Malen auf der Lebenslinie

Am Haus Kurfürstendamm Nummer 29, in dem heute eine Anwaltskanzlei, eine Investment-Gesellschaft und ein „Zentrum für Aesthetik“ ihren Geschäften nachgehen, hängt eine „Berliner Gedenktafel“ mit der Aufschrift: „Hier – im IV. Stock des Hinterhauses – lebte und arbeitete in ihrem Atelier von 1919 bis 1976 die Malerin und Graphikerin Jeanne Mammen (21.11.1890 – 22.4.1976). Im Mittelpunkt ihres Schaffens standen die realistischen Schilderungen aus dem Berliner Großstadtleben der zwanziger Jahre.“

Jeanne Mammen 1926 in Berlin
Jeanne Mammen 1926 in Berlin

Die vorbeieilenden Berliner und die Touristen, die zwischen mehr oder weniger exklusiven Einkaufsläden in den Nachbarhäusern unterwegs sind, haben wenig Sinn für solche Schilder. Selten nur sieht jemand hin, und noch seltener liest einer die Angaben. Immerhin gibt es nicht nur das Schild, sondern noch viel mehr: Das Wohn-Atelier, auf das das Schild hinweist, existiert in nahezu unveränderter Form, wird vom Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung erhalten und dient der kunstwissenschaftlichen Forschung. Zum Originalambiente gesellen sich mehrere Erinnerungs- und Ausstellungsorte. Seit 1999 gibt es den Jeanne-Mammen-Saal im Torhaus des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin-Buch mit einer Dauerausstellung von achtzehn Bildern und sieben Plastiken. Ein S-Bahn-Bogen wurde nach Jeanne Mammen benannt, und in allen Ausstellungen, Publikationen und wissenschaftlichen Arbeiten über die sogenannten Goldenen Zwanziger sind Werke Jeanne Mammens zu sehen: All diese wunderbar leichten, exakt beobachteten, mit präzisem Strich gezeichneten Frauen und Männer, die zum schillernden Bild der Zeit zwischen den Weltkriegen beigetragen haben und von denen manchen Ikonenstatus zugesprochen werden kann. Sie befinden sich in deutschen und amerikanischen Museen und in Privatsammlungen. Einige besitzt die Berlinische Galerie, die für 2017 eine große Retrospektive zu Jeanne Mammen plant – die letzte fand dort 1997 statt.

Das ist nicht zu viel der Ehre, und doch ist es erstaunlich viel Ehre für eine Künstlerin, deren Name bisher nicht zu den bekanntesten gehörte und gehört. Ob sich das ändert ist ungewiss. Sicher ist: Jeanne Mammen und ihre Kunst werden nicht vergessen werden, obwohl das Interesse der Künstlerin an der Zurschaustellung des eigenen Lebens eher gering war. „Meine Bilder sind mein Lebenslauf“, erklärte sie in ihrem einzigen Interview, das anlässlich ihres 85. Geburtstages entstand. Es gibt einige wenige Fotos von ihr und nur drei Selbstporträts. Dass kein Tagebuch existiert, ist nur konsequent, aber aus Sicht der interessierten Nachgeborenen äußerst bedauerlich.

Doch auch wenn Mammens Selbst-Zeugnisse von großer Kürze sind und sie an einer chronologischen Erzählung ihres Lebens nicht interessiert war, sind die wichtigsten Lebensstationen bekannt. 1947 hat sie ihren Lebenslauf mit einer kleinen Zeichnung beschrieben und mit dem Satz kommentiert: „Das ist mein Lebenslauf, er fing mal an und hörte noch nicht auf.“ Es könnte nur ein zufälliges Gekritzel sein, doch die Linie beschreibt das Leben der Künstlerin ziemlich präzise, so dass man ihr durchaus folgen kann. Die lange gerade, nur leicht gewellte Linie kann für die glückliche Kindheit, die Jugend in Paris und die Studienzeit in Paris, Brüssel und Rom stehen. Jeanne Mammen wurde am 21. November 1890 in Berlin geboren. Die Familie Mammen, eine wohlhabende Kaufmannsfamilie, zog 1900 nach Paris und ermöglichte den vier Kindern eine standes- und neigungsgemäße Ausbildung. Die Töchter, Jeanne und ihre zwei Jahre ältere Schwester Mimi, studierten in Paris, Brüssel und Rom Malerei. Danach begann eine hoffnungsvolle Karriere der Schwestern im eigenen Pariser Atelier – und endete schnell wieder. Denn die deutsche Familie musste 1914 Frankreich verlassen und verlor allen Besitz. Jeanne und Mimi gingen nach Berlin, mieteten ein Atelier im Hinterhaus Kurfürstendamm 29 – das ihnen gleichzeitig als Wohnung diente – und arbeiteten weiter. Jeanne blieb bis zu ihrem Tod, 58 Jahre später, in diesem Atelier im vierten Stock: zwei Zimmer, kleiner Balkon, Blick auf Hinterhöfe, keine Küche, kein warmes Wasser, die Toilette eine halbe Treppe höher. Was heute als ärmlich gilt, war 1919 perfekt für Mammen: Mitten in der Stadt hatte sie es nie weit zu ihren Studienobjekten, den jungen, feierwütigen Mädchen und Frauen und ihren zahlenden Begleitern. Zwischen 1922 und 1933/34 veröffentlichte sie Zeichnungen und Aquarelle in zahlreichen Zeitschriften, unter ihnen „Die Dame“, „Jugend“, „Simplicissimus“ und „Ulk“. Dem „Simplicissimus“ in München schickte sie jede Woche einen Stapel Zeichnungen und bekam pro gedruckter farbiger Zeichnung 300 Mark.

