Künstler, Bürger, Könige

Er habe sich jetzt „entschlossen, in jährlichen Sommerreisen eine größere Sammlung von den meisten in mannigfachen Fächern hervorragenden Persönlichkeiten zu begründen und zu gleicher Zeit nach mehreren Richtungen hin die berühmtesten Baulichkeiten, Monumente und Nationaltypen aufzunehmen“, schrieb der Lithograph und frühe Fotograf Hermann Biow am 9. Juni 1846 an den Leipziger Verleger T. O. Weigel. Derartige konzeptionelle Überlegungen waren neu, ungewöhnlich weitreichend, und seine Porträts u. a. von Alexander von Humboldt, Christian Daniel Rauch und König Friedrich Wilhelm IV. (heute alle im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) gehören neben den Bildnissen von Parlamenta­riern der Frankfurter Paulskirche zu den besten Darstellungen aus den frühen Jahren der Fotografie. Gleichzeitig sind Biows Geschäftigkeit und sein erwiesenes Können beispielhaft für die enormen Kräfte, die die Erfindung Daguerres freisetzte und die zu einer komplexen Geschichte der Fotografie im deutschen Sprachraum führten.

Vielleicht können wir Biows Plan dahingehend interpretieren, dass er mit dem Medium der Fotografie eine gewisse umfassende nationale Repräsentation herstellen wollte. Wir kennen nur wenige Äußerungen von Fotografen aus dieser Zeit, in denen Absichten und Pläne geäußert wurden. Wir kennen aber repräsentative Werke wie z. B. Hermann Krones Städtealbum oder August Lorents Bilderatlas von Denkmalen des Mittel­alters aus Württemberg bis hin zu repräsentativen Ansichtswerken z. B. von Berlin als Hauptstadt Preußens und des Deutschen Reichs. Die Fotografie-Produktion durchzog häufig der Gedanke einer national oder zumindest territorial geschlossenen Repräsentation, die latent mit nationalen Sehnsüchten assoziiert werden kann. Erst um 1900 forderte der Hamburger Kunsthallen-Direktor Alfred Lichtwark im Zusammenhang mit der zunehmenden Anerkennung der Fotografie als künstlerisch bedeutendem Sammlungsgut: „Und wird nicht von heute ab das Material gesammelt, so ist es nicht mehr vorhanden, wenn die immer einen Posttag zu spät aufwachende Wissenschaft sich danach sehnt.“

Joseph Albert, Der Bildhauer Herrmann Oehlmann und ein Unbekannter stellen den Wettlauf des Igels mit dem Hasen dar, München 1862; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert
Joseph Albert, Der Bildhauer Herrmann Oehlmann und ein Unbekannter stellen den Wettlauf des Igels mit dem Hasen dar, München 1862; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert

Sein Wirken zur Förderung der künstlerischen Amateurfotografie durch Ausstellungen, Publikationen und Sammlung hatte zunächst eine gewisse Breitenwirkung: Gewerbe- und Kunstmuseen z. B. in Hamburg, Krefeld, Darmstadt, Leipzig und Dresden begannen Fotografien als Kunst- und Kulturgut zu sammeln. Aber kaum eine Initiative wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fortgesetzt. Dann griffen in den Jahren der Weimarer Republik neue Initiativen wie die von Carl Georg Heise in Lübeck oder von Curt Glaser in Berlin, um Sammlungen künstlerischer Fotografien aufzubauen, bis durch NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg auch diese Anfänge abbrachen.

Mühsam entwickelte sich nach 1945 ein neues öffentliches Interesse an der Fotografie. Wollte man Fotografien aus der Geschichte und/oder der Gegenwart sehen, musste man zur Industriemesse Photokina nach Köln kommen. Das Sammeln von Fotografien wurde mit ganz wenigen Ausnahmen der Privat­initiative Einzelner überlassen.

