Zur Anatomie des Kunstraubs
Schon im Oktober 1941, nur vier Monate nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, baute die Wehrmacht im Katharinenpalast von Puschkin das legendäre Bernsteinzimmer ab. Zusammen mit anderen in den Palästen aus der Umgebung Leningrads erbeuteten Kunstwerken wurde es nach Königsberg geschickt. Bis 1944 sollte es Hunderte solcher Transporte geben, die in der Kulturlandschaft zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee, in der Ukraine, dem heutigen Belarus und in Nordwestrussland einen wahren Kahlschlag hinterließen. Die jüdische Kultur wurde vollständig vernichtet. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtkerne wurden dem Erdboden gleichgemacht, altrussische und barocke Kirchen niedergebrannt, Gemäldesammlungen und unersetzbare Ikonen verschleppt, ganze Museen eingeäschert. Raub und Vernichtung machten auch vor der Volkskunst, vor Friedhöfen und Klöstern nicht halt. Immerhin war es noch möglich, vor der deutschen Besetzung Evakuierungsmaßnahmen aus den Museen einzuleiten, wenngleich angesichts des schnellen Vormarsches der feindlichen Armeen nur ein Bruchteil der Exponate in Sicherheit gebracht werden konnte.
Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war ein Vernichtungskrieg – er zielte auch auf die Auslöschung der russischen Kultur. Überzeugt von der eigenen „rassischen“ Überlegenheit und der „Minderwertigkeit“ des Gegners fielen innere Hemmungen zu zerstören und zu rauben. Von Seiten des NS-Staates war ein ganzes Netzwerk von Institutionen am Kunst- und Kulturraub in der UdSSR beteiligt: Die Wehrmacht konzentrierte sich zunächst über unterschiedliche Dienststellen auf Bestände, die, wie Geographie und Militärwesen, für die Kriegsführung als wichtig erachtet wurden, sowie auf die „Sicherstellung“ von Kunstgütern, die im unmittelbaren Kampfgebiet oder in Frontnähe lagen. Das „Sonderkommando Künsberg“, dem Reichsaußenminister unterstellt, konfiszierte außenpolitisch relevante Akten, griff aber auch nach Kunstwerken, Schallplatten- und Plakatsammlungen sowie nach ganzen Bibliotheken, darunter die der Zarenschlösser von Puschkin und Pawlowsk. Den größten Teil des NS-Kulturraubs hat der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) zu verantworten. Sein Ziel war es, „alle Kulturgüter sicher[zu]stellen, die zur Erforschung der Tätigkeit der Gegner des Nationalsozialismus sowie für die nationalsozialistische Forschung im allgemeinen geeignet“ sein könnten. Das schloss praktisch jede Art von Kulturgut ein. Am Raub in großem Stil beteiligt war schließlich die Forschungseinrichtung der SS, das „Ahnenerbe“, das über vor- und frühgeschichtliche Funde die Ausbreitung der „nordischen Rasse“ insbesondere in der Ukraine beweisen wollte. Grundsätzlich sollten Objekte deutscher Herkunft zurückgeholt werden. Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete wie Kunsthistoriker und Archäologen, Archivare, Bibliothekare und Museumsleute waren „Vordenker“ und zugleich Mittäter des Raubes. Nicht wenige außeruniversitäre und universitäre Forschungseinrichtungen waren an seiner Vorbereitung beteiligt und profitierten von ihm. Das professionelle Engagement im Dienste eines mörderischen, von allen Regeln befreiten Krieges bedarf noch immer der kritischen Selbstbefragung der beteiligten Disziplinen.
Sowohl deutsche wie sowjetische Akten legen die Annahme nahe, dass private Plünderungen durch Soldaten und andere Personengruppen in einem bisher kaum bekannten Ausmaß stattgefunden haben. Vielfach berichten Angehörige von Einsatzstäben oder der Wehrmacht, dass Museen und Bibliotheken, in die sie zum Zweck der „Sicherstellung“ einrückten, bereits in einem verwüsteten, längst ausgeraubten Zustand waren. Obgleich formell verboten, fehlte offenbar ein Unrechtsbewusstsein für die Mitnahme von „Souvenirs“. Seriöse Schätzungen über den Umfang lassen sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht anstellen, doch sind die Dunkelziffern der Verluste derart hoch, dass von beträchtlichen Mengen ausgegangen werden muss.
