Konzept als Kunst

Liebe Leserin, lieber Leser,

Kunstgeschichte ist, wie jede Geschichtsschreibung, eine Hilfskonstruktion. Sie versucht zu ordnen, zu sortieren, zu gruppieren; sie wählt aus und scheidet aus, sie entdeckt und vergisst. Namenlosem gibt sie Namen. Das Ergebnis sind die Ismen, die wir alle kennen, und von denen wir glauben, sie bauten aufeinander auf, entwickelten sich linear. Das eine, so scheint es, folgt auf wie durch das andere: Strenges folgt stets auf Bewegtes, Klassizismen auf Barockes, Realismen auf Idealismen, Avantgarde auf Rückbesinnung, die ihrerseits wiederum als Avantgarde firmiert. Und in der Tat ist viel von all dem aus der Rückschau richtig: Die Dinge sortieren sich.

Doch dann schlug mit dem Zweiten Weltkrieg gleichsam die Stunde Null – auch für diese Form der Kunst und Kunstgeschichte. 1945 schien alles aufgehoben. Auf das Primat des abstrakten Expressionismus und des Informel, das die Jahre nach dem Krieg bestimmt hatte, folgte die wohl radikalste Umwälzung, die das Publikum wie auch die Kunstgeschichte bis dato zu verarbeiten hatten. Jenseits von Geschmacksfragen hatte es jahrhundertelang zumindest Konsens gegeben über die Frage, was Kunst war und was nicht, was ein Bild, was eine Plastik. Doch jetzt schickte sich eine neue Generation von Künstlerinnen und Künstlern an, diesen Konsens aufzukündigen.

Alles, was früher oder später Ordnung in das Kunstschaffen und dessen Bewertung gebracht hatte, stand auf dem Prüfstand: Eigenhändigkeit und Permanenz, Ästhetik und Originalität, Bild und Abbild. Stattdessen: Flüchtigkeit statt Ewigkeit, Serialität statt Einzigartigkeit, Produkt statt Schöpfung, Weiß statt Farbe, Idee statt Werk, Idee ist Werk. Wo alles nichts war, konnte nichts alles sein: Alles war Kunst, was in den Anspruch versetzt wurde, Kunst zu sein.

Nun stand die Kunstgeschichtsschreibung – wie mancher Künstler oder Galerist – vor der Hausforderung, Begriffe zu finden für etwas, das sich nicht be­greifen lassen wollte: Minimal Art, Land-Art, Fluxus, Performance oder Happening? Konzept statt Kunst? Also „Konzeptkunst“?

Ein Zentrum dieses Umsturzes, der heute längst in sich wieder historisch ist, lag im Rheinland, wo visionäre Sammler, Museumsleiter, Kuratoren oder Galeristen früh die Zeichen dieser Zeit erkannten, oft gegen erbitterten öffentlichen Widerstand. Um so glücklicher ist die Kulturstiftung der Länder, dass es uns gelungen ist, mit der Sammlung der legendären Galeristen Dorothee und Konrad Fischer eine frühe und hochbedeutende Kollektion von Konzeptkunst für das Rheinland sichern zu können – Grund genug, den Themenschwerpunkt der Dezemberausgabe von Arsprototo einem Blick zurück auf diese Pioniere der Avantgarde zu widmen.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien eine schöne Weihnachtszeit und einen ebensolchen Jahreswechsel und empfehle Ihnen in unserer Länder-Reihe über große Sammler den Artikel über den „Ansammler“ Hans Prinzhorn, dessen heute weltbekannte Sammlung zu seiner Zeit ebenfalls die Frage aufwarf, was Kunst war und was nicht: Prinzhorn sammelte Kunst von Psychiatriepatienten.

Ihre Isabel Pfeiffer-Poensgen