Wirtschaftlicher und künstlerischer Erfolg war ihr in diesen Jahren gewiss. 1929 schrieb Kurt Tucholsky in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ eine Huldigung an Jeanne Mammen: „Die zarten, duftigen Aquarelle, die Sie in Magazinen und Witzblättern veröffentlichen, überragen das undisziplinierte Geschmier der meisten Ihrer Zunftkollegen derart, dass man Ihnen eine kleine Liebeserklärung schuldig ist. Ihre Figuren fassen sich sauber an, sie sind anmutig und herb dabei, und sie springen mit Haut und Haaren aus dem Papier. In dem Delikatessenladen, den uns Ihre Brotherren wöchentlich oder monatlich aufsperren, sind sie so ziemlich die einzige Delikatesse.“

Nach der abrupten Wende im Lebenslauf, die der Erste Weltkrieg bedeutete, hätte es weiter aufwärts gehen können, doch der finanzielle Abstieg sollte sich wiederholen: Die Nazis kamen an die Macht, die Illustratorin verlor ihre Existenzgrundlage, zog sich in ihr Atelier und in die innere Emigration zurück, überlebte durch die Hilfe von Freunden und – unter anderem – durch den Verkauf von Büchern und Bildern, die sie auf den Straßen Berlins von einem Karren aus feil bot. Gemalt hat sie immer weiter, doch was sie malte, blieb verborgen – es war bewusst „entartet“ gemalt, wie sie sagte. 1946 dann konnte sie an den Physiker und Freund Max Delbrück nach Amerika schreiben: „Mein Ku-Damm 29 steht noch […]. Die Überreste von Jeanne sitzen in den Überresten von Berlin, haben viel, viel – endlos viel Grauenhaftes und Schreckliches überstanden.“

Ein Jahr später zeichnete sie die Lebenslauflinie – aufsteigend und in einem großen Kringel unbestimmt endend. Dass sie über die glückliche Linie der Kindheit hinausgegangen wäre, ist nicht anzunehmen. Denn Jeanne Mammen blieb in Berlin und in ihrem Wohn-Atelier, zeichnete und malte immer weiter, hatte immer mal wieder eine Ausstellung, wurde gelobt, nie vergessen, aber auch nie so sehr beachtet, dass es zu Ruhm gereicht hätte.

Annelie Lütgens, Leiterin der Grafischen Sammlung der Berlinischen Galerie und die erste, die eine ausführliche kunstwissenschaftliche Arbeit über Jeanne Mammen geschrieben hat (erschienen 1991), macht die Gründe dafür vor allem in der Kunstpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg aus. „Die Organisatoren der ersten beiden Documenta-Ausstellungen 1955 und 1959, Arnold Bode und Werner Haftmann, setzten die zeitgenössische abstrakte Kunst als Erbin der verfemten Vorkriegsmoderne ein und erklärten damit die Bundesrepublik dem Ausland, vor allem aber der DDR gegenüber, als die alleinige Hüterin der ‚entarteten‘ Kunst. […] Erbschaft der Verfemten hätte aber auch heißen können, sich jener Generation von Künstlerinnen und Künstlern zu erinnern, die in den Zwanziger Jahren mit ihren Arbeiten eine politische Verantwortung wahrgenommen haben und in deren Werk die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit als Bruchlinien sichtbar sind“, schreibt Lütgens.