Seit 1999 ediert das Moskauer Ministerium für Kultur einen Verlustkatalog, der nach einer aktuellen Zählung die Kriegsschäden nur für Russland auf „1.129.929 Einheiten“, darunter „Museumsstücke“ ebenso wie bibliophile und archivalische Raritäten, veranschlagt. Erschienen sind bislang 50 Dokumentationsbände. Noch während des Krieges begann die „Außerordentliche Kommission“ die eigenen Verluste zu erfassen. 1946 veröffentlichte sie erste Hochrechnungen. Heute liegen die Zahlen allein für das russische Territorium höher als frühere Daten für die gesamte UdSSR, obgleich die Ukraine die weitaus größten Schäden zu verzeichnen hatte. Kriterien der Zuordnung und Berechnungsmethoden variieren und erweisen sich als inkompatibel. Oftmals waren Inventarverzeichnisse zerstört oder fehlten Angaben zu den Vorkriegsbeständen. Was an einmaligen Werten der Zerstörung und Plünderung anheim fiel, vermögen summarische Listen ohnehin nicht in angemessener Weise wiederzugeben. Bis in die Gegenwart lässt sich die Frage nur unvollständig beantworten, was die Sowjetunion nach dem Krieg zurückerhalten hat. Während zu den Restitutionen durch die USA konkrete Angaben vorliegen – ca. eine halbe Million Objekte, in der Mehrzahl Bücher, aber auch bedeutende Ikonen –, bewegen sich die Rückführungen aus NS-Depots durch die Rote Armee auf ihrem Siegeszug nach Westen weitgehend im Dunkeln. Allein die Öffnung der russischen Militärarchive könnte darüber Aufschluss geben. Sie sind bislang für die Forschung gesperrt.
So unwiederbringlich Kunstwerke verloren sind, die zum unersetzbaren Kulturerbe Russlands gehören, so unerwartet stellen sich bis in die Gegenwart Funde ein, die Lücken schließen können. 1997 konnte in Bremen eines der vier Florentiner Mosaiken aus dem Bernsteinzimmer bei dem Versuch seines illegalen Verkaufs auf dem Schwarzmarkt beschlagnahmt werden. Seit dem Jahr 2000 ist es wieder im Katharinenpalast von Puschkin. 1998 kam aus dem Moskauer Kulturministerium der Hinweis, dass eine der bekanntesten Ikonen von Pskow aus der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert in deutschem Privatbesitz sei. Tatsächlich fand sie sich bei einer hoch betagten Dame in Berchtesgaden. Auch diese Ikone kehrte in die Kathedrale des Pskower Kreml zurück (zum Artikel „Die Heimkehr“). Immer wieder werden auf deutschen Dachböden oder an Wohnzimmerwänden Gegenstände entdeckt, die von den Vätern oder Großvätern aus dem Krieg „mitgebracht“ wurden. Sie zurückzugeben, böte die Chance, mit kleinen Gesten ein großes historisches Unrecht zu korrigieren.
Sowjetische Beschlagnahmungen in Deutschland
Unter dem Dach der „Außerordentlichen Kommission“ wurde 1943 in Moskau ein Expertenbüro aus hochkarätigen Wissenschaftlern unter Leitung des Malers, Kunsthistorikers und Deutschlandkenners Igor’ Grabar’ mit der Aufgabe betraut, Kunstwerke aus deutschen Museen zu benennen, die die schmerzlichsten Schäden in der UdSSR ausgleichen könnten. Im Visier waren Meisterwerke „in Form von ein paar Sixtinischen Madonnen“. Objekte, die die „deutsche Nationalkultur“ repräsentierten, sollten im Lande verbleiben. Bald jedoch wurde von der Idee Abstand genommen, zu einzelnen Werken, die man verloren hatte, kompensatorische Äquivalente zu finden. Stattdessen begann die Expertengruppe, sowohl die sowjetischen Kunstverluste als auch die Ausgleichsforderungen in Rubel- und Dollarwerten zu berechnen.
Die Realität im besiegten Deutschland 1945 sah ohnehin anders aus. Schon im Februar war in der Sowjetunion ein Sonderkomitee mit großen Vollmachten ins Leben gerufen worden, um den Abtransport von Wertgegenständen aller Art (auch Industrieanlagen) in die Wege zu leiten. Unter seiner Hoheit entstanden die Trophäenbrigaden, die nach Fachgebieten gegliedert und Armeeeinheiten zugeordnet waren. Hatte die Expertengruppe um Grabar’ noch wertvolle Einzelstücke im Auge, begann nun ein flächendeckendes Abräumen aus deutschen Museen, Bibliotheken, Archiven, Schlössern und privaten Landsitzen. Bei der Entdeckung von Depots und Auslagerungsstätten spielten Zufälligkeiten keine geringe Rolle. Aus dem Flakturm am Berliner Zoo wurden das Trojagold Heinrich Schliemanns sowie die Antiken- und Ostasiensammlungen, darunter der Pergamonaltar, in den Osten der Stadt verbracht, ehe die Amerikaner und Briten die Westteile übernahmen. Am 30. Juni 1945 flog das Gold nach Moskau – fast zeitgleich mit der Sixtinischen Madonna aus Dresden. Im Laufe der ersten Nachkriegsmonate nahm die Jagd nach Trophäen systematische Züge an. Archiven galt die besondere Aufmerksamkeit des Ministeriums für innere Angelegenheiten (NKWD). Unbestreitbar bleibt, dass die sowjetische Politik der Beutenahme eine Antwort auf die deutsche Politik des Raubes war. In der Summe wurde zwar viel aus Deutschland entwendet, das Land aber sollte in seiner kulturellen Existenz nicht ausgetilgt werden, wie es umgekehrt die NS-Kriegspolitik zum Ziel hatte.
