Theatre 4 National Affairs
Aus Opfern werden Helden — Theater bedeutet, sich für Menschen zu interessieren, sagt Regisseur Georg Genoux
Glasklar und schmerzerfüllt tönt die Stimme einer jungen Frau durch den Raum. Hinter ihr zwei von bestickten Gardinen verhangene Fenster, neben ihr ein Holzstumpf. Sie lehnt an einem Pfeiler in der Schulaula im ostukrainischen Nikolajewka. Alles ist in ein halbdunkles, orangenes Licht getaucht. Gespannt betrachtet man das Mädchen – dann wandert die Aufmerksamkeit auf den Henkersknoten, der still, doch nicht heimlich neben ihr hängt.
Es ist die erste Szene des 12-minütigen Films „Heroes“, der auf dem YouTube-Kanal von „Theatre 4 National Affairs“ gestreamt werden kann. Er erzählt die Geschichte von Schülern aus dem Donbass im Osten der Ukraine, als sie zum ersten Mal etwas über den Holocaust und die Folgen für ihr eigenes Land erfahren.
Das Gemeinschaftsprojekt „Theatre 4 National Affairs“ verbindet vier europäische Theater aus Deutschland, der Ukraine, Bulgarien und Russland miteinander zu einem digitalen Projekt. Die gleichnamige YouTube-Plattform soll funktionieren wie ein echtes Theater: Performances, Workshops, Vorträge und Inszenierungen sind Teil des Repertoires.
Die Transformation des Theaters in digitale Räume schafft ein ganz neues Genre, mit vielfältigen Möglichkeiten der Darstellung, Kooperationen über Ländergrenzen hinweg und fungiert als ein digitales Archiv der sonst flüchtigen Kunstform. Im Fokus der Arbeiten von Georg Genoux und seinen Mitspielern liegt ein zeitgenössischer Blick auf Geschichten von Menschen im postsowjetischen Raum.
Herr Genoux, braucht das Theater die digitale Bühne?
Ja. Es gibt viele Gründe, gerade für meine oft sensiblen Projekte, die dafürsprechen. Ein Theaterstück zu filmen, hat einen anderen Effekt als es wieder und wieder aufzuführen. Ein Film entfaltet seine volle Kraft immer von neuem. Mit dem Theaterfilm können wir auf Reise gehen und ihn an anderen Orten präsentieren. Die Schauspieler und Schauspielerinnen teilen oft schmerzvolle Leiderfahrungen, mir ist es wichtig, dass sie sich nicht ausgestellt oder vorgeführt vorkommen. Das vermeiden wir durch die digitale Präsentationsform.
Es bietet sich zum anderen auch aus rein praktischen Gründen an. In unseren Projekten kooperieren Theater gemeinsam mit Schulen aus verschiedenen Ländern, in einem arbeiten zum Beispiel Schüler des Matthias-Claudius-Gymnasiums in Hamburg und der Schule Nr. 3 im russischen Nikolajewka zusammen. Das Kennenlernen und Proben fand in digitaler Form statt, es fehlt schlicht an den finanziellen Mitteln, sich dauernd zu besuchen. So hat die Zusammenarbeit trotzdem wunderbar funktioniert.
Sie arbeiten schon seit 2014 mit Menschen aus Krisengebieten, besonders in Osteuropa. Im Zuge des Kriegsausbruchs im Februar 2022 in der Ukraine haben Sie es Menschen ermöglicht, nach Deutschland zu kommen. Mit dem Thespis Zentrum des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen gründen Sie das „Theatre for Displaced People“, an dem die Geflüchteten an künstlerischen Projekten teilnehmen können. Gibt es in Krisen überhaupt Raum für Kultur?
Umso mehr. Ich glaube, dass wir gerade in unsicheren Situationen Kunst und Kultur brauchen. Aus meiner langjährigen Erfahrung kann ich gut beurteilen, dass die Menschen dann vielleicht sogar noch empfänglicher für Kultur sind. Sie schenkt den Menschen Kraft und Wärme. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob wir es „Theater“ nennen, was wir in unseren Projekten machen. Es geht um Unterstützung, Ablenkung. Die Teilnehmer haben dann auch einen Raum, über ernste Dinge zu sprechen.
In der Zusammenarbeit mit den ukrainischen Schülern im Projekt „Helden“, das im Dezember 2021 in Nikolajewka Premiere feierte, haben wir erlebt, wie die eigenen Kriegserfahrungen zum Motor des Prozesses wurden. Im Theater muss man sich in Rollen, in Menschen, in Täter und Opfer hineinversetzen. Dabei können die Teilnehmer ihre persönlichen, schmerzhaften Erfahrungen in einem geschützten Raum reflektieren.
Theater schenkt also Kraft.
Genau, es ist vielleicht das erste Mal, dass du erlebst, dass du nicht alleine bist. In der heutigen Welt ist das unglaublich viel wert, wenn die eigenen Gedanken und Gefühle ernstgenommen werden. Besonders für Jugendliche hat es eine große Bedeutung, sich akzeptiert zu fühlen. Nach Produktionen kamen Menschen zu mir und haben sich bedankt. Dafür, dass wir ausgesprochen haben, was sie fühlen. Einer unserer Schüler sagte einmal: „Ich fühle mich nicht mehr als Opfer meiner Geschichte, sondern als Held. Ich kann meine Geschichte mitteilen und anderen damit helfen.“
Sie haben sich mit dem Projekt „Theatre 4 National Affairs“ für eine Transformation der klassischen Theateraufführung in den digitalen Raum entschieden. Worauf muss man bei der Übertragung in diese Form achten?
