, in digitalen Formaten alternative Perspektiven auf Kultur ermöglichen und neue künstlerische Ausdrucksformen in digitalen Medien fördern, dann unterstützen sie eine zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft: Kultur gemeinsam zu gestalten.

Ihr Markus Hilgert