Deshalb würde der öffentliche Besitz an Kulturgütern der Fotografie heute eine traurige Bilanz ziehen, wenn es nicht die privaten Sammler gegeben hätte, mit denen schlussendlich allseitig befriedigende Übereinkünfte über den Verbleib ihrer Sammlungen getroffen worden sind. Beste Beispiele für diese Entwicklung sind die Ankäufe der Sammlungen von L. Fritz Gruber und Robert Lebeck für die Museen der Stadt Köln 1977 und 1994, die Erwerbung der Sammlung Erich Stenger 2005, als dominanter Teil der Sammlung Agfa, für das Museum Ludwig in Köln, und der Kauf der Sammlung Wilfried Wiegand für das Frankfurter Kunstmuseum Städel im Jahr 2011 (Arsprototo 2/2011).

Eine solche überaus wunderbare Übereinkunft ist kürzlich zwischen dem umtriebigen und äußerst kenntnisreichen Sammler Dietmar Siegert und dem Münchner Stadtmuseum getroffen worden: Das Museum erhält dank der Förderung der Kulturstiftung der Länder und anderer Geldgeber dessen so bezeichnete Deutschland-Sammlung, die Fotografien aus der Zeit von 1840 bis 1890 und damit vom Biedermeier bis zur Gründerzeit enthält. Diese Sammlung ist ein Bilderschatz von ganz einzigartiger Qualität. Sie umfasst die Themen Porträt, Naturstudien, Topographie, politisches Ereignis, Kunst und Theater sowie Architektur. Nahezu alle wichtigen in- und ausländischen Fotografen sind in dieser Kollektion vertreten.

Alois Löcherer zugeschrieben, Der Münzmeister an der Münchner Münze mit seiner Familie vor dem gemalten Hintergrund der Stadt Speyer, um 1855; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert
Alois Löcherer zugeschrieben, Der Münzmeister an der Münchner Münze mit seiner Familie vor dem gemalten Hintergrund der Stadt Speyer, um 1855; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert

Sensationell ist das Porträt des Dichters, Weltreisenden und Revolutionärs Harro Harring, welches der Daguerreotypist Carl Ferdinand Stelzner 1848 in Hamburg herstellte. Die Geschichte dieses verwegenen Mannes, der C. D. Friedrich, Heinrich Heine und Lord Byron kannte, der politisch zu radikalen Positionen neigte und – von den revolutionären Bewegungen seiner Zeit enttäuscht – sich 1870 das Leben nahm, wäre ohne dieses Porträt gar nicht entdeckt geworden. Das Repräsenta­tionsbedürfnis eines Münchner Münzmeisters kommt in einem Familienbildnis vor Stadtkulisse treffend zum Ausdruck, während sich der gelehrte Naturwissenschaftler Justus von Liebig im wohl inszenierten Einzelbild selbstbewusst darzustellen verstand. Das sind nur drei Beispiele aus dieser reichhaltigen Bildnis-Sammlung, die Künstler, Bürger, Schauspieler und Könige umfasst. Jede Fotografie besticht durch eine oft hervorragende Qualität. Die berühmtesten Fotografen der Zeit wie Carl August von Steinheil, Alois Löcherer, Franz Hanfstaengl und Joseph Albert sind mit besten Aufnahmen vertreten. Wie sehr das Anschauungsmaterial der Fotografie im 19. Jahrhundert von Künstlern in Anspruch genommen wurde, belegt die umfassende Sammlung von Naturstudien, die Georg Maria Eckert fotografiert hat. Und wie umfangreich das Museum von kunstgewerb­lichen Gegenständen des Freiherrn von Minutoli in Liegnitz/Schlesien gewesen ist, belegen einzig und allein die Fotografien, die Ludwig Belitski in bestechender Bildqualität herstellte, bevor die Sammlung verkauft und aufgelöst wurde.

Fast alle Städte des deutschspra­chigen Raums sind mit herausragenden Bildern vertreten: Eine Ansicht zeigt den großzügigen Blick zur Feldherrenhalle und Theatinerkirche in München aus der Zeit um 1854 von Franz Hanfstaengl, viele großformatige Fotografien von Georg Koppmann die engen Wohnviertel in der Hafenstadt Hamburg, die bald der Sanierung zum Opfer fallen sollten, und die preußische Hauptstadt ist mit ihrem schönsten Platz, dem Gendarmenmarkt, in einer Aufnahme von Leopold Ahrendts vertreten. Die Metropolen und Provinzen des deutschen Sprachraums sind in dieser Sammlung der vielen spektakulären Aufnahmen in ihrer Bausubstanz und oft auch atmosphärischen Ausstrahlung glänzend dokumentiert.

Der dänisch-deutsche Krieg von 1864 und der deutsch-französische Krieg von 1870/71 sind in frühen Fotografien vertreten. Bedenkt man die ungeheuren technischen und logistischen Schwierigkeiten der damaligen Fotografie, dann erschließt sich die Bedeutung des Widmungs-Albums des Fotografen Friedrich Brandt aus dem Krieg von 1864 als eine wirkliche Sensation. Spannend und selten sind auch die Aufnahmen von Stationen des Kriegsgeschehens in Frankreich 1870/71, die der Verlag Friedrich Bruckmann verlegt hat. Sinnträchtig wird das militärische 19. Jahrhundert mit Manöverbildern der Brüder Franz und Oscar Tellgmann aus Eschwege abgerundet, aber auch mit faszinierenden Bilddokumenten von den Siegesfeiern nach dem Sieg von Sedan über das Reich Napoleons III. Dass der Fotograf Franz Richard mit einem verwegenen Gerüst in schwindelnder Höhe die Heidelberger Schlossruine aufzunehmen trachtete, belegt eine sensationelle Fotografie aus den frühen 1860er Jahren. Wie am Kölner Dom nach Jahrhunderten der Stagnation mühsam weitergebaut wurde, dokumentieren die Aufnahmen von J. F. Michiels und besonders von Charles Marville aus den 1850er Jahren, als er das Mappenwerk „Les Bords du Rhin“ (1853) vorbereitete. Hermann Emden ist mit seinem Folianten über den Dom zu Mainz, Jakob August Lorent mit herausragenden Fotografien des Klosters Maulbronn vertreten.

Franz Hanfstaengl, Der Chemiker Justus von Liebig, München 1856; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert
Franz Hanfstaengl, Der Chemiker Justus von Liebig, München 1856; Münchner Stadtmuseum © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Siegert

Diese Aufzählung möge ausreichen, um diesen ganz besonderen Bilderschatz zu charakterisieren und neugierig auf diese einzigartige Sammlung zu machen. Dietmar Siegert hat eine komplexe Sammlung zur Kunst- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zusammengetragen. Viele Bilder sind von ausgezeichneter Qualität und stammen aus der besten Zeit der Fotografie, bevor höhere Auflagen hergestellt wurden und ein zunehmend inflationärer Gebrauch des Mediums einzusetzen begann. Diese Bilder dokumentieren die Kunst- und Kulturgeschichte des spannenden 19. Jahrhunderts in besonderer Anschaulichkeit und sie verweisen auf traditionelle, aber auch neue Sichtweisen und Gebrauchsformen der Fotografie, des ältesten der neuen Medien, deren Erfindung gerade erst am 19. August 1839 in Paris euphorisch begrüßt worden war.

Als vor wenigen Jahren das Konvolut „Lebende Bilder“ mit Märchendarstellungen aus Münchner Künstlerkreisen auf dem Markt erschien, war das Erstaunen ob dieser gänzlich unbekannten Bilderfolge groß. Nun befindet sich dieses Mappenwerk im Bestand Siegert als ganz einzigartige Bilderserie, die dem Münchner Hoffotografen Joseph Albert zugeschrieben werden konnte. Kein Museum hätte damals mitbieten können, aber der private Sammler Dietmar Siegert konnte es und hatte Erfolg. Jetzt können wir uns alle mit dem Münchner Stadtmuseum freuen, dass dieser Bilderschatz sicher im Museum angekommen ist. Denn diese Fotografie-Kollektion repräsentiert nicht nur in vielen Facetten den deutschsprachigen Raum von 1840 bis 1890, sie ist eine Sammlung von nationaler Bedeutung, die in vergleichbarem Umfang, in der besonderen Vielseitigkeit und außerordentlichen Qualität in keinem Muse-um der Bundesrepublik zu finden ist.

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Wüstenrot Stiftung, Hypo Kulturstiftung