Ähnlich wie beim Film spielt hier Kameraarbeit eine große Rolle. Es ist aber kein klassischer Spielfilm, es bleibt immer noch Theater, und da sind die Gesetze anders. Wir arbeiten daher mit Kameramenschen zusammen, die auch im Theater zuhause sind und viel davon verstehen. Die Kamerafrau unseres Filmprojekts „Helden“, Alina Kobernik, war selbst eine Schülerin, die ich 2014 in der Ostukraine kennenlernte. Sie wirkte damals in der Produktion „School #3“ im Donbass mit und entschloss sich anschließend, Regie und Kamera zu studieren. Seit vielen Jahren kennt sie unsere Theaterarbeit, deswegen konnte sie sich gut einfühlen und die Stimmung des Stücks filmisch sehr gut festhalten.
Durch die Kombination mit dem Genre „Film“ tun sich ganz neue Möglichkeiten auf. Welchen Weg gehen Sie mit Ihrem Filmprojekt „Vor deinen Augen verbeuge ich mich“?
In diesem Projekt mit Anastasia Tarkhanova lassen wir Menschen aus Ostdeutschland zu Wort kommen, die von sich erzählen. Im Film befinden wir uns an realen Orten in Hagenwerder und treffen dessen Bürger. Wir sind nicht mehr an die Bühne gebunden, wie es bei der klassischen Aufführung der Fall ist. Das gibt uns die Möglichkeit, Situationen zu bauen, die so im Theaterraum nicht umsetzbar sind. Parallel dazu zeigen wir im Film eine nachgebaute Miniaturstadt, bevölkert von kleinen Figuren aus Karton für eine Modellwelt unserer realen Protagonisten. Wenn die Beteiligten dann plötzlich vor sich selbst in Figurengröße stehen bringt das großen Spaß. Das Wechselspiel dieser Bilder funktioniert nur durch den Ansatz, alles zu verfilmen. Doch der digitale Bereich ist für das Theater keine Notlösung. Es ist eine eigene Gattung, die sich noch wahnsinnig weiterentwickeln kann.
Der digitale Bereich hat durch die Pandemie einiges an Aufschwung bekommen.
Das war doch wenigstens ein guter Aspekt. Bei all den traurigen, schrecklichen Sachen. Durch die Pandemie waren wir gezwungen, Dinge weiterzuentwickeln und neu zu denken.
Im Rahmen des Projekts „Das Land, das ich nicht kenne“ reisen Sie durch ostdeutsche Städte und sprechen dort mit Geflüchteten, die ihr Land verlassen mussten und Ostdeutschen, die bis heute mit den Folgen der Wiedervereinigung hadern. Sie bringen beide in gemeinsame Projekte. Wie gelingt der Dialog?
Der Dialog gelingt durch ehrliches Interesse. Ich interessiere mich für Menschen und möchte sie verstehen. Das wichtigste an diesen Filmprojekten ist, dass man den Leuten zuhört und sie nicht abstempelt. Wir lassen die Teilnehmer spüren, dass sie nicht moralisch bewertet werden, dadurch kommen wir immer sehr gut in Kontakt. Und dann werden die Projektteilnehmer auch auf die anderen Menschen neugierig, mit denen ich in Kontakt stehe. Im Rahmen unserer Projekte haben sich Menschen kennengelernt, deren Alltag sich vorher nicht berührt hat. Und das kann dann über die Zusammenarbeit hinausgehen: Eine Punkerin und ein sächsischer Kommunalpolitiker, die sich über uns kennenlernten, sind gemeinsam an die ukrainische Grenze gereist, um dort Freunde von mir abzuholen. Und ein Freund aus dem dörflichen Raum hat eine ukrainische Familie für eine Woche in seiner Wohnung beherbergt, obwohl er eigentlich nicht möchte, dass andere Menschen hierherkommen. Wenn man Menschen ernst nimmt, kann viel geschehen.
Interview: Leonie Lotti Soltys, Politikwissenschaftlerin in Berlin
Georg Genoux: Der 1976 in Hamburg geborene Theaterregisseur Georg Genoux arbeitet für die Freie Kunstschule Hamburg – FIU e. V. mit Menschen aus der Zivilgesellschaft, die Leid, Flucht oder Unsicherheit erfahren haben. Über 90 Projekte hat er bereits verwirklicht, viele davon in Osteuropa. Seine regelmäßig ausgezeichneten Theaterproduktionen sind vielfältig wie die Menschen darin. Er arbeitet mit Schülern in der Ukraine, syrischen Geflüchteten oder mit der Bevölkerung im ländlichen Sachsen. Sein Ansatz: Die Beteiligten können über die Kraft des Theaters das Erlebte ausdrücken. Seit 2021 produziert Genoux mit seinen Partnern im Gemeinschaftsprojekt „Theatre 4 National Affairs“ Inszenierungen ausschließlich für ein digitales Format – gefördert durch KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, dem digitalen Transformationsprogramm der Kulturstiftung der Länder und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Capella Jenensis e.V.