Ein Werk wie das von Jeanne Mammen aufzuarbeiten und zu würdigen, gehört zu den vornehmsten Aufgaben kunsthistorischer Forschung. Diese hat nun begonnen, über die Faszination für die Zeichnungen der Zwanziger Jahre hinaus zu arbeiten. 1997 erschien das Werkverzeichnis; im Oktober 2014 fand erstmals ein wissenschaftliches Symposium statt. Es ging den „Französischen Elementen in Jeanne Mammens Kunst“ nach. 2015 wird es eine Ausstellung in Worpswede geben und 2017 die Retrospektive in der Berlinischen Galerie. Dann werden nicht nur die Zeichnungen der Zwanziger Jahre zu sehen sein, sondern Arbeiten aus dem gesamten Œuvre. Und das ist nicht nur „gut so“, sondern unbedingt nötig. Zwar war Jeanne Mammen eine hervorragende Zeichnerin und ihre originellsten Arbeiten sind ihre Zeichnungen aus den zwanziger Jahren. Doch sie suchte in ihrer Kunst immer nach einem adäquaten künstlerischen Ausdruck für die Zeit und das eigene Erleben. Dass dabei keine permanent variierten Markenzeichen, sondern die unterschiedlichsten Werke entstanden, macht sie so überaus interessant und entdeckungswürdig. Die Kunstgeschichte hat viele Bezeichnungen für Mammens Stilpluralismus: Zu Anfang symbolistisch, dann realistisch, auch kubistisch und expressionistisch, an Picasso orientiert, während der inneren Emigration bewusst „entartet“, später collagehaft, immer abstrakter und immer weißer. Das letzte Bild, ein aus vielen Farbschichten bestehendes weißes Gemälde mit einigen wenigen, rätselhaften, farbigen Zeichen, ist das einzige, das Mammen (ohne den ausdrücklichen Wunsch eines Käufers) signierte und datierte: 6. Oktober 1975. Da war das Lebenswerk abgeschlossen. Mammen malte nichts mehr und starb sechs Monate später. Sie wurde auf dem Friedhof in Berlin-Friedenau begraben, wo sich die Gräber zahlreicher Künstler finden.

Das Werk, das sie hinterließ, ist riesig, obwohl vieles verschwunden oder zerstört ist. Anderes kam erst nach ihrem Tod an die Öffentlichkeit. 2013 zum Beispiel tauchten in einer Auktion zwei unbekannte Blätter auf, die thematisch und in der Art der Ausführung zu Mammens Illustrationen der „Lieder der Bilitis“ („Les Chansons de Bilitis“) des französischen Dichters Pierre Louÿs gehören. Mammen zeichnete diese Hommage an die lesbische Liebe 1931/32 im Auftrag des Galeristen Fritz Gurlitt, der ihrem Werk 1930 in seiner Galerie die erste Einzelausstellung ausgerichtet hatte. Die geplante Prachtausgabe konnte nach dem Machtantritt der Nazis nicht mehr gedruckt werden.

Ob die Bilitis-Zeichnungen ein Beleg für Mammens Liebe zu Frauen sind oder allein adäquate Illustrationen eines Auftragswerks, wird gelegentlich diskutiert. Fest steht, in den Zeichnungen galt ihre Sympathie eher den Frauen. Ihre Freunde aber waren Künstler und Wissenschaftler, Männer wie Frauen. Zu diesen Freunden zählten neben dem Wissenschaftler Max Delbrück und seiner Frau die Künstler Hans Uhlmann und Hans Laabs und die Schriftsteller und Übersetzer Lothar Klünner und Johannes Hübner, um nur ein paar zu nennen. Einige von ihnen gründeten gleich nach ihrem Tod die „Jeanne-Mammen-Gesellschaft e.V.“. Heute hat eine zweite Generation von Bewunderern die Aufgabe übernommen, das Erbe zu bewahren, zu pflegen und weiterzugeben. Unter ihnen ist die Kunsthistorikerin Annelie Lütgens, die neben der Kunst besonders die „diskrete und unkorrumpierbare Art der Künstlerin“ schätzt. Unter ihnen ist auch Cornelia Pastelak-Price, deren Mutter schon zum Freundeskreis der Künstlerin und zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehörte. Vorstandsmitglied Pastelak-Price kümmert sich um das Atelier und um die Anfragen von Wissenschaftlern. Zur zweiten Freundes-Generation gehört auch Detlev Ganten, Professor für Pharmakologie und molekulare Medizin, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Charité-Universitätsmedizin und Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin. Der Mediziner erfuhr erst durch seine Beschäftigung mit Max Delbrück von der engen Freundschaft zwischen dem Nobelpreisträger und der Künstlerin. Er richtete 1999 den Jeanne-Mammen-Saal auf dem Wissenschaftscampus in Berlin-Buch ein. Nun tagt der Vorstand des Max-Delbrück-Centrums regelmäßig unter ihren Bildern. Seit kurzem zählt sich auch die Künstlerin Antje Majewski dazu. Während der Vorbereitung zu einer Ausstellung des Spätwerks von Jeanne Mammen – 2013 in der „Deutsche Bank Kunsthalle“ – lernte Majewski das Atelier kennen, begegnete, wie sie sagt, einer „Künstler-Vorfahrin“ und entdeckte Parallelen zwischen den Sammelobjekten im eigenen Atelier (Steinen, Muscheln, Knochen) und denen bei Mammen. Majewski erklärte sie zu „Zwillingen“ und malte sie. Der Verkauf der Bilder soll der Erhaltung des Ateliers zugutekommen.

Letztlich scheint sich zu erfüllen, was Jeanne Mammen ihrem Freund Max Delbrück anlässlich einer Ausstellung zu ihren Ehren schrieb: „Es ging alles glatt, Reden wurden gehalten, Blumen überreicht, à l’étonnement général Dein Telegramm verlesen, Blitzlichter flackerten, Flossen wurden gequetscht. […] Siehst Du, wenn Du 80 wirst, kriegst Du auch so was Feines – man muss nur Geduld haben.“