Lange Zeit hatte die UdSSR gehofft, ihre westlichen Alliierten für den Gedanken äquivalenter Entschädigungen gewinnen zu können. Doch der beginnende Ost-West-Konflikt sowie die reale Praxis der Beschlagnahmungen in der Sowjetischen Besatzungszone ließen die Verhandlungen letztlich scheitern. Die Eigendynamik der Bereicherung überholte die Chancen der Diplomatie. In der Sowjetunion selbst wurde die eroberte Kunst bald mit einem Schleier der Geheimhaltung umgeben. Statt als Grundstock eines „Supermuseums“ in Moskau zu dienen, blieben die Meisterwerke aus Dresden, Leipzig, Weimar und Berlin in den Depots. Der Kalte Krieg ließ die Kunst gleichsam ein zweites Mal verschwinden.
Stalins Tod 1953 erwies sich als Zäsur in der Geschichte des Landes und ermöglichte nicht nur ein „Tauwetter“ im Innern, sondern auch neue Töne in seinen Außenbeziehungen. Um die Freundschaft „zwischen dem Sowjetvolk und dem deutschen Volk zu festigen“, erklärte sich die sowjetische Regierung im März 1955 bereit, der DDR 750 Gemälde aus den Dresdner Galerien zurückzugeben. Von „Trophäen“ oder „Beute“ war fortan nicht mehr die Rede, stattdessen von „geretteten“ und „vorübergehend“ in der Sowjetunion „aufbewahrten Schätzen“, die dem deutschen „Kulturerbe“ zuzurechnen seien. Die Ausstellung der Dresdner Werke im Puschkin-Museum vor ihrer Heimkehr wurde zu einem Publikumsrenner, die Sixtinische Madonna zu einer wahren Kultfigur. 1958 folgte ein zweiter, bis dahin in seinem Volumen nicht vorstellbarer Restitutionsakt. Obgleich sich – entgegen den Moskauer Erwartungen – schnell herausstellen sollte, dass die DDR über keine Kulturgüter aus der UdSSR mehr verfügte, die sie ihrerseits hätte zurückführen können, und obgleich prominente sowjetische Museumsleute gegen einseitige Rückgaben Protest erhoben, hielt die Führung im Kreml an ihrem Entschluss fest, den weitaus größten Teil der „geretteten“ Kulturgüter zu restituieren, knapp 1,6 Millionen Objekte von insgesamt 2,6 Millionen. Doch werden hier – wie bei allen vergleichbaren Listen – Güter höchst unterschiedlicher Wertigkeit addiert, Hunderttausende von Münzen mit unikalen Gemälden. Die beträchtlichen Restbestände allerdings wurden wie ein Staatsgeheimnis gehütet, in geschlossene Depots eingesperrt und in den Museen selbst vor eigenen Mitarbeitern abgeschottet. Manche Gegenstände, insbesondere bibliophile Buchausgaben, fanden den Weg auf den Schwarzmarkt oder in Antiquitätenläden. In der historischen Wertung markieren die Rückführungen der fünfziger Jahre eine Sternstunde der russisch-deutschen Kulturbeziehungen.
An sie sollte in dem Partnerschaftsvertrag vom November 1990 zwischen der Sowjetunion, ab 1992 Russland, und dem eben erst vereinigten Deutschland angeknüpft werden, als die Restitution auch der restlichen, in Folge des Krieges „unrechtmäßig verbrachten“ Kulturgüter vereinbart wurde. Selbstverständlich galt der Grundsatz für beide Seiten. Doch vermögen sich die neuen Partner seit nunmehr 24 Jahren in dieser einen Frage nicht zu einigen. Deutschland bekannte sich zwar moralisch zu seiner historischen Verantwortung für die sowjetischen Kulturverluste im Krieg, aber zog daraus keine materiellen Konsequenzen, um stattdessen – im deutschen Verständnis des Völkerrechts – allein die Rückgabe der noch in Russland liegenden deutschen Werte einzufordern. Russland hingegen vermochte nicht einzusehen, warum es als Opfer des Krieges dem einstigen Aggressor einseitig die verbliebenen Objekte überlassen sollte. 1997 erklärte die Duma – das russische Parlament – jene deutschen Werte, die offiziell von den Trophäenkommissionen beschlagnahmt worden waren, zu russischem Staatseigentum. Was sich die nachstalinistische UdSSR als Versöhnungsschritt zugetraut hatte, versagte sich das postsowjetische Russland. Umgekehrt igelte sich Deutschland in eine Rechtsposition ein, die die Frage von Gegenleistungen als historische Verpflichtung ausblendete und damit die eigenen Handlungsmöglichkeiten drastisch reduzierte. Vorsichtige Ansätze, aus dieser gegenseitigen Blockierung auszubrechen, blieben immer wieder hängen.
Private Rückgaben einzelner Bürger hingegen und Kooperationsangebote der Museen beider Länder, die Verluste zu beklagen haben, bauen an Brücken, die zusammenführen können. Die Politik aber hat noch viel zu lernen – und die Wissenschaft viel zu forschen, um neue Denkräume zu öffnen.