Klingende Residenzen
Jahrhundertelang regierten in Thüringen Ernestiner, Reußen und Schwarzburger in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Vielzahl großer und kleiner Fürstensitze und ihr friedliches Nebeneinanderbestehen prägten Thüringens Kulturlandschaft. Verbrachten andere deutsche Fürstentümer den Großteil ihrer Zeit damit, gegeneinander Kriege zu führen, so verwendeten die Thüringer ihre Energie darauf, Kunst und Musik zu fördern und für ihre eigene Repräsentation zu nutzen. So unterschiedlich die Thüringer Fürsten und ihre Residenzen waren, so unterschiedlich auch die Musik, die auf ihren Höfen gespielt wurde. Das Thüringer Barockorchester Capella Jenensis e. V. aus Jena hat es sich seit Juni 2020 zur Aufgabe gemacht, die musikalischen Schätze der Thüringer Fürstenresidenzen wieder erklingen zu lassen. Das Barockorchester spielt dafür die repräsentativsten Werke der am fürstlichen Hof tätigen Komponisten am Ort ihres Entstehens neu ein. Auf verschiedenen Thüringer Schlössern spielen sie in Festsälen oder Kapellen Werke der Renaissancezeit, des Barock und der Frühklassik, darunter von Hofkapellmeistern wie Johann Sebastian Bach, Johann Heinrich Erlebach, Johann Krieger, Andreas Oswald oder Adam Drese. Die Aufführungen der Werke hält das Orchester in Musikvideos fest. Sie werden ergänzt mit lokal- und musikhistorischen Informationen. Zusammen bilden die Musikvideos die digitale Konzertreihe „Klingende Thüringer Residenzen“. Acht musikalische Porträts hat das Barockorchester Capella Jenensis bisher veröffentlicht. Unter anderem spielten sie auf Schloss Sondershausen die Brunnen-Cantate „Himmel eröffne die Quelle der Freuden“ von Johann Balthasar Christian Freislich (1687–1764), auf Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden „Mein Herz ist bereit“ (aus „Symphoniae sacrae II, Op. 10“) von Heinrich Schütz (1585 – 1672) und im neuen Palais Arnstadt „Nach dir, Herr, verlanget mich“ (Sinfonia aus Kantate BWV 150) von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). Dem digitalen Konzertpublikum werden neben den Musikstücken auch Außenansichten und Aufnahmen der Innenausstattungen der Schlösser präsentiert, so soll die Geschichte Thüringens vermittelt und Neugierde auf Reisen nach Thüringen geweckt werden.
Die musikalischen Porträts der Thüringer Schlösser werden mit ausführlichen Hintergrundinformationen auf der Webseite www.klingende-residenzen.de sowie in den Sozialen Medien veröffentlicht.
Mithilfe des Förderprogramms KULTUR.GEMEINSCHAFTEN konnten im Oktober 2021 zwei weitere Musikvideos produziert werden: Die Aufnahmen fanden auf den Schlössern Ettersburg in Weimar und Molsdorf in Erfurt statt, im Mai dieses Jahres wurden die digitalen Porträts der beiden Schlösser auf der Webseite veröffentlicht. Das erste Fördermodul von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN nutzte das Barockorchester zur Anschaffung von Aufnahmetechnik – Mikrofone, Ständer, Kabel und weiteres Zubehör. Externe Dienstleistungen konnten mit dem zweiten Fördermodul finanziert werden, dazu zählten unter anderem die Buchung eines Aufnahmeteams mit Kameramännern, Regie, Tonmeister und Sprecher, sowie die Ausleihe von Instrumenten und die Erstellung der Noten. Das originale Manuskript einer der in Schloss Molsdorf eingespielten Werke ist bis heute erhalten: die Triosonate in B-Dur von Gottfried Heinrich Stölzel (1690 – 1749).
Vor den Aufnahmen recherchierte Capella Jenensis in enger Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Schlösser musikhistorische Quellen und die Hintergründe der Werke. Mit der Erstellung eines dramaturgischen Konzepts wurde festgelegt, wann und wie Außen- und Innenaufnahmen der Schlösser gezeigt und die Musikstücke eingebunden werden. Je Musikvideo probten die beteiligten Musiker:innen und das Aufnahmeteam ein bis zwei Tage im Vorfeld, erst danach wurde in der Residenz aufgezeichnet. Die beteiligten Musiker:innen hatten bis dahin eigenständig im Homeoffice die Werke erarbeitet – das nahm circa zehn bis 20 Tage in Anspruch. Ergänzt wurden die Aufnahmen durch Interviews mit den Schlossverwalter:innen und Musiker:innen. Anschließend wurde die Aufnahmen nachbearbeitet, geschnitten und zusammengefügt.
Im Mai dieses Jahres wurde das dritte, durch KULTUR.GEMEINSCHAFTEN geförderte, Porträt produziert: eine Aufnahme auf Schloss Friedenstein Gotha. Im Herbst 2022 soll das digitale Porträt dann auf der Webseite veröffentlicht werden. Mit der Unterstützung durch das Förderprogramm konnten so bislang insgesamt drei musikalische Porträts Thüringer Schlösser produziert werden. Das Digitalprojekt „Klingende Thüringer Residenzen“ stärkt die mediale Präsenz des Barockorchesters Capella Jenensis und der beteiligten Thüringer Schlösser und ermöglicht es ihnen, sich einem breiten digitalen Publikum vorzustellen.
Text: Jennifer Scheibel, Mitarbeiterin Kommunikation der Kulturstiftung der Länder
Maviblau e.V.
Gegen das Vergessen – Postmigrantische Stimmen als Teil des deutschen Gedächtnisses
Serap Yılmaz-Dreger ist als Talentscout in Köln tätig und lebt in Düsseldorf. Im Studium der Soziologie und Turkologie schärfte sie ihren Blick für Marginalisierung und hybride Identitäten. Darauf kann sie in ihrem Podcast Erinnerungenschaften stets zurückgreifen. Dieser wird von Maviblau e. V., einer Plattform für Kunst und Kultur von Gruppen im türkisch-deutschen Kontext, produziert und von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN gefördert. Im Interview mit Arsprototo berichtet sie von ihren Gesprächen mit Menschen, die sie auf ihrer Recherche zur postmigrantischen Gesellschaft traf.
Erinnerungenschaften
Im Rhythmus von sechs Wochen veröffentlichen Serap Yılmaz-Dreger und ihr Team seit Oktober 2021 je eine Folge ihres siebenteiligen Podcasts. Zusammen mit ihren Gästen, die vier Generationen abbilden, zeigt sie eine neue Erinnerungskultur auf, die postmigrantische Stimmen als gleichwertigen Bestandteil des deutschen Gedächtnisses begreift. Darin lässt Serap Yılmaz-Dreger Menschen auf Deutsch oder Türkisch zu Wort kommen, die ihre persönlichen Eindrücke und Empfindungen hinsichtlich der Umbrüche in Politik, Gesellschaft und Ökonomie mitteilen. Ausgehend vom Anwerbeabkommen in den 1960er-Jahren geleitet ein in Dekaden gestaffelter Zeitstrahl die Hörer durch prägende Ereignisse im deutsch-türkischen Kontext. Gewerkschaftsvereinigungen der 1970er-Jahre, Firmengründungen der 1980er-Jahre, die Auswirkungen des Mauerfalls oder das im Jahr 2000 reformierte Staatsangehörigkeitsgesetz in Deutschland werden so neu erzählt.
Arsprototo: Wie haben Sie zu dem Projekt gefunden?
Serap Yılmaz-Dreger: Maviblau e.V. lobte im Jahr 2020 einen Wettbewerb aus, in dem sie um kreative Auseinandersetzungen mit dem Thema Erinnerungen baten. Die Relevanz dieses Themas wurde mir im Zuge der Corona-Pandemie bewusst, die mir die Endlichkeit von Erinnerungen aufzeigte. Schließlich können sie nur so lange eingefangen werden wie sie erzählt werden können. Mir ist aufgefallen, dass vor allem die Erfahrungen der ersten Generationen deutsch-türkischer Postmigrant:innen nur wenig aufgearbeitet sind. So fasste ich den Entschluss, dem Schwund dieser Stimmen mit einem Podcast entgegenzuwirken. Ich schlug dem Verein meine Idee vor und glücklicherweise konnte ich ihn davon überzeugen.
Nach welchen Kriterien suchen Sie ihre Gesprächspartner:innen aus?
Zunächst ist es für mich entscheidend, dass sich meine Gesprächspartner:innen wohl fühlen. Sie sollten in der Lage sein, biografisch offen über ihre postmigrantischen Erfahrungen zu reden. Da in meinem Podcast sowohl Errungenschaften als auch heikle Themen wie Rassismus und Ausgrenzung behandelt werden, bedarf es der Bereitschaft, diese Komplexität und Gleichzeitigkeit von Erfahrungen mit den Hörer:innen zu teilen. Der Podcast folgt einem Zeitstrahl, der in den 1960er-Jahren beginnt und durch die Dekaden in die Gegenwart reicht. Demgemäß wollte ich mit Menschen aus verschiedenen Generationen ins Gespräch kommen, die ihre eigenen Erlebnisse des jeweiligen Jahrzehnts teilen können. Die Unmittelbarkeit ihrer Erzählungen ist für mich ganz wichtig. Um dies zu gewährleisten, sind manche Folgen auf Türkisch und andere auf Deutsch, wenngleich Transkripte und Übersetzungen das Gesagte allen zugänglich machen.
Warum haben Sie sich mit dem Podcast für ein auditives Medium entschieden?
Deutsch-türkische Erinnerungen werden meines Erachtens nach eher in einer oralen Geschichte erhalten. So berichten Geschichtsbücher in der Schule kaum oder gar nicht darüber. Die mündliche Natur ebenjener Erinnerungen wollte ich genau in dieser ursprünglichen Medialität auffangen. Der Podcast bietet mir dazu die Möglichkeit und hat überdies den Vorteil, sich für die folgenden Generationen zu erhalten. Die Stimmen von Menschen zu hören, nicht einfach nur ihre Worte zu lesen, hat eine gewaltige Intensität und Gegenwärtigkeit. Das Dialogische des Podcasts soll auch bei den Hörer:innen die Bereitschaft zum transkulturellen Austausch ankurbeln. Nicht zu verkennen ist zudem der Stellenwert des Mediums. Generationsübergreifend erfreuen sich Podcasts aufgrund ihrer mobilen Verfügbarkeit großer Beliebtheit. Auch Erinnerungenschaften lässt sich ganz einfach über den Anbieter Spotify anhören.
Wie muss man sich das Setting vorstellen, in dem die Aufzeichnungen erfolgten?
Um einen ungezwungenen Dialog zu gewährleisten, braucht es eine entspannte Atmosphäre. So frage ich meine Gesprächspartner:innen vorab, wo sie sich am wohlsten fühlen. Natürlich muss auch die Soundqualität an den jeweiligen Orten genügen, sodass Innenräume mit geringer Geräuschkulisse hoch im Kurs sind. So habe ich etwa in Folge 1 das Ehepaar Serpil und Naci Palaz in ihrer Wohnung am Marmarameer besucht und in Folge 3 über neue Formen der Arbeit Irfan Gündoğan in seinem Büro getroffen. Dazu trinken wir Çay (türkischen Tee), der für Entspannung sorgt und zugleich die Zunge löst. Um das auditive Erlebnis des Podcasts auch visuell zu erfahren, fertigt meine Kollegin Marie Konrad digitale und analoge Fotografien an, die wie der Podcast auf der Webseite von Maviblau e.V. zu finden sind. Sie zeigen neben den Podcastteilnehmer:innen das jeweilige Setting sowie Impressionen, die ein Gefühl für deren Lebenswelt geben und die Hörer:innen in Bildern auf die Inhalte einstimmen.
Warum ist das Erinnern für Sie so wichtig?
Die Erinnerungen, die ich in meinem Podcast teile, sind bis dato von der deutschen Geschichtsschreibung vernachlässigt worden. Postmigrantische Erfahrungen werden immer noch nicht als Teil der deutschen Erinnerungskultur begriffen, sondern als ein für sich stehender Speicher einer Parallelgesellschaft. Genau damit will ich aufräumen, indem ich vor allem Menschen ihre Erfahrungen teilen lasse, die etwa über die wenig aufgearbeiteten 1960er-Jahre und 1970er-Jahre sprechen. Da musste ich wirklich von 0 auf 100 recherchieren. Zum Glück hatte ich die Unterstützung vom gut vernetzten Verein, der mir passende Kontakte vermitteln konnte. In dem Podcast gibt es immer wieder Momente, in denen auffällt, dass sich noch nicht genug getan hat und alte Muster und Rassismen fortbestehen. Demnach richtet sich der Podcast an alle Menschen und kann hoffentlich dazu beitragen, dass Erinnerungskultur wie selbstverständlich postmigrantische Stimmen beinhaltet.
Interview: Richard Müller, Kunsthistoriker in Berlin
Puppets 4.0
Ein imaginäres Museum im Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst
„Mister Lügenmaul Churchill“ ist gerade das Objekt der Woche: Langsam dreht sich im imaginären Museum Puppets 4.0 die Propaganda-Handpuppe aus dem Zweiten Weltkrieg als 3D-Animation. Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp) hat seine umfangreiche Sammlung an Puppen mit einem photogrammetrischen Verfahren als 3D-Modelle erfasst. Seit letztem Jahr präsentiert man die Figuren aus aller Welt, die auf die Sammlung des Theaterwissenschaftlers und Verlegers Fritz Wortelmann (1902 – 1976) zurückgeht, für die Besucher als immersives Erlebnis mithilfe von VR-Brillen. „Politisches Puppentheater kann zu einer gefährlichen Waffe werden!“, erkannte der Sammler Wortelmann, der sich zeitlebens der Verbreitung der Puppenspielkunst widmete. Den zigarrerauchenden Premierminister hat Harro Siegel (1900 – 1985), Marionettenspieler und Dozent, entworfen. Von 1938 – 1943 war er als Künstlerischer Leiter am Reichsinstitut für Puppenspiel tätig und galt als führender Puppenspieler der Nationalsozialisten. Siegel gestaltete eine ganze Serie von massenhaft angefertigten Puppen aus Holz oder Labolit, die überwiegend für Laienspieler gedacht waren. Aber auch bei der Unterhaltung von Soldaten an der Front dienten Puppen der Kriegspropaganda.
Handpuppen, Stabfiguren, Masken, Schattenfiguren aus Europa, Asien, Australien und Afrika: In fünf virtuellen Räumen sind bei Puppets 4.0 beispielweise die verschiedenen lustigen Figuren weltweit zu erkunden, auf einem Basar dreht sich alles um das indonesische Figurentheater, ein Raum informiert über historisches Handpuppenspiel ab 1900, die erwähnten Puppen als NS-Propagandamittel oder das künstlerisches Handpuppenspiel von Lore Lafin (1903 – 1999). Mit dabei als auskunftsfreudiger animierter Guide ist der Sammler Wortelmann höchstpersönlich. Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst hat aus der Not eine Tugend gemacht. Nachdem der eigentliche Plan, eine eigene Ausstellung der Sammlung in Bochum zu etablieren, an der Finanzierung scheiterte, entwickelte die Leiterin Annette Dabs zusammen mit dem Startup digifactura eine virtuelle Ausstellung. „Ein toller Experimentierraum öffnete sich für uns“, berichtet Projektleiterin Mareike Gaubitz. „Von Anfang an war uns klar, dass wir mit der virtuellen Version auch ein neues Publikum erreichen können.“ Zusätzliches Videomaterial oder der vertiefende Audioguide machen das immersive Erlebnis komplett. Mit Puppets 4.0 ist das dfp nun bundesweit auch unterwegs zu Schulen oder Festivals. „Für viele ist dieser Museumsbuch das erste virtuelle Erlebnis und entsprechend aufregend“, sagt Mareike Gaubitz vom dfp. „Manchmal gibt es, gerade im ländlichen Raum, schon noch Berührungsängste.“ Aber gerade, weil es eben kein actiongeladenes Game, sondern eine museale Präsentation sei, falle es den Besuchern leichter, die Schwelle ins VR-Erlebnis zu überwinden. KULTUR.GEMEINSCHAFTEN ermöglichte, neben der Anschubfinanzierung für eine Podcast-Reihe des dfp, jetzt die Erstellung der englischen Version von Puppets 4.0 „Gerade organisieren wir die erste Anfrage aus Finnland“, erzählt Mareike Gaubitz, die sich auf die internationale Perspektive für die Bochumer Sammlung freut.
Text: Johannes Fellmann
Historisches Museum Wallerfangen
Virtual Wallerfangen – Mit den Museumsbesuchern durch das nahe gelegene Römische Azuritbergwerk laufen? Das virtuelle 3D-Modell macht es möglich
Klick. Treppe. Klick. Links. Klick. Zoom. Noch erkennt man den Text auf der Informationstafel nicht. Klick. Ranzoomen. Sofort ist die Schrift klar zu lesen. Uns offenbart sich die Geschichte hinter den floralen Tellern, Tassen und Suppenschüsseln aus dem Hause der berühmten Keramikfabrik Villeroy & Boch. Schon 1791 begann die Familie Villeroy mit der Produktion von edlem Steingut im heutigen Wallerfangen. Klick. Bewegt man sich die Treppe des historischen Museums Wallerfangen hinunter, finden wir uns zwischen einem bis zu 40.000 Jahre alten Schaber aus Quarzit eines Neandertalers, Pfeilspitzen der bäuerlichen Bevölkerung des 5. Jahrtausend v. Chr. und dem Schmuck der Keltenfürstin von Wallerfangen wieder. Der goldene Ringschmuck zeugt von dem Stellenwert, die der Ort im Saarland um 500 v. Chr hatte. Doch irgendwas scheint anders an diesem Museumsbesuch. Wir sind gar nicht in Wallerfangen. Mit wenigen Klicks bewegen wir uns durch die regionale Geschichte der Gemeinde, von der Besiedlung der Region in der Steinzeit bis zur Gegenwart. Alles vom heimischen Sofa aus.
Im Rahmen der Förderung von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN gelang dem Historischen Museum Wallerfangen der Sprung in die Zukunft. Nachdem das 1983 gegründete ehemalige „Heimatmuseum“ schon 2015 grundlegend renoviert wurde, steht jetzt das Projekt „Digitale Zukunft“ im Fokus. Die Dauerausstellung über die regionale Geschichte und der umliegende römische Azuritbergbau werden nach und nach digitalisiert. Die Stollen sind für die Gemeinde Wallerfangen von historischer Bedeutung. In den ersten Jahrhunderten nach Christus gewannen die Bergleute aus dem 65 Meter langen unterirdischen Gang das äußerst seltene blaue Kupfermineral Azurit. Um auch diesen Teil der Geschichte im Museum erlebbar zu machen, entsteht aktuell ein 3D-Modell, das die schwer zugänglichen Stollen leicht begehbar macht. Die Idee dahinter: den Besuchern alles, was nicht ins Museum geholt werden kann, dennoch verfügbar zu machen.
Eines der Projekte ist bereits abgeschlossen: der virtuelle Museumsrundgang. Wer den Weg nach Wallerfangen gefunden hat und bereit ist, in eine Welt der Computerspielästhetik einzutauchen, kann sich die futuristischen VR-Brillen überziehen und durch die Ausstellung „laufen“. „Die technisch-spielerische Komponente bringt einen überraschenden Twist mit in den Besuch“, sagt Stefan Michelbacher, Projektleiter „Digitale Zukunft“. Schon für die Idee des digitalen Museumsbesuchs hat der Verein für Heimatforschung, der sich um die Institution kümmert, großen Zuspruch aus der Gemeinde bekommen. „Jetzt wo es umgesetzt ist, sind die Kinder ganz wild darauf, die digitalen Möglichkeiten auszuprobieren“, erzählt Amateurhistoriker Stefan Michelbacher, der im wirklichen Leben Technischer Betriebswirt eines saarländischen Stahlunternehmens ist. „Das freut uns, denn ein historisches Museum ist normalerweise eben nicht Walt Disney.“ Mit speziellen 360-Grad Kameras und hochspezialisierter Software haben die ehrenamtlichen Mitglieder gemeinsam mit dem Fotospezialisten Andreas Lesch das virtuelle 3D-Modell des historischen Museums erarbeitet. Was für ein kleines ländliches Museum schon ein riesiger Schritt ist, sei nur der Anfang von allem. Das ist für Michelbacher und seine Kollegen ganz klar, denn die technischen Möglichkeiten schießen gegenwärtig aus dem Boden. Doch mit der Umsetzung kommen auch die Schwierigkeiten. Die digitale Ergänzung des Angebots ist für das Museum keine kleine Herausforderung, und auch die Corona-Pandemie habe die Digitalisierung nicht unbedingt beschleunigt, lässt Michelbacher durchblicken. „Bei so komplexen technischen Prozessen wie dem 3D-Scan waren wir bereits in der Beschaffung von Schlüsseltechnologien abhängig. Zeitweise mussten wir ein halbes Jahr auf einzelne Kameraobjektive warten, um weiterzuarbeiten.“ Das Durchhalten hat sich gelohnt und der Zuspruch für die modernen Stationen ist groß. Die anfängliche Skepsis einiger Mitarbeiter, dass als Folge des virtuellen Spaziergangs die echten Museumsbesucher ausbleiben, ist verflogen. Die Technik ist Ergänzung, keine Konkurrenz. Da sind sich mittlerweile alle einig.
Zwei andere Vorhaben liegen Michelbacher und den anderen Mitarbeitern besonders am Herzen. Wallerfangen ist mit der höchsten Dichte an Bronzefunden in Deutschland gesegnet – allein beim Hortfund „Eichenborn“ von 1850 wurden 67 vergrabene Bronzeobjekte aus dem 9. Jhd. v. Chr. geborgen. Das machte Wallerfangen zwar historisch bedeutsam, der kleine Ort hatte aber keine Möglichkeit, die Bronzestücke selbst auszustellen. So wurden viele der wertvollen Funde verstreut, zum Beispiel nach Paris: Das Musée d’Archéologie Nationale in Saint-Germain-en-Laye ersteigerte 1868 den gesamten Eichenborn-Fund, die Stücke schienen für immer verloren. Doch das Projekt „Fundstücke im Exil“ holt das kulturelle Erbe jetzt zurück. Aber nicht etwa in echt, sondern rein digital. „Die Exponate stehen im Rheinischen Landesmuseum in Bonn und auch im Archäologischen Museum in Paris. Jetzt machen wir sie durch 3D-Scans wieder erfahrbar. Ein Bronzeschwert am Bildschirm zu drehen und von allen Seiten zu sehen, ist spannender als auf einem klassischen 2D-Bild“, freut sich Michelbacher. Hinzu komme, dass so der Austausch zwischen dem Standort in Wallerfangen und internationalen Museen gestärkt werde.
Das andere Herzensprojekt des digitalen Museums ist das virtuelle Modell der Azuritbergwerke, dem historischen Alleinstellungsmerkmal der Region, wie Michelbacher betont. „Die engen und niedrigen Gänge der Stollen sind so konzipiert, dass sie leider nicht für neugierige Besucher ausgelegt sind.“ Eine andere Lösung musste her. Gemeinsam mit dem Bergbau-Museum Bochum, das die Erforschung des römischen Azuritbergbaus zu seiner Kernaufgabe zählt, wurde die Begehung des Stollens „Bruss“ geplant. Ausgestattet mit Helmen, Gummistiefeln, Handscheinwerfern und 360-Grad Kameras machten sich also Stefan Michelbacher und Andreas Lesch selbst auf den Weg in die Tiefe des Berges. Möglichst jeder Winkel und jeder Kriechgang, jedes Gesenk und jeder in den Stollen geschlagene Pfeiler wurden abgefilmt. Das aus den Bildern und Videos zusammengesetzte 3D-Modell ermöglicht nun doch eine detailreiche Tour unter Tage. Schaut man durch die VR-Brille, meint man fast noch etwas blaues Kupfermineral an den Wänden des Stollens schimmern zu sehen.
Text: Leonie Lotti Soltys
Incarc.org
Ein inklusives Archiv für Theater-, Film- und Medienprojekte in Gebärdensprache und Lautsprache
Deutschland hat erst spät, in den 2000er-Jahren begonnen, sich für Inklusion zu engagieren. Auch erst damals wurde die Deutsche Gebärdensprache als vollwertige Sprache offiziell anerkannt. Als die Regisseurin Michaela Caspar gemeinsam mit Till Nikolaus von Heiseler im Jahr 2009 Possible World e.V. gründete, um u. a. im „hörenden“ Theaterbereich das Bewusstsein für Gehörlosigkeit und Gebärdensprache zu entwickeln, „fiel das deswegen schnell auf fruchtbaren Boden“, berichtet Michaela Caspar. Viele Stoffe haben die inklusiven Theaterteams seitdem auf die Bühne gebracht, taube und hörende Performerinnen und Performer zusammen, von Frank Wedekinds Klassiker „Frühlings Erwachen“ über den Medea-Mythos, Shakespeares „Sommernachtstraum“ bis zum aktuellen Projekt „Vögel“ nach der antiken Komödie von Aristophanes, uraufgeführt 414 v. Chr. In der rasanten Inszenierung, die in Kooperation mit dem Ballhaus Ost in Berlin entstand, prallen taube und hörende Welt aufeinander: Wie wird Wirklichkeit wahrgenommen, welche Bildersprachen sind universell und wie entstehen neue Kommunikationswege? Michaela Caspar arbeitete zum ersten Mal bei „Vögel“ mit Giuseppe Giuranna zusammen, einem Pionier der gebärdensprachlichen Kunstform Visual Vernacular, die ausschließlich in der Taubenkultur entstanden ist. Und so fließt diese, in der tauben Welt so populäre „Spieltechnik“, in die Inszenierung ein, ebenso wie Gebärdensprache, Lautsprache, Schrift, Sound und Film. Auf Incarc.org entsteht mit Unterstützung von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN jetzt ein digitales Portal für Theater-, Film- und Medienprojekte in Gebärdensprache und Lautsprache. Es dokumentiert die Inszenierungen, will aber auch eigens entwickelte Instrumente der inklusiven Theaterarbeit international verbreiten: So entstand für die Arbeit am „Sommernachtstraum“ ein Videogebärdensprachbuch, das zu den performten Szenen den Text in eine Art visuell-schriftlichen Partitur verarbeitet (in Deutsch und Englisch, mit teilweise notierten Glossen). So werden die übertragenen Texte anderen Gruppen zugänglich gemacht, mit denen diese dann gut am Stoff weiterarbeiten können. Diese Notation ist notwendig, da die Gebärdensprache beispielsweise eine völlig andere Grammatik nutzt als die Lautsprache. Bei Shakespeares „Sommernachtstraum“ hat sich Regisseurin Caspar, die selbst nach einem Hörsturz schwerhörig ist und so zur inklusiven Arbeit fand, mit der Choreographin Rajyashree Ramesh und „The progressive wave“ zusammengetan. Ramesh ist eine Expertin für den indischen Tanz Bharatanatyam, einer der acht klassischen Tanzstile in Indien. Diese Bewegungstheaterkunst nutzt codierte Handformen („Mudras“) sowie eine intensive Bewegungslehre, die Caspar bei der Weiterentwicklung ihrer Bühnensprache inspirierten. Die Regisseurin hofft nun, mit dem neuen multimedialen Portal den Austausch auch international zu stärken und mehr Schauspielerinnen und Schauspieler für das inklusive Arbeiten zu begeistern. Sie will vor allem für die Ausbildung des dringend benötigten Nachwuchses werben. „Noch sind die Zugänge aber viel zu verschlossen, es gibt beispielsweise keine staatliche Schauspielausbildung für Gehörlose“, sagt Caspar und fügt hinzu: „Die 30 professionellen gehörlosen Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland sind gefragt wie nie.“ Mit ihren Inszenierungen werden die Gruppen von Possible World seit 13 Jahren deutschlandweit zu Gastspielen eingeladen. Die digitalen Inszenierungen in hervorragender Videoqualität auf Incarc.org machen jedenfalls sofort Lust auf einen Live-Besuch der inklusiven Performances.
Text: Johannes Fellmann
Handiclapped – Kultur Barrierefrei
Inklusion rockt!
Eine Plattform für Solo-Künstler:innen und Orchester, für Hobbymusiker:innen und Profis, eine Plattform für inklusive Musik. Der Verein „Handiclapped – Kultur Barrierefrei“ arbeitet derzeit am Aufbau der ersten Plattform für inklusive Bands und Musikprojekte: „Pinc Music – Plattform inklusiver Musikprojekte“. Gefördert wird der Aufbau der Webseite durch das Programm KULTUR.GEMEINSCHAFTEN von Bund und Ländern. Orchester, Chöre, DJs oder Solokünstler:innen können sich auf der Webseite eintragen und dort ihre Projekte vorstellen und bewerben. Die Freischaltung der Plattform für inklusive Bands und Solo-Musiker:innen mit formal anerkannter Behinderung ist für das erste Halbjahr dieses Jahres geplant, zu erreichen ist sie dann unter www.pincmusic.net. Bislang haben sich bereits 47 Bands aus 14 Bundesländern auf der Plattform eingetragen.
Dank der Förderung durch KULTUR.GEMEINSCHAFTEN konnte der Verein Handiclapped Software und Equipment zum Aufbau der Online-Plattform und zur Produktion von Video- und Bildmaterial erwerben. Anschließend filmte der Verein Konzerte inklusiver Bands, führte zahlreiche Interviews, machte Aufnahmen von einem Workshop zu inklusiver Musik und einem Fachkongress. Das Videomaterial füllt die Online-Plattform mit Inhalten und zeigt, wie das gemeinsame Erleben von Live-Musik Menschen verbindet. Im Rahmen der Dreh- und Schnittarbeiten wurden zudem zwei Mitarbeiter:innen von Handiclapped im Umgang mit dem Equipment geschult – ein wichtiger Wissenszuwachs für den Verein.
Da die Plattform später in englischer Sprache internationalisiert werden soll, wählte der Verein Handiclapped einen englischen Namen „Pinc Music“. Beim Design der Plattform wurde besonders auf Barrierefreiheit und die Verwendung von Texten, erstellt nach Regeln der Leichten Sprache, geachtet, um so allen den Zugang zu ermöglichen. Musiker:innen und Bands tragen ihre Projekte selbst auf der Plattform ein – für die Projektmitarbeiter:innen eine besondere Herausforderung, da auch das auszufüllende Formular barrierefrei sein sollte.
Herzstück der neuen Plattform wird ein Promo-Video für inklusive Bands auf der Startseite. Neben eigenen Drehaufnahmen von Handiclapped steuern einige Bands Material für das Video bei, um so die Vielfalt inklusiver Musik möglichst breit abzubilden. Zusätzlich arbeitet Handiclapped an der Produktion von Promo-Videos für Livestreams inklusiver Konzerte und inklusiver Online-Partys. Das Ziel ist es zudem, alle Bands und Musiker:innen auf pinc music mit einem kurzen Videointerview und Fotos vorzustellen. So können sich Veranstalter:innen ein umfassendes Bild von den angebotenen Projekten machen und Handiclapped hofft, dass so die Hemmschwelle einer Kontaktaufnahme und Buchung sinkt.
Text: Richard Müller
Virtual Concerts e.V.
Die Naht – ein VR180-3D Performance-Film
Die Komponistin und Konzertdesignerin Jelena Dabic hatte sich schon seit 2019 intensiv mit neuen, hybriden Formaten beschäftigt. Die Gründerin von Silk::Road, einem multimedialen und immersiven Festival im Hamburger Oberhafen, interessiert sich dafür, traditionelle Kulturformate wie ein Konzert mit neuartigen, multimedialen Angeboten zu verbinden. „Das neue Publikum ist mit Games aufgewachsen und in virtuellen Welten zuhause. Gleichzeitig haben wir in der Musik ein Publikum, das noch das Live-Erlebnis sucht. Ich wollte Brücken schaffen, da erschien mir die Extended Reality am besten geeignet.“ Für die Performance „Die Naht“ entwickelte Dabic zusammen mit Regisseur Christian Striboll einen doppelten Raum, in dem der Pianist Marcelo Gama und sieben Performerinnen und Performer sowohl live zu erleben waren als auch in einer 3D-Projektion agierten. Für Publikum wie Künstlerinnen und Künstler eine völlig neue Erfahrung: „Sich parallel auch in 3D zu sehen war ungewöhnlich, aber nur kurz befremdlich oder beängstigend. Wir hatten ein sehr gut gemischtes Publikum“, freut sich Jelena Dabic. Für die Komponistin kam die Förderung durch KULTUR.GEMEINSCHAFTEN deshalb gerade zum richtigen Zeitpunkt. „Wir brauchen innovative Formate, um altes und neues Publikum gemeinsam anzusprechen“, stellt Dabic fest, die schon mitten in der Entwicklung eines neuen Projekts im Rahmen ihrer Reihe Virtual Concerts ist – auch gefördert durch die KULTUR.GEMEINSCHAFTEN. Für die letztjährige Performance „Die Naht“, die übrigens auch weiterhin über die VR-Datenbrille erlebbar ist, ging es um eine musikalische Reise entlang der Donau, die von Deutschland aus durch Europa bis nach Bulgarien fließt. Sieben Näherinnen aus den von der Donau durchflossenen Ländern Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien und Bulgarien fertigten während der Dauer der Aufführung ein traditionelles Kleidungsstück an, das schließlich der anfangs unbekleidete Pianist anzog. Die Donau symbolisiert damit als eine Art Naht die verbindenden Elemente der Länder. „Die eigene Identität kann man nicht für sich behalten, sondern sie fließt mit anderen zusammen“, erklärt Jelena Dabic die Grundidee ihrer musikalischen Grenzüberschreitung. Dafür komponierte sie die „Donau-Suite“ mit Inspirationen aus traditionellen Volksstücken und Kinderliedern, der Soundtrack der Performance wird immer wieder überlagert vom Rattern der Nähmaschinen. „Als europäische Handelsroute verbindet die Donau und gleichzeitig trennt sie Menschen, Nationen und Ideologien voneinander. Ein Europa heißt auch viele Europa. Gewachsene Pluralität und Verschiedenartigkeit. Wir, in unserer Unterschiedlichkeit, sind gerade deshalb Eins“, erklärt Regisseur Christian Striboll und ergänzt: „Für mich ist Europa kein Flickenteppich, sondern ein melodisches Kleidungsstück.“
Text: Johannes